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Knospe und Kristall

17.03.2023

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Sagt man, am Anfang war das Wort, müßte man einschränkend präzisieren: die Aufforderung, der Befehl. Das bezeugt der Schöpfungsbericht der Genesis: Es werde Licht!

Etwas versichern oder behaupten und etwas abstreiten oder leugnen sind sprachliche Formen der Willensbekundung.

Zu berichten, daß man gestern Abend bei einer Gesellschaft zu Gast war, ist etwas anderes, als vor Gericht zu versichern, daß man an dem fraglichen Abend da und dort zu Gast (und nicht am Tatort) gewesen ist.

Die Aussage des vereidigten Zeugen, er könne sich nicht erinnern, ob der Tatverdächtige unter den Bankräubern gewesen sei, ist etwas anderes als die Leugnung des bestochenen oder erpreßten Zeugen, den Tatverdächtigen gesehen zu haben. – Die erste Aussage ist nicht inkriminabel, die zweite ein Meineid.

Mittels Umdeutung leugnen, was geschrieben steht – die dekonstruktive Hermeneutik eleganter akademischee Schwätzer.

Der zeitgeistig geschniegelte Herr Professor verkündet: „Es ist wohl wahr, Horaz apostrophiert im ersten Wort des ersten Gedichts des ersten Buches der Oden zum Zeichen, daß er ihm die Sammlung seiner Gedichte widmet, seinen Freund und Förderer Maecenas als altem königlichen Geschlecht (der Etrusker) entsprungen und die Ode gipfelt in der Aufforderung, ihn in den kleinen Kreis der großen lyrischen Dichter (neben Sappho, Alkaios und Pindar) einzureihen, als einen, der mit der Stirn das Sternengewölbe berührt, aber ihn wegen seines innigen Bezugs zum kaiserlichen Hof, seiner Zustimmung zur rückwärtsgewandten Politik des Augustus und seiner Schmähung des gemeinen Volkes (odi profanum volgus) als elitär oder gar reaktionär bezeichnen zu wollen, davor bewahre uns …“ Ja, was? Das über den glänzenden Professorenscheiteln bedenklich schwebende Damoklesschwert des politisch korrekten Hosenscheißertums.

„Der Täter hat die Geisel aus freien Stücken gehen lassen.“ – „Weil der Täter die Frau vorsätzlich über die Böschung gestoßen hat, ist die Tat als versuchter Totschlag einzustufen.“ – „Er schlug die Tür absichtlich vor ihrer Nase zu.“

„Weil die Bremsen versagten, passierte der Unfall gegen den Willen des Fahrers.“ – „Beim Reinigen des Gewehrs hat sich der tödliche Schuß versehentlich gelöst.“ – „Da er sich ernsthaft bedroht fühlte, hat er reflexhaft um sich geschlagen.“

Was wir Willen nennen, erfassen wir nicht durch Identifikation eines mentalen Gegenstands oder mittels neurologischer Untersuchung einer Hirnregion, sondern durch die sprachliche Analyse der Verwendung adverbieller Attribute von Prädikaten, mit denen wir Handlungen als freiwillig, vorsätzlich oder absichtsvoll charakterisieren; wir grenzen sie von Handlungen ab, die wir mittels adverbieller Attribute wie unfreiwillig, versehentlich oder reflexhaft charakterisieren.

Analoges gilt für die Charakterisierung sprachlicher Handlungen: Die Beleidigung der Amtsperson durch den in Gewahrsam genommenen Tatverdächtigen gilt für strafbar, die Verwünschungen desjenigen, der unter dem Tourette-Syndrom leidet, nicht.

Die sprachliche Willensbekundung, dem Freund die geliehene Summe in zwei Wochen wieder auszuhändigen, ist eine Sprachhandlung nach den Regeln dessen, was wir ein Versprechen nennen, wenn sie aus freien Stücken und mit dem Vorsatz erfolgt, das Zugesagte zu erfüllen, falls keine dem Willen des Sprechers entzogenen Hinderungsgründe auftreten; widrigenfalls drohen Sanktionen, die bis zum Bruch der Freundschaft führen können.

Eine Liste oder ein Verzeichnis materieller Gegenstände wie Möbel, Gemälde, Schmuckstücke und Bücher ist mehr als eine Übersicht über den Besitz- und Eigentumsstand einer Person, sie ist Teil der Bekundung dessen, was wir den letzten Willen nennen, wenn er als solcher deklariert und beurkundet wird.

Wir unterscheiden den Kern der Intention von der semantischen Hülle einer sprachlichen Willensbekundung.

Der Codex des Hammurabi, die Tafeln des mosaischen Gesetzes, die Edikte der römischen Kaiser und das Corpus iuris civilis des Justinian – die semantische Hülle changiert, der Kern der Intention bleibt: die Befehle und Anordnungen der Elite zur Weisung und Führung des Volkes mittels Stiftung sittlicher Institutionen.

Der versehentliche Patzer des Schülers wird korrigiert; die absichtliche Übertretung des Gesetzes aber sanktioniert.

Zeichen, wie die im Straßen-, Zug- und Flugverkehr benutzten, dienen dem, was man die Deklination des Willens nennen könnte.

Zeichen, die befehlen, dirigieren und anweisen, müssen von dem Betroffenen leicht, ohne großen Zeitverlust, ökonomisch gelesen und verstanden werden können. Die Ampel springt auf Gelb, das heißt „Achtung, abbremsen!“, dann auf Rot, das heißt „Stoppen!“

Der Interpret muß das direktive Zeichen in sein raumzeitliches oder grammatisches Koordinatensystem übertragen: Der Pfeil zeigt nach rechts, also biegt er rechts ab. Die Stimme hebt sich am Satzende; also soll er die Aussage als Frage verstehen.

Der Chemielehrer hält nach dem Experiment den beschlagenen Glaskolben in die Höhe und fordert den Schüler auf, hinzusehen und zu beschreiben, was er sieht. – Die visuelle Aufmerksamkeit und der Fokus des Blicks werden durch die Aufforderung gelenkt.

Die Werbung, sowohl in der Form gefälliger oder aufdringlicher Präsentation von Waren als auch im erotischen Sinne, ist eine Schule der Willenslenkung; wobei sich die Werbung gern und schamlos der visuellen und sprachlichen Mittel erotischer Verführung bedient.

Das werbliche Bild preist die Ware mittels ikonischer Stilisierung an, die werbliche Sprache mittels suggestiver Formeln unter Häufung von Komparativen und Superlativen.

Auch das Gedicht ist eine sprachliche Form der Willensbekundung. Der Kern seiner Intention ist nicht der bloßen Willkür des Dichters anheimgestellt, sondern eine Funktion der Gattung, die ihm die semantische Hülle in Form des rhythmisch-metrischen Stammes und des metaphorischen Laubwerks bereitstellt: Die Ode will rühmen, die Elegie klagen, die Satire spotten und das Sonett einen gedanklichen Knoten in das Seidentuch der Erinnerung (oder das Schnupftuch der Empfindsamkeit) binden.

Auch das Gedicht bedarf der Einbettung in das lebensweltliche Koordinatensystem des Lesers, um verstanden zu werden; nur entspringen die Koordinaten dieses Systems nicht dem Nullpunkt der realen Lebenssituation des Handelnden, sondern dem Nullpunkt der Imagination des Träumenden.

Auf dem Warnschild der Dichtung sieht man nicht wie auf dem realen eine Flamme oder einen Totenschädel, sondern eine feuerspeiende Chimäre oder das Schlangenhaupt der Medusa.

Die dichterische Sprache erotischer Werbung entfernt sich mehr und mehr vom Zweck der Verführung, bis sie sich bei Sappho, Horaz oder Goethe in die sprachliche Maske eines Lächelns oder Weinens, eines Triumphs oder einer Niederlage verwandelt, die aufziehen mag, wer will und wer kann.

Rhetorik ist ein Mittel, den Willen der Hörer durch geschickte Verwendung von Klängen und Rhythmen, Bildern und Metaphern, Argumenten und Scheinargumenten zu beugen.

Ausrufe wie „Hallo!“, „Schau mal!“ oder „Warte hier!“ sind Willensbeeinflussungsmittel.

Aufforderungen wollen den fremden Willen dirigieren und lenken, Fragen binden die Aufmerksamkeit des Gefragten und kanalisieren seinen Gedankenstrom.

Propaganda ist sowohl rhetorische Gemütererregungskunst als auch eine Form der Willensbemächtigung.

Dichtung haftet noch immer die magische Wirkung des Zauberspruchs (des Carmen) an.

Doch will das lyrische Gedicht nicht bloß das Gemüt rhetorisch erregen und magisch bannen, nicht nur zu erotischer Hingabe verführen, sondern in eine sprachliche Welt zweckfreien Spiels und mythischen Zaubers entführen.

Der amusische Barbar macht einen atonalen Höllenlärm, um Aufmerksamkeit zu erregen.

Sein Bruder im Geiste, der neurotische Enkel der Avantgarde, und seine Schwester, die hysterische Mänade des Lyrikforums, zertrümmern die Syntax und durchlöchern das Sinnbild oder tätowieren die dünne semantische Haut des Gedichts mit grellen, abstrusen, obszönen oder grotesken Monstrositäten.

Die Eitelkeit will sich Gehör verschaffen; daher das Bellen und Schluchzen, das Grunzen und Säuseln, das Gellen und Winseln von den Podien der Akademien.

Torheit, Verstiegenheit und moralischer Dünkel dekretieren als neue Ars poetica die Verachtung der Meister, die Leugnung schöpferischer Genialität und das Credo eines ins Leere rasenden Experimentierens.

Sie behaupten, was sie da zackernd und flackernd, kauzend und mauzend, sudelnd und hudelnd betreiben, sei experimentelle Kunst; doch auf das Ergebnis solcher Experimente wartet man seit Jahren vergebens.

Wer nicht willens und in der Lage ist, eine lyrische Aussage zu gestalten, ersetzt die gelungene Gestalt durch ein mittels vager Ideen und mystischer Tinkturen zusammengeleimtes sprachliches Portentum, von dem die Dümmsten immer noch wähnen, es stehe im hohen moralischen Dienst des épater le bourgeois.

Der eine will mit reißerischen Gebärden oder possenhaften Wortspielen blenden, der andere mit dem monotonen Trampeln gichtig-plumper Versfüße ein somnambules Wanken und Schwanken evozieren.

Der Bottich für die duftende Molke des Sinns bleibt leer, denn sie haben ihn unter den stinkenden Ziegenbock des Zeitgeistes gestellt.

Sappho und Horaz, Goethe und Mallarmé; Knospe und Kristall, irisierender Tropfen und beschwingte Luft, Sternbild und Muschelschaum – aus nichts beschworen, geformt, geballt als aus Worten.

Aus dem murmelnden Brackwasser des Geredes steigt die Fontäne des Gedichts, und ihr Schaum irisiert im Mittag des Pan, ihre wehende Gischt fahlt unter den einsamen Blicken Dianas.

Das lyrische Gedicht ist die Schale, in der sich das Wasser geklärter Empfindungen sammelt, und bisweilen wiegt es köstliche Blüten der Erinnerung.

Wir sehen wirre, verschlungene Linien und Schraffuren auf der Fläche des zugefrorenen Teichs; Spuren tänzerisch-anmutiger Figurinen des Eislaufartisten.

Der Dichter wandelt einem Schlafwandler gleich auf dem von der Manege aus nicht sichtbaren dünnen Hochseil der Sprache; plötzlich wirft er die Balancierstange der Grammatik von sich und wagt den Salto.

Die dabei abstürzen, werden nicht bedauert, sondern verlacht.

Zuerst kommt das Gefäß zur Aufbewahrung von Öl und Getreide; dann gewahren wir, wie seine Form sich veredelt, ihm die Taille und die schlanken Arme des Mädchens zuwachsen; schon beginnt seine Haut zu schimmern und seine Oberfläche mit farbigen Figuren von Mythen und Märchen zu erzählen; zuletzt steht die kunstvolle Vase vor den Augen der Gäste, überhöht von den duftenden Blumen reiner Poesie.

Das Gefäß des Gedichts schwebt in der Luft, und es erfüllt sie mit zauberischen Düften jener geheimnisvollen Essenzen, mit denen es angefüllt ist.

Die Frühe schon zeigt das Vollkommene und Vortreffliche; die Psalmen, das Hohelied, die Epen; Torheit, von Evolution zu faseln, Torheit, den Glanz der Urbilder mit dem Eigendünkel des Epigonen zu verdunkeln.

Der selbstvergessen singt, heiter durch den dämmernden Wald der Sprache streifend.

 

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