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Philosophie und Dichtung II

04.08.2018

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Wir brauchen festen Grund, um stehen und gehen zu können.

Der erfahrene Waldgänger findet auch die Spur der überwachsenen Pfade.

Wenn wir im unbekannten Gelände im Dunkel vorwärtstasten, sind wir hellwach und deuten jedes Knacken eines Zweigs, jeden fernen Vogelruf als Zeichen, das uns Gefahr oder Orientierung anzeigt.

Ein kleines Rinnsal, einen schmalen Erdspalt überspringen wir mit einem Satz.

So wenn wir in einem fremdländischen Text ein Wort nicht verstehen. Es ist keine Lücke, in der wir steckenbleiben müssten.

Auf Glatteis rutschen wir aus, finden keinen Halt.

Was für ein komisches Bild, wenn Leute, zum ersten Mal auf Schlittschuhen, ineinanderprallen oder sich krampfhaft aneinander festhalten und gerade dadurch stürzen.

Den geübten Eistänzer, der zu schwungvoller Musik seine Pirouetten dreht, bewundern wir.

So, könnten wir sagen, drehen Gedichte von Verlaine, Mallarmé oder Rilke ihre Pirouetten, und wir bewundern diese Kunst, auch wenn wir sie nicht nachahmen können.

Wenn wir uns im Wald verirrt haben, irren wir nicht darin, uns im Wald verirrt zu haben.

Uns könnten wohl, wie Hofmannsthal im Brief an Lord Chandos schreibt, in einem Augenblick extremer Anspannung die Bedeutungen abstrakter Begriffe wie Seele, Geist und Körper gleich modrigen Pilzen im Mund zerfallen.

Das hinderte uns nicht daran, ziemlich bestimmt und unzweideutig von unseren Absichten und Erinnerungen oder den Blumensorten in unserem Garten zu sprechen.

Hätten wir keinen Begriff für die Seele, würden wir dadurch nicht seelenlos.

Noch immer würden wir sagen: „Sein Herz ist aus Stein“, „Sein Gemüt ist von schwarzen Wolken verdüstert“, „Ihr Sinn hat sich wieder aufgehellt, seit sie einen Hund hat.“

Wir kommen in den Wald unserer Kindheit zurück. Wo sind die alten Eichen? Wo die Buchen? Und hier, wo jetzt eine Schonung junger Birken eingehegt ist, stand da nicht ein Jagdhaus? Ist es noch derselbe Wald?

Die umstandslose Sprachskepsis, die aus Hofmannsthals Brief an Lord Chandos spricht, mag als ein erhellendes Zeichen einer Depression gelesen werden, kann aber nicht den Rang einer epistemologischen Erschütterung beanspruchen.

Sich von den faden, klischeedurchsetzten Gesprächen seiner Mitwelt zurückzuziehen, kann als Symptom der Verstörung und Verletzung eines empfindsamen Gemüts verstanden werden, sollte aber nicht unbefragt als Ausdruck überlegener Weisheit durchgehen.

Indes weist uns Hofmannsthal in den Epiphanien des Alltäglichen, „eine auf dem Feld verlassene Egge, ein Hund in der Sonne, ein ärmlicher Kirchhof, ein Krüppel, ein kleines Bauernhaus“, auf ein Reich stummer Dinge, deren Gegenwart wie auf den Bildern van Goghs oder den Stilleben Cézannes vom Eindruck einer gewissen Sättigung begleitet wird, von der alles unruhige Fragen und rhetorische Überhöhen abgleiten.

Kants Taube wähnt, sie könne ohne den Widerstand der Luft noch höher fliegen, ins Grenzenlose.

Gewiss, nach den Gesetzen der Physik fällt sie ohne das ihr eigentümliche Medium, die Luft, wie ein Stein zu Boden.

Der Eistänzer wird nicht glauben, ohne den Kontakt mit dem schlüpfrigen Grund seine Pirouetten frei schwebend in der Luft fortführen zu können.

Kant spielt mit dem Bild von dem Vogel, der ohne den Widerstand und die Reibung der Luft abzustürzen verdammt ist, auf den Seelenmythos Platons an, nach dem die von allen Erdenresten befreite Seele ihren Flug in die himmlische Heimat antreten könne.

Wenn es unser biologisches Schicksal ist, nicht ohne das Medium der Erfahrung zu Einsichten und Urteilen zu kommen, dann ist der rauhe Boden, auf dem wir allererst stehen und gehen (und auf dem wir ebenso ausgleiten und fallen) können, die Sprache.

Nach Kant müssen wir, um uns das Ganze des Lebens oder das ganze Leben überblicken zu können, an Gott glauben, denn die hohe Vogelperspektive der reinen Vernunft reicht dort nicht hin. Von diesem Glauben aus fügen sich die Splitter und Fragmente, die Wege und Irrwege unseres Lebens zu einem Sinn.

Die Linien des Lebens sind wie die weithin sichtbaren verschlungenen Pfade an steilen Höhen, wir wissen aus der Ferne nicht, wohin sie führen, da und dort sehen wir schattenhaft einen Wanderer, von dem kaum auszumachen ist, ob er hinaufsteigt oder hinab.

Die Linien des Lebens sind, wie es Hofmannsthal widerfuhr, aus allzu großer Nähe betrachtet, wie die Falten und Runzeln der Hand, verworren, sie bündeln sich, laufen auseinander, treffen und überkreuzen sich da und dort, ohne als Bild gesehen, als Chiffre gelesen werden zu können.

 

Die Linien des Lebens sind verschieden
Wie Wege sind, und wie der Berge Grenzen.
Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen
Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden.

 

Dieses Gedicht notierte Friedrich Hölderlin nach Aussage seines Pflegers Ernst Zimmer, dem es der Dichter auch gewidmet hat, im Jahre 1812, nachdem er zu seinem Ungemach von diesem zu hören bekam, er könne nicht der philosophischen Ruhe leben, sondern müsse als Tischler, der er nun einmal war, mit der Verfertigung von Gebrauchsgegenständen für das tägliche Brot sorgen. Hölderlin hatte ihm gegenüber nämlich den kindlichen Wunsch geäußert, ihm das Miniaturmodell eines griechischen Tempels aus Holz zu zimmern.

Merkwürdig an diesen Zeilen ist, dass klassisches Ideal („Harmonien“) und christliches Glaubensgut („ewiger Lohn“, „Frieden“) in einem Atemzug genannt werden.

Von welchem Gott also spricht das Gedicht? Wir wissen es nicht. Jedenfalls ist er die Instanz über aller Vernunft, der die zerrissenen und zerklüfteten Wege und Lebenslinien („verschieden“) ergänzen kann.

Daraus spricht keine Heilsgewissheit, sondern Hoffnung („kann“).

Dass die Erfüllung ein Lohn für gute Werke und Taten sei („ewiger Lohn“), wird mit keiner Silbe angedeutet. Sie ist reine Gnade.

Merkwürdig ist auch die Aussage, dass Gott „dort“ ergänzen kann, was wir „hier“ SIND. Die Ergänzung betrifft demnach keinen Wunsch und keine Intention, sondern einen grundlegenden Mangel in unserer Art zu existieren.

Was fehlt uns? Nun, das müssen wir aus der Negation der genannten Inhalte jener Ergänzung und Erfüllung erschließen: Der Mensch, so können wir sagen, lebt in Unruhe und Unfrieden mit sich selbst. Denn die Störung der Kommunikation untereinander, dürfen wir mutmaßen, ist eine Folge innerer Verstörung.

Wittgenstein verwendet für das anthropologische Manko das Bild von der Fliege, die den Ausgang aus dem Fliegenglas nicht findet, sondern immer wieder gegen die Glaswand prallt.

Wir sehen das Nächste und Naheliegende nicht, oder wir haben, wie Hofmannstahl es im Brief an Lord Chandos ausdrückt, keine Sprache für die stummen Dinge.

In den Evangelien tritt vielfach die Verstörung oder der anthropologische Makel als Bild des Aussatzes oder jüdisch gesprochen der Unreinheit zutage. Die Heilung geschieht aufgrund des Glaubens an ihre Möglichkeit durch die Nähe des Heilands.

Hölderlin spielt mit dem Begriff der Harmonien auch auf das antike, bis zu Kopernikus und Kant nachwirkende Bild der Sphärenharmonie an. Wir können ja sehen, wie bei klarer Nacht die Grenzen der Berge sich am Licht der Sterngebilde gleichsam auflösen.

Den Frieden Gottes, der nach Paulus über alle Vernunft geht, hat Hölderlin mit der prophetischen Stimme der Hymnen in die Täler und Niederungen der Menschen herabzusingen gesucht.

In den späten Gedichten erscheint ihm der Frieden wie ungerufen im Nächsten und Naheliegenden, in der Aussicht aus dem Fenster des Turms über den Neckar hin, wenn die Berge und Pfade, die Bäume und Tiere heimatlich sind, in einer Heimat freilich, die von den Schauern der heiligen Urzeit angeweht wird.

Harmonie und Frieden empfindet nur die Seele, aber nicht jene, die sich im freien, widerstandslosen Flug über die Erde erhebt. Es ist, wie Stefan George sagt, die Seele, die singt.

Der Durst der Seele wird nicht durch den Wein des Rebensafts, sondern den Wein des Dionysos, die Musik, gestillt.

Der Unfriede ist die Zerrissenheit der Seele, die nicht auf der Couch kuriert wird, sondern durch ein Lächeln, eine zärtliche Geste, durch eine Weise dichterischen Wohnens auf dieser Erde.

Gewiss, die Seele der Menschen ist nicht unsterblich, denn sie bedarf der leiblichen Augen, um zu sehen, des lebendigen Gesichts, um zu lächeln, der durchpulsten Hand, um zu winken.

Der Nachweis, dass die Seele nicht unsterblich ist, stellt keinen Beweis für ihre Nichtexistenz dar.

Ein Gedicht verstehen ähnelt dem Verstehen einer Geste, eines Lächelns, eines Blicks.

Schaut er grimmig, verlegen, verführerisch, einladend, abweisend, spöttisch?

Wir sagen, jemand habe ein reifes Urteilsvermögen oder beweise eine an der Erfahrung gewachsene intuitive Urteilskraft, wenn er aus dem Zögern einer Handbewegung und eines Schritts, aus der flüchtigen Röte der Wangen, aus dem plötzlichen Hellerwerden der Augen, aus der Wahl eines seltsamen Worts im Gespräch auf die seelische Verfassung seines Gegenübers schließen kann.

Diese intuitive Urteilskraft ist nicht jedem gegeben, sie ist ungleich verteilt. Sie kann nicht auf eine abgeschlossene Reihe von Regeln, keine strenge Disziplin einer Methode gegründet werden.

Daher kann es keine Wissenschaft des Verstehens von Gedichten geben.

 

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