Liegengebliebene Trauben
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
In dem Laut, der demjenigen, der ihn äußerte, mit einem Ja oder Nein zurückgegeben wird, kommt das Wort zur Welt und das Spiel mit Worten.
Das Ja kann auch ein Ding sein, wie das Buch, das du demjenigen zurückgibst, der es dir geliehen hat und darum bittet.
Das Nein kann auch das Verstummen und das Schweigen sein, worin sich die Verweigerung oder die Zurückweisung ausdrückt.
Das zurückgegebene Ding ist nicht nur dieser physische Gegenstand, sondern ein Zeichen, ein Zeichen für die Erfüllung und Ablösung einer Verpflichtung – der Zusage oder des Versprechens, es auszuhändigen.
Worte und Dinge als Zeichen der Verflochtenheit menschlicher Bezüge in gegenseitigen Verpflichtungen, Bundeszeichen, die durch Erfüllung geehrt, durch Verrat entweiht werden.
Das Ja kann auch ein Lächeln sein.
Das Lächeln ist nicht nur der physiognomische Niederschlag eines neurochemischen Ereignisses, sondern ein Zeichen, ein Zeichen der Zustimmung, der Erleichterung oder Ergriffenheit.
Der gegebene oder mitgeteilte Laut ist nicht nur ein phonetischer Niederschlag eines neurochemischen Ereignisses, sondern ein Wort, wenn es vom Hörer angenommen oder zurückgewiesen wird.
Der Sprecher weist den Hörer auf etwas hin, was dieser bestätigen oder bestreiten kann.
Der Hörer kann kein natürliches Etwas wie den Schall und Klang annehmen oder bestreiten; das Gehörte annehmen oder bestreiten heißt den Sinn des Gesagten zu akzeptieren oder zurückzuweisen.
Der Sprecher kann auch wortlos in eine Richtung zeigen. Der Hörer ist dann derjenige, der den Sinn der Zeigegeste versteht, annimmt oder verwirft.
Mit dem Verstehen der Zeigegeste verstehen wir uns zugleich als Bewohner der sprachlich erschlossenen Welt.
Der Weg, in dessen Richtung der Sprecher weist, muß ein Weg sein, den der andere gehen oder zu gehen ablehnen kann.
Der Zeigende muß den Weg kennen oder schon gegangen sein, um das Vertrauen zu verdienen, das der andere in seine Geste zu setzen bereit ist.
Der Hörer, der das gegebene oder mitgeteilte Wort annimmt, bezeugt mit der Annahme das Vertrauen, das er in den Sprecher setzt.
Der Hörer, der die Mitteilung verwirft, bezeugt mit der Ablehnung entweder sein Wissen oder seine Vermutung von der Unrichtigkeit des Mitgeteilten oder sein Mißtrauen in den Sprecher.
Aufgrund der Tatsache, daß sich das Mitgeteilte zu wiederholten Malen als unrichtig oder unwahr erwies, erwächst beim Hörer ein Mißtrauen gegenüber dem Sprecher. Feindschaft kann in schwerwiegenden Fällen der Irreführung oder des Vertrauensbruchs die Folge sein.
Aufgrund der Tatsache, daß sich das Mitgeteilte zu wiederholten Malen als richtig oder wahr erwies, erwächst beim Hörer ein Vertrauen gegenüber dem Sprecher. Freundschaft kann in Fällen lebenswichtiger Orientierung die Folge sein.
Vertrauen und Mißtrauen, Freundschaft und Feindschaft, Treue und Verrat sind dem Wesen des Sprechens ursprünglich einverwoben. Wie töricht, allein aufgrund sprachlicher Verständigung sich eine allgemeine Menschheitsverbrüderung zu erwarten und auf riesigen Theorieprospekten auszumalen.
Je näher wir als Hörer dem Sprecher durch Blutsverwandtschaft, Stammes- und Volkszugehörigkeit sowie kulturelle Tradition stehen, umso höher taxieren wir die Wahrscheinlichkeit, daß er uns durch das Mitgeteilte nicht in die Irre führt, zum besten hält, belügt und betrügt. Allerdings ist, wie die oft auf familiären Verstrickungen beruhende griechische Tragödie zeigt, allemal Vorsicht geboten.
Der gute Wink und Hinweis leitet uns in eine Gegend, wo uns die Huld des Weilens vergönnt ist.
Der Freund kann den Freund auf einem Stück des Weges, nach dem dieser ihn gefragt hat, begleiten.
Der ausgetretene Pfad mag ins Offene oder die Wildnis münden. Was dann?
Sie könnten es wagen, im unbekannten Gelände eine neue Spur zu legen.
Der eine dreht um, sich im Bekannten zu bergen, der andere unternimmt das Wagnis, ins Unbekannte oder Ungesagte vorzudringen. So muß er sich von dem Freund verabschieden, um allein weiterzugehen.
Die notwendige Einsamkeit des Dichters und Propheten.
So ging Heidegger mit den alten Sprachmeistern den Weg des Denkens, bis er Abschied nahm, um in das Offene oder die Wildnis einer kaum gesagten oder ungesagten Welt weiterzugehen.
Heidegger sprach nicht mehr von Subjekt und Objekt, sondern von Dasein, Zeug und Vorhandensein, nicht mehr von Dasein und Welt, sondern von den Sterblichen und dem Geviert, nicht mehr von Aussage und Urteil, sondern von Sage und Andenken.
Wie jenem vertrauen, der vom Gang eines Weges spricht, den vor ihm noch keiner ging?
Wir haben nur die ungewohnten oder nie gehörten oder unerhörten Worte, in denen er von demjenigen berichtet, was er auf seinem Denkweg ins unbekannte Gelände gesehen hat.
Wir haben aber auch den Ton, das Timbre oder das Gewicht der Worte, die umso schwerer wiegen, je mehr der Sprecher sie mit einem eigentümlichen Pathos der Stimme äußert. Dieses Pathos nehmen wir für bare Münze und schenken dem Gesagten Vertrauen, wenn es von einem tief Erlittenen Zeugnis zu geben scheint.
Dagegen erzeugt das hochfahrende Fuchteln mit grellen und schreienden Neologismen, womit uns Leute im Ohr kitzeln, die von unerhörten Maskeraden auf zwielichtigen Bühnen faseln, in uns ein instinktives Mißtrauen, da wir es nicht als Zeugnis eines tief Erlittenen auffassen, sondern als eitel schimmernde Wortblasen in erfahrungsleeren Räumen.
Manche kehren wieder von abenteuerlichen Reisen und sitzen bleich und stumm in der Ecke.
Manche bringen Samen wunderlicher Blumen mit, aber sie wollen im heimischen Garten nicht keimen.
Manche packen stolz sonderbar schimmernde Steine aus dem Rucksack, doch als Schmuck getragen verursachen sie Ausschlag auf der Haut.
Manche kommen mit blutigen Striemen nach Hause, doch haben sie nicht groß zu sagen, wovon sie gelitten, sie waren nur im nahen Wäldchen in den Brombeerbüschen.
Wieder andere verbergen scheu die zerkratzten Hände, doch stehen selten schöne Rosen in der Vase, die sie uns aus fernen Gärten mitgebracht.
Hölderlin sah auf seinen Wegen ins unbekannte Gelände Ströme des Gesangs unter purpurnen Wettern in den blauen Abgrund der Stille münden. Das Pathos seiner versagenden Stimme ringt uns unbedingtes Vertrauen in sein Zeugnis ab.
Moses brachte zwei beschriebene Tafeln von seiner Reise ins unbekannte Gelände mit, eine hoch gelegene Zone, in der sich schwer atmen ließ, und das Pathos seiner zornigen Stimme schien sein Zeugnis zu bekräftigen, daß die von ihm mitgebrachten Sätze offenbart worden seien.
Platon und die von ihm inspirierten Maler und Dichter bezeugen die Erfahrung eines Wegs in unbetretene Landschaften unter einem übernatürlichen Licht durch die Schönheit ihrer Bilder und Verse.
Die Schönheit des Gesagten, die aus sich selber strahlt und ihr Licht nicht aus den sich eitel spiegelnden Augen der Bewunderung stiehlt, öffnet dem Hörer das Ohr des Vertrauens.
Manche bringen nur eine Handvoll Trauben nach Hause, doch ein unscheinbarer Glanz von Tau auf ihnen erweckt in uns das Vertrauen in die zeichenhafte Wahrheit, daß sie vom Tisch eines Gastmahls stammen, an dem Heroen und Götter teilnahmen.
Die tauglänzenden Trauben stehen für Worte eines Gesprächs, zu dem sie uns verlocken oder einladen.
Der Denkweg, den Heidegger ging, weist in eine Gegend der Sprache, unter deren stillen Lauben und heiteren Schatten, auf deren sanften Anhöhen mit ihren schönen Aussichten wir gerne weilen und lustwandeln möchten.
Das Zeugnis für Gehalt und Gewicht dichterischer Sprache ist ihr indirekt mitgeteiltes Versprechen, ihre zwischen den Zeilen ergangene Einladung, unter dem stillen Zug ihrer Wolken ein gemeinsames Bleiben und Wohnen zu finden.
Wie nicht jeder mit jedem reden kann, so im gesteigerten Sinne auch nicht wohnen. Die Katze darf ins Körbchen, der Wachhund bleibt draußen in der Hütte.
Wenn wir den Sittichen das Fenster öffnen, können sie vielleicht im Freien eine Weile leben, der verstoßene Hund muß verwildern oder ist dem Tode geweiht.
Wohin führt der Weg? Immer nach Hause, wie Novalis sagt. Doch Heimat ist nicht nur ein Ort des Wohnens mit der je eigentümlichen Topographie zugehöriger Menschen, Bauformen und Sitten, sondern auch ein Gefüge des Sprechens mit seiner je eigenen Grammatik, seinen Idiolekten, Stilformen und Ausdrucksgesten.
Das sich besinnende Denken sieht auf die von ihm gegangenen Wege und Spuren in der ins Licht der Betrachtung gehobenen Sprache. Diese Wege sind weder ein chaotisches Wirrwarr noch bilden sie ein starres Raster, sondern weisen auf eine Vielfalt sich wiederholender, variierender, fugenförmig ineinander geschachtelter Motive und Muster – Muster einer geheimen und gleichwohl offenbaren Ordnung, die uns in nuce in der Struktur des Organismus wie in der Wohlgeformtheit des sinnvollen Satzes oder des sinnreichen Gespräches vorschwebt.
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