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Nadelstiche und Muster

29.01.2023

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Wir können nur Objekten und Ereignissen Existenz zusprechen, die wir auch identifizieren können. Identifizieren können wir Objekte und Ereignisse nur anhand ihrer raumzeitlichen Lokalisierung. In diesem Lichte betrachtet, ist es nicht erstaunlich, daß wir zögern, Photonen und Quanten Existenz zuzusprechen; aber auch klar, daß wir nicht die Existenz Gottes, aber seine Nicht-Existenz beweisen können, wenn wir die Inkonsistenz der ihm traditionell zugeschriebenen Prädikate wie Unkörperlichkeit und Ubiquität vor Augen haben, denn ein Dunst mag sich gleichmäßig in der Küche verteilen, aber kann nicht unkörperlich sein.

Der Sonnentag der Eintagsfliege; der Weltentag eines Kopernikus, Kepler, Newton und Kant, der eine Stabilität der kosmischen Ordnung voraussetzt, die wir angesichts der Singularität von Schwarzen Löchern und der Fluktuationen der kosmischen Hintergrundstrahlung zu bezweifeln gute Gründe haben.

Die poetischen Ordnungsgefüge der klassischen Ode und Elegie bezeugen im Lichte der Jahrtausende, die sie in der okzidentalen Kultur durchwandert und überlebt haben und in immer neuer Gestalt wiederaufgetaucht sind, eine wunderliche Stabilität, die im Zusammenhang mit Tiefenschichten der grammatischen Strukturen der indogermanischen Sprachen zu stehen scheint.

Der Tod ist ein Schwarzes Loch, das Fetzen der Seele schon zu Lebzeiten in den Strudel der alles zermalmenden Vernichtung reißt.

Hätten die Griechen die Perser, die Römer das alexandrinische Reich, die Germanen den Ansturm der Osmanen nicht zurückgedrängt, wäre Europa längst schon verschleiert und im orientalischen Gewande einhergeschritten; im Lichte des demographischen Drucks und der ungezügelten Migration aus den Ländern des Orients scheint sich diese Metamorphose bald auf „friedliche Weise“ zu vollziehen.

Ein aussagekräftiger Indikator für den Niedergang ist das Vergessen; das Vergessen der Jugendträume für den individuellen Verfall, das Vergessen der klassischen Bildung für den kollektiven.

Ein anderer Indikator für den Niedergang der okzidentalen Hochkultur ist das Erkalten der religiösen Leidenschaft und das Absterben oder Verwässern der überkommenen Riten, aber auch die Flucht in Ersatzreligionen wie den Humanitarismus oder neue Formen und hohle Masken der Naturfrömmigkeit.

Die Überlegenheit des westlichen Imperiums beruhte zuletzt auf der Rationalität und Effizienz seiner technischen Erfindungen und der Anwendung mathematisch kalkulierter Verfahren der Produktion, Distribution und Verwaltung durch den analytischen Verstand weißer Männer; die Durchsetzung der Frauenquote auch in den naturwissenschaftlich-technischen Instituten und Laboren und der ideologische Kampf gegen die Suprematie der eigenen kulturellen Begabungen („white supremacy“) werden dem über kurz oder lang ein Ende bereiten.

Der Kampf wider das kulturelle Erbe wird mit den Verfehlungen der Erblasser begründet; indes, die Verwendung der wissenschaftlichen Erkenntnisse der Atomtheorie zur Herstellung und Zündung einer Bombe, deren zerstörerischer Kraft Hekatomben zum Opfer fielen, diskreditiert nicht die Leistungen der Erfinder der Theorie; der Mißbrauch schulischer Disziplin zur Befriedigung der sadistischen Neigungen einzelner Lehrer nicht ihren allgemeinen pädagogischen Wert.

Wir leben zusammen mit Pflanzen und Tieren gleichsam im Laboratorium der Sonne.

Je ausgehöhlter der religiöse Sinn, umso wuchernder, verwegener und dreister das Sektierertum.

Die Verkünder des Dritten Reichs bildeten eine Art atheistischer Sekte, nicht minder die fanatischen Prediger und Plastiker des Neuen Menschen, des Homo sovieticus; beide hinterließen eine kulturelle und seelische Wüste. Die zeitgenössischen Sektierer der westlichen Metropolen, die erfolgreich die Massenmedien, die Parlamente und internationalen Organisationen mit der Hefe ihres humanitären Geschwätzes durchsäuern, kommen auf Taubenfüßen daher, doch verbergen sich hinter ihrer süßlichen Maske des guten Menschen nicht weniger destruktive Impulse, die zutage treten, wenn sie die Identität des eigenen Volkes, der eigenen Kultur, der eigenen Sprache dem höheren Zweck ihrer politischen Moral opfern.

Der konservative Denker wird, auch wenn er sich als Agnostiker oder Atheist bekennt, die traditionelle Frömmigkeit und den Ritus der Alten Messe verteidigen.

Der beim Kult um die Opfer von Krieg und Verbrechen reichlich entzündete Weihrauch wölkt meist durch die Verliese und muffigen Korridore der inneren Leere.

Das staatlich organisierte und monopolisierte sogenannte Gedenken dient der politischen Überwachung und Diskreditierung jener, die sich ihm nicht fügen.

Die Traumatisierung kindlicher Seelen und die Einschüchterung jugendlicher durch die mediale und pädagogische Dauer-Konfrontation mit der Schuld der Ahnen.

Mit Hitler findet der Ignorant ein bequemes moralisches Ruhekissen, auf dem er sich theatralisch hin- und herwälzen kann.

Die Verführung durch Neuerer und Revolutionäre bedient sich eines Blankoschecks auf eine ungewisse Zukunft, der, wenn er denn wie üblich verfällt, schon längst in Judas- und Blutgeld eingetauscht worden ist.

„Bildung für alle“ – die Schwachköpfe krakeelen in den vorderen Reihen, während sich die Hochbegabten in den hinteren langweilen.

Muster sind gleichsam Apriori-Regulatorien für Handlungen; ein Farbmuster dient zum Abgleich und zur Auswahl farbiger Stoffe und Vorlagen. Sie sind auf den sensorischen Bereich beschränkt, für den die Handlung vorgenommen wird. Mit dem grafischen Muster eines Stuhls kann man Sitzgelegenheiten ausfindig machen, mit dem Muster eines rechtwinkligen Dreiecks rechtwinklige Dreiecke. Das Muster eines Stuhls ist kein idealer Stuhl, das Muster eines Dreiecks kein ideales Dreieck.

Ein grammatisches Muster ist gleichsam ein Apriori- Regulatorium zur Erzeugung von sinnvollen Sätzen. a (P) ist das Muster zur Erzeugung singulärer Prädikationen; hier können wir von einem idealen Muster sprechen.

Eine beliebige empirische Aussage wie „Die Erde ist ein Planet der Sonne“ kann als grammatisches Muster genommen werden, beispielsweise, indem wir das Subjekt durch eine Variable ersetzen. Dann können wir anhand dieses Musters Sätze ableiten wie „Die Venus ist ein Planet der Sonne.“

Dagegen finden wir Aussagen, die nicht als Muster verwendet werden können, wie die Aussage: „Ich heiße Peter“, denn wenn Hans sagt: „Ich heiße Hans“, sagt er etwas ganz anderes.

Dummheit verkündet, alles könne anhand von Mustern, Programmen, Lehrplänen gelernt werden; keiner werde zurückgelassen. Doch für wesentliche Fähigkeiten, wie die künstlerische, musikalische und dichterische Intuition, gibt es keinen Lehrplan und kein mustergültiges Verfahren ihrer Aneignung und Ausprägung.

Der Unbegabte kann noch so lange üben, ihm bleibt die sublime Interpretation des Schubert-Liedes versagt.

„Er hat den Dreh raus“ – damit meinen wir Fertigkeiten, wie nach Gehör Klavier zu spielen, eine Angelrute oder ein Fischernetz auszuwerfen, einen Ball ins Eck zu schlenzen. Wer Schuberts „Nacht und Träume“ nur schön singt, mag Applaus ernten, wer es aber bewegend, berührend, ergreifend vorträgt, bekommt jubelnden Beifall. – Für die Vortragsweise, die wir bewegend, berührend und ergreifend nennen, gibt es keine Mustervorlage, sondern nur Beispiele von Meistersängern.

Für eine musikalische Innovation vom Range des Tristan-Akkords gibt es keine Anleitung.

Philosophische Ignoranz wähnt, sprachliche Verständigung werde in einem vorurteilsfreien Raum vernünftiger Diskurse erlangt. Indes, zu glauben, jemand meine mit der Äußerung „Du bist wahrlich ein Genie“, was er sagt, wo es doch das gerade Gegenteil ist, zeugt nicht von intuitivem Verständnis.

Was der Gesprächspartner nicht nur mit verbalen Äußerungen, sondern mit Blicken, Mienen, Gesten, Tonlagen und Akzenten zum Ausdruck bringt, läßt sich kaum in Sprache fassen, geschweige denn rational rekonstruieren; und dennoch gehört es zur Essenz des Mitgeteilten.

So verhält es sich auch mit der Essenz von künstlerischen Werken, Musikstücken und Gedichten; die Essenz des Mitgeteilten liegt nicht unmittelbar in den Materialien und Kompositionen zutage, sondern entspricht dem, was im Dialog auf die Rechnung von Blicken, Mienen, Gesten, Tonlagen und Akzenten geht.

Der Nazarener schweigt vor Pilatus; in diesem Schweigen sagt er mehr, als in einer langatmigen Apologie zu sagen möglich wäre.

Die ungeheure Klangwoge der Brucknerschen Sinfonie steigt bis zu einer Höhe empor, wo sie von einem jenseitigen Licht beglänzt zu werden scheint; dies ist nicht zu beschreiben, kaum musikanalytisch nachweisbar, doch kann es in einem verschwiegenen Wissen erahnt, erfühlt werden.

Wenn wir lesen „2 = 2“, können wir die Formel der numerischen Identität nicht beschreiben, erklären oder ableiten; versuchten wir es, müßten wir sie wiederum voraussetzen. Nur Torheit fragt hier weiter nach Gründen. Denn das Gemeinte zeigt sich, oder, wie Wittgenstein sagt, die Logik muß für sich selber sorgen.

Der Grund, aus dem wir stammen, woraus Kunst und Dichtung schöpfen, bleibt verschwiegen, breitet sich aber hell vor uns aus wie die Fluren und Hänge der heimatlichen Landschaft unter einem blauen Sommerhimmel, strömt und tönt wie verborgene Quellen unter uns fort.

Das verschwiegene Wissen, aus dem die Intuition und das Verstehen schöpfen, gleicht dem wirren Fadengestrüpp auf der Rückseite des mit Ranken, Ornamenten und floralen Motiven prachtvoll gewebten Teppichs.

Das Verstehen liegt vor dem propositionalen Wissen in den organischen Hintergründen einer differenzierten Sensitivität.

Die Haut denkt.

Das ans Licht der Mitteilung dringende Verstehen bedient sich gewisser Zeichen, deren primitiver Ursprung Symbole darstellen, die jeweils von kulturellen Gemeinschaften sehr unterschiedlich hervorgebracht werden, wie das Labyrinth der Minoer, Türsturz und Burg der Mykener, die Tempelsäule der Athener, Ionier und Korinther, das Melos der Lesbier, die Grabhügel der Etrusker, die Bundeslade der Hebräer oder das Kreuz der Christen.

Die Gestalt kann mehrdeutig sein; die christliche Sekte der Ophiten sah in der Schlange nicht, was der Autor der Genesis in ihr erblickte.

Gewiß können das Symbol und die Gestalt als Mustervorlagen verwendet werden, bis der Kruzifixus und der Engel in der Massenproduktion für den Kitsch der Verkaufsstände an Klöstern und Heiligtümern degradiert werden.

Aber die Gestalt der ionischen Säule wurde nicht als Muster zur Reproduktion von neuartigen Gebäudetypen auf dem Reißbrett von Architekten und Ingenieuren planmäßig entworfen.

Der eine sieht die Ente, der andere den Hasen im Ente-Hasen-Rätselbild; derselbe sieht zuerst das eine, dann plötzlich das andere.

Wir sehen das Lächeln auf dem Gesicht, doch dann die Traurigkeit, Verzagtheit oder Verzweiflung, die es kaschiert. Wir sehen das Lächeln, doch dann seine ironische Tönung, sehen die Träne, doch dann den erstorbenen, abwesenden Blick.

 

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