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Nach Heidegger

18.08.2018

Kurzweilige Anmerkungen zu einer langweiligen Polemik

Wenn du den Wald der Sprache (die Landschaft der Sprache oder die Stadt der Sprache) durchstreifst und erkundest, kommst du – auch ohne es zu wissen – an die Stelle zurück, von der du ausgegangen bist.

Es gibt Wege, Schneisen, Holzwege, Rundwege – aber keinen Panoramaweg in diesem Wald.

Es gibt Hochsitze und Aussichtspunkte, von denen aus du dir einen Überblick über das Tal und die sich ausbreitende Gegend verschaffen kannst. Aber es gibt keinen alle anderen überragenden Hochsitz, es gibt keinen höchsten Aussichtspunkt, von denen aus du alle Täler und alle Gegenden überblicken könntest.

Wer sein Leben damit verbringt, einen solchen alle anderen überragenden Hochsitz, einen solchen Aussichtspunkt, von denen man alles überblickt, zu suchen, lebt nicht eigentlich und vergeudet seine Zeit.

Der Weg, den du gehst, bricht irgendwo ab. Das heißt nicht, dass du am Ziel angekommen wärest.

Die Stadt lässt sich geographisch verorten und topologisch vermessen. Auf dem Stadtplan können wir unseren Standort erfassen und demgemäß die Wege identifizieren und optimieren, die wir zu einem gesteckten Ziel zurücklegen wollen.

Die Stadt der Sprache können wir weder geographisch verorten noch topologisch vermessen. Das liegt unter anderem daran, dass die Leute in der Vorstadt nur scheinbar dieselbe Sprache sprechen wie die Leute im vornehmen Westend.

Die Stadt der Sprache besteht demnach aus einer Mannigfaltigkeit unterschiedlicher Sprachen, die sich ähnlich sehen, aber nicht ohne Rest ineinander übersetzt werden können.

Es ist damit ähnlich wie mit dem noch ungeschickten Bewohner eines fremdsprachigen Landes, der sich im Kopf das, was er in der fremden Sprache vernimmt, zunächst in seine Muttersprache übersetzt und sich seine Antworten gleichsam zunächst in der Muttersprache vorsagt, bevor er sie in dem neuen Idiom zum besten gibt. Hier besteht die Täuschung darin, als könne die Muttersprache wie eine universelle Metasprache fungieren, an der der Neuling die Korrektheit dessen überprüft, was er hört und äußert. Die Täuschung verschwindet, wenn dem Neusiedler die fremde Sprache in Fleisch und Blut übergegangen ist und er ohne Zuhilfenahme einer Zwischenstufe gleichsam ohne zu überlegen hörend versteht und verständnisvoll antwortet.

Es gibt kein Wesen und keinen Wesensbegriff der Sprache, und die einzelnen Sprachen sind keine Abwandlungen und Variationen einer gleichsam originären Ur- oder Muttersprache, wie verschiedene musikalische Variationen Abwandlungen desselben Ausgangsthemas sind, sodass wir die Ausgangssprache aus einer beliebigen Anzahl von Varianten ableiten oder rekonstruieren könnten.

Die auf dem Stadtplan verzeichneten Wegstrecken sind projektive Modelle oder Repräsentationen der wirklichen Wegstrecken der Stadt. Die Sätze der Sprache und ihre logisch regelhaften Verknüpfungen können Überzeugungen repräsentieren, aber Überzeugungen können wir nur aufgrund der Tatsache bilden, dass wir sie in Sätzen und ihren Verknüpfungen zum Ausdruck bringen.

Wir können uns, auch wenn wir uns mit einem Stadtplan bewaffnet haben, in einer fremden Stadt verirren. Aber die auf dem Stadtplan verzeichneten Wege führen nicht in die Irre. Wir sind es, die sich irren, wenn wir die falsche Abzweigung nehmen.

Dagegen gibt es in der Stadt der Sprache tatsächlich Wege, die unwillkürlich oder beinahe zwanghaft in die Irre oder ins Niemandsland führen, die in eine geistige Sackgasse münden. Auf diese Irrwege, die Wittgenstein philosophische Probleme nennt und auf den Missbrauch der Sprache glaubt zurückführen zu können, spielt Heidegger unter anderem mit dem Begriff „Holzwege“ an.

Heideggers Verdienst besteht darin, das Denken durch die Besinnung auf die systematisch unauflösliche Mannigfaltigkeit der Sprache aus dem Irrweg und der Sackgasse der kartesischen Konzepte des subjektiven Bewusstseins und der objektiven Welt und damit auch aus der schiefen Alternative von Idealismus und Realismus oder transzendentaler Phänomenologie und Naturalismus herausgeführt zu haben.

Der Naturalismus begegnet uns heute in Varianten der neurowissenschaftlich orientierten Erkenntnistheorie, die nach Heidegger ein Idealismus mit umgekehrtem Vorzeichen darstellt, wenn die Attribute der kartesischen Denksubstanz oder der res cogitans unmittelbar auf Gehirnprozesse übertragen werden,

Holzwege sind nicht nur Irrwege und Sackgassen, sondern auch Wege, die plötzlich in einer ungerodeten Wildnis abbrechen können. Vergleichen wir sie mit Spuren im Schnee, die an einer Stelle von Neuschnee überdeckt oder von Windböen verweht worden sind. Auch die sokratischen Denkwege pflegen jäh abzubrechen oder in einer Aporie zu münden. Dieser Abbruch und diese Aporie sind Zeichen des Versagens, der vergeblichen Anstrengung, den gesuchten Wesensbegriff adäquat in einer Formel, einer Regel, einer Definition auszudrücken. Was Heidegger mit Holzweg meint, unterläuft die sokratische Aporie: Wie das Verschwinden der Spur im Schnee sind sie Zeichen für eine grundsätzliche Vorläufigkeit oder Fragilität des sprachlichen Unterwegsseins, das sich nicht bündig in einer Formel, einer Regel, einer Definition erfassen lässt.

Wenn uns eine Wesensdefinition von Sprache versagt bleibt, dann auch eine Wesensdefinition dessen, der spricht: Die Sprache und ihre logischen Werkzeuge sind kein aristotelisches Organon des Menschen als eines animal rationale, sondern Weisen des Sehens oder der Welterschließung, ähnlich wie sich das Medium der Luft im Flügel des Vogels erschließt oder das Licht im Heliotropismus der Pflanzen.

Zu glauben, das Wesen und die Natur des Menschen zeige und verwirkliche sich in einer bestimmten Weise der wissenschaftlichen Weltauffassung oder des Rationalismus, oder zu glauben, das Wesen und die Natur des Menschen zeige und verwirkliche sich in einer bestimmten Weise sozialen oder moralischen Lebens, ist eine Täuschung, ähnlich derjenigen zu glauben, das eigentliche oder wahre Bild der Hasen-Enten-Kippfigur müsse eins von beiden sein, der Hase oder die Ente.

Eine subalterne Polemik, die sich aus Ignoranz und Häme oder wie zumeist aus beidem speist, glaubt Figuren wie Heidegger mit dem Schatten ihrer sogenannten lebensgeschichtlichen Fehltritte ein für allemal verdecken und unkenntlich machen zu können. Doch um ad hominem zu sprechen, zu wähnen, den Führer auf dem eigenen Denkweg in die Lichtung des Seins führen zu können, zeugt eher von politischer Naivität als von ruchloser Gesinnung.

Was Wittgenstein nüchtern und unaufgeregt klarmacht, die Trivialität, dass die Logik nichts sagt oder nur die Möglichkeit gültiger Aussagen dartut und die Wissenschaft ihre eigenen begrifflichen Voraussetzungen nicht einholt und philosophisch prüft, wird Heidegger als Kokettieren mit dem Irrationalismus angekreidet.

Der Zeitgeist greift allerdings zu gröberen Klatschen, um die lästige Wespe eines anderen Anfangs im Denken vom gemütlichen Kaffeekränzchen selbstgefälliger Fortschrittsgläubigkeit zu verscheuchen, indem die Unterstellung des Irrationalismus sich zum Vorwurf des Antisemitismus aufwirft, des immer schon vermuteten, ja schadenfroh begrüßten heimlichen Gifts im Stachel der Wespe.

Doch würde man den leicht zu erbringenden Nachweis, dass die großen christlichen Theologen, aus welchen Beweggründen auch immer, den ziemlich dunklen Grund der biblischen Offenbarung dem Licht der Sonne Platons oder des rationalen Ersten Bewegers des Aristoteles aussetzten oder unterwarfen, in demselben Sinne als antichristlich etikettieren, wie man den von Heidegger allzu nonchalant übernommenen Nachweis, dass ungezählte jüdische Intellektuelle, aus welchen Beweggründen auch immer, das europäische Programm der Rationalisierung in Wissenschaft, Technik und Gesellschaft, von der bibelkritischen Aufklärung über die soziale Emanzipation bis zum Bau der ersten Atombombe mitentwarfen und mitgestalteten, als antisemitisch denunziert?

Dass der Gott der Propheten nicht der Gott der Philosophen und speziell der Rationalisten wie eines Descartes und Spinoza ist, hat bereits Pascal ausgesprochen.

Immerhin könnte man etwas verstiegen sagen, dass sich Heidegger als Prophet eines kommenden Gottes sah, dessen Kommen jedenfalls jenseits der Grenzen der Moderne anhebt.

Nun, das wäre ja beides, antichristlich und antijüdisch, dem kommenden Gott die rationalen philosophischen Prädikate des Ewigen und Außerzeitlichen und die biblischen der creatio ex nihilo und der moralischen Heilswirkung an Volk und Menschheit zu entziehen und mit Nietzsche und Hölderlin in einer neuen nicht mehr philosophischen und dichterischen Sprache einer Lichtung des Seins vorzudenken, die zumindest den geistigen, wenn nicht gar massenhaften physischen Tod durch das „Gestell“ voraussetzt. Wobei „Gestell“ nichts weniger als die Reduktion der Sprache auf die Technik ihrer Produktion und Reproduktion meint, so als könne man beispielsweise die ästhetische Qualität oder den Geist einer Klaviersonate von Schubert auf die Perfektion ihrer Aufführung und Wiedergabe reduzieren.

Wir können sinnvoll darüber reden, wie wir in einem Teilbereich oder einer Lebenspraxis eine angemessene Sprache oder Methode der Darstellung anwenden, beispielsweise festlegen, dass wir nur geeignete stabile Längenmaße zur Vermessung starrer Körper verwenden, aber keine Maßstäbe aus Gummi oder Wachs oder dass wir zur metrischen Erfassung von Ereignislinien uns nur jener Instrumente oder Uhren bedienen, deren rhythmisch oder wellenförmig ausschlagende Unruhe annähernd regelmäßig ist, nicht dagegen unregelmäßige Fluktuationen von Plutonium- oder Uranatomen.

Doch diese Form der Metasprache können wir nicht auf beliebige andere Objektsprachen und Lebensformen übertragen, ohne uns zu wundern, dass die resultierenden Aussagen nichtssagend oder unsinnig sind. Es mag so viele Metasprachen geben wie natürliche Sprachen auf dem Erdball, aber ebensowenig wie es eine universelle natürliche Sprache geben kann (es sei denn dies wäre das empirische Ergebnis einer Welteroberung durch eine Weltmacht und ihre Sprache), gibt es eine universelle Metasprache.

Gäbe es eine universelle Sprache, könnten wir in ihr mindestens einen sinnvollen Satz ableiten, der mit ihren Mitteln nicht interpretierbar oder beweisbar ist. Zum Beispiel den Satz, dass aus der universellen Sprache alle Sätze ableitbar sein müssen. Denn dieser Satz ist in ihr nicht enthalten und folglich anhand ihrer Axiome und Theoreme nicht beweisbar. Was indes bewiese, dass sie ihrem Anspruch, universell zu sein, nicht gerecht wird.

Wir können sagen, dass Peter Paul ähnlich sieht, doch warum, können wir nicht sagen. Denn wir können die Ähnlichkeit nicht anhand eines Zwischenbilds oder metaikonischen Bilds vergleichen und begründen. Wir können sie nur sehen.

Wir können die Regeln des Schachspiels beschreiben und bestimmen, dass ein Zug mit einer Schachfigur den Regeln entspricht oder nicht. Doch wir können keine höheren oder Metaregeln ausfinden machen, aus denen wir die geltenden Regeln des Schachspiels ableiten könnten. Wir könnten andere Regeln erfinden, doch dann handelte es sich nicht mehr um das Spiel, das wir Schachspiel nennen.

Die Musiker lesen die Partitur als Anleitung zu bestimmten und präzisen Bewegungen ihrer Finger, Hände und Arme, mit denen sie auf ihren Musikinstrumenten die Notenzeichen in Klänge verwandeln. Aber sie können die Zeichen der Partitur nicht als Anleitungen für bestimmte Bewegungen ihrer Finger, Hände, Arme und Beine lesen, sodass sie auf dieser Basis eine Pantomime oder einen Gruppentanz aufführen könnten.

Es gibt keine Möglichkeit, den Satz einer Violinsonate von Mozart derart in Lautsprache zu übersetzen, dass noch so geschickte Virtuosen die Beschreibung als hinreichende Anleitung zur Wiedergabe des Satzes auf ihren Instrumenten verwenden könnten.

Daraus erhellt, dass es keine Metasprache für musikalische Partituren und musikalische Hörbilder gibt, die den Kriterien der Vollständigkeit, Präzision oder Werktreue gerecht würde.

Heidegger weist nach, dass Verstehen kein mentaler Vorgang ist, den wir durch Introspektion oder Einfühlung erfassen könnten, sondern eine Weise der Welterschließung. Ich verstehe mich auf den Umgang mit dem Hammer und dem Smartphone, wenn ich sie in angemessener und ergebnisorientierter Weise handhabe. Ich verstehe, dass du dich für deinen Fehltritt entschuldigst, indem ich deine Entschuldigung annehme. Ich verstehe, dass deine Unruhe aus dem aus Höflichkeit mir gegenüber nicht geäußerten Wunsch rührt, bald aufzubrechen, und habe bemerkt, dass du mehrfach auf die Uhr geschaut hast, und so komme ich deiner Verlegenheit entgegen, indem ich selbst eine dringende Erledigung vorschütze. Ich verstehe, dass dein Lob ironisch gemeint war, weil ich mich bei einem Fehler ertappte, als ich dir Heideggers Ansichten über das Verstehen darzulegen versuchte. Ich habe verstanden, dass ich in einem endlichen Ereignishorizont existiere, indem ich meine Entscheidungen und Handlungen nach Prioritätsgesichtspunkten gewichte.

 

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