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Philosophie und Grammatik VII

07.05.2019

Man hat es oder man hat es nicht.

„Er hat viel Geld.“
„Sie hat blonde Haare.“
„Inseln haben keine natürliche Verbindung zum Festland.“
„Die Komplementärwinkel eines rechtwinkligen Dreiecks haben eine Winkelsumme von 90 Grad.“
„Junggesellen haben keine Gattin.“
„Peter hat Hans zum Freund.“
„Eben lief eine kleine Spinne über meine Hand.“
„Hans hat Kopfweh.“
„Ich habe Kopfweh.“

Wir verwenden das Verb „haben“ in vielfacher Bedeutung; bisweilen führt der gleiche grammatische Bau von Sätzen, in denen „haben“ mit unterschiedlicher Bedeutung verwendet wird, zu gedanklicher Verwirrung und philosophischen Aporien.

„Er hat viel Geld.“„Sie hat blonde Haare.“ – Man kann davon reden, daß einer viel oder wenig Geld hat, und meint damit, er sei reich oder arm. Doch die Blondine besitzt keine blonden Haare in dem Sinne, wie der Reiche viel Geld oder Aktien besitzt. Das naturblonde Haar ist ein Teil oder eine wesentliche Eigenschaft der Blondine, das viele Geld ist keine wesentliche Eigenschaft des Menschen, der es besitzt. Wenn die Blondine sich das Haar schwarz färben läßt und sich in eine Schwarzhaarige verwandelt, geschieht dies aufgrund einer physikalischen Veränderung, wenn der reiche Aktienbesitzer arm wird, geht dies auf einen nichtphysikalischen Wechsel der Eigentumstitel von Aktien oder Wertpapieren zurück. Bei ihr sind es Moleküle, bei ihm sind es Zahlen.

Sätze wie „Sie hat blonde Haare“ und „Er hat viel Geld“ sind deskriptive Aussagen, die wir verwenden, um jemanden auf das Aussehen oder den Vermögensstatus einer Person hinzuweisen. Wir müssen mit der Verwendung ihrer deskriptiven Terme wie „blond“, „Haare“ und „Geld“ schon bekannt sein, um sie in der geeigneten Situation korrekt verwenden zu können.

Wir können auf einen Mann zeigen und sagen, er habe viel Geld, ohne daß ihm die Scheine aus der Geldbörse quellen; der Mann trägt einen schicken Markenanzug, eine wertvolle Uhr und steigt in eine Limousine ein, deren Tür ihm ein uniformierter Fahrer öffnet. Aus seinem Auftreten schließen wir auf seinen sozialen Status. In diesem Fall ist der Satz „Er hat viel Geld“ nicht deskriptiv, sondern metaphorisch gebraucht, so wie wir von ihm sagen könnten, er sei ein feiner Pinkel, ein Snob, ein Magnat oder ein Tycoon.

Wenn tätowierte Eckensteher oder dunkle Tunichtgute einer Frau nachpfeifen und blöde Witze reißen, sagst du: „Sie hat blonde Haare!“ Doch damit willst du mir nicht die Haarfarbe einer Frau beschreiben, sondern den Grund nennen, warum der Mob ihr nachpfeift und sich das Maul zerreißt. Dein Hinweis ist metaphorisch, als würdest du sagen, naturblonde Frauen gelten in den Augen dieser trüben Gäste eo ipso für Schlampen.

„Inseln haben keine natürliche Verbindung zum Festland.“ – Diesen Satz können wir in den sinngleichen Satz umformen: „Inseln sind ganz von Wasser umgeben.“ Der Satz ist wider den Anschein kein deskriptiver Satz, sondern eine Definition dessen, was wir unter einer Insel verstehen. Sie könnte auch lauten: „Jedes Land, das ganz von Wasser umgeben ist, nennen wir eine Insel.“

Vergleichen wir den Satz „Inseln haben keine natürliche Verbindung zum Festland“ und seine korrekte definitionsgemäße Umformung „Jedes Land, das ganz von Wasser umgeben ist, nennen wir eine Insel“ mit dem folgenden Satz: „Nervenbahnen haben keine natürliche Verbindung zu dem Erlebnis, das sie hervorrufen.“ – Etwas ist merkwürdig an diesem Satz; es ist klar, daß Nerven die Verbindungen zueinander haben, die sie haben, und wären sie unterbrochen, käme es zu gesundheitlichen Problemen und fatalen Einschränkungen des Betroffenen, bei dem Nervenstränge etwa aufgrund eines Unfalls durchtrennt worden wären. – Der Satz ist ungeachtet des grammatischen Scheins nicht deskriptiv und spricht nicht über eine empirische Tatsache. Dennoch ist er offenkundig auch kein logischer Satz und keine Definition.

Der Satz drückt eine semantische Schwierigkeit aus und sagt etwa: Die Nervenimpulse laufen ungehindert durch die Nervenbahnen; dann gewahren wir eine Stelle, beispielsweise in einem Hirnzentrum, von der wir annehmen, daß dort jene Ereignisse stattfinden, die wir als die Empfindung einer Farbe und eines Geschmacks oder als das Gefühl von Traurigkeit erleben. Der Übergang vom Nervenimpuls zum Erlebnis, so drückt es der Satz aus, scheint nicht natürlich zu sein – doch dies ist nur eine pseudo-empirische Ausdrucksweise für die semantisch-logische Tatsache, daß wir die Sprache, in der wir von Nervenimpulsen sprechen, nicht ohne weiteres in die Sprache übersetzen können, in der wir von Erlebnissen sprechen. Es gibt keine Verbindung oder Brücke, will der Satz sagen, zwischen der Ausdrucksweise, in der wir von neuronalen Ereignissen, und der Ausdrucksweise, in der wir von Erlebnissen sprechen.

Oberflächlich betrachtet sagt uns der Satz „Inseln haben keine Verbindung zum Festland“: Sorgfältige geographische und geologische Forschung hat ergeben, daß alle bis dato untersuchten Inseln eine natürliche Verbindung zum Festland vermissen lassen. Man könnte ergänzen: Doch warten wir ab, man kann ja nicht wissen, morgen vielleicht schon entdecken sie eine Insel, die eine natürliche Verbindung zum Festland hat.

Aber dies ist natürlich Unsinn; denn der Satz meint ja gerade: Inseln können definitionsgemäß keine natürliche Verbindung zum Festland haben. Hier gilt es, den logisch-semantischen Sinn von „können“ zu klären. Denn freilich, obwohl der Satz, Inseln könnten keine Verbindung zum Festland haben, wie eine empirische Aussage über eine faktische Wahrheit ausschaut, bezeichnet das mit ihm gemeinte „Nichtkönnen“ keine physische Beschränkung, sondern eine logische Unmöglichkeit.

Es ist ja empirisch nicht unmöglich, daß einer unweit vom Festland gelegenen Insel aufgrund geologischer Veränderungen und Prozesse der Versandung und Verlandung eine Verbindung zum Festland gleichsam zuwächst. Aber dann ist dieses Stück Erde keine Insel mehr, sondern gehört zu dem Festland, mit dem es nunmehr verwachsen ist.

„Die Komplementärwinkel eines rechtwinkligen Dreiecks haben eine Winkelsumme von 90 Grad.“ – Dieser Satz ist wider allen Anschein kein deskriptiver Satz, dessen wahrer Gehalt aufgrund langjähriger empirischen Untersuchung von rechtwinkligen Dreiecken festgestellt worden ist; er ist vielmehr die Folge eines einfachen logischen Arguments: Wenn ein Winkel eines Dreiecks ein rechter ist, muß die Summe der beiden anderen Winkel ebenfalls 90 Grad ergeben, denn die Summe der Winkel eines jeden Dreiecks beträgt 180 Grad.

„Junggesellen haben keine Gattin.“ – Wenn Peter ein Junggeselle ist, hat er keine Gattin. Wenn er ein Junggeselle ist, kann er keine Frau haben. Hier ist der logische Sinn in der Verwendung von „können“ mit Händen zu greifen; denn daß der Junggeselle Peter keine Frau haben kann, weist nicht, auch wenn es so klingen mag, auf eine empirische Schranke (als habe er ein physisches oder seelisches Leiden, das ihm eine Heirat versagt), sondern auf eine logische Notwendigkeit: Ein Mann, der als Junggeselle lebt, ist per definitionem (und nicht aufgrund einer empirischen Tatsache) unverheiratet.

Wir finden die logische Notwendigkeit auch in jedem wohlgeformten logischen Argument: Wenn Lehrer Schüler unterrichten und Peter Lehrer ist, dann unterrichtet Peter Schüler. Peter könnte, mit anderen Worten, nicht Lehrer sein, ohne Schüler zu unterrichten. Wenn alle Punkte auf der Kreislinie den Abstand s zum Kreismittelpunkt haben und P ein Punkt auf der Kreislinie ist, dann hat P den Abstand s zum Mittelpunkt.

Peter ist hervorragend im Rechnen und kann uns auf Anhieb sagen, ob eine zufällig genannte natürliche Zahl zwischen 2 und 1000 eine Primzahl ist. Doch leider ist Peter nicht so exzellent im Rechnen, daß er uns die größte Primzahl nennen kann. Peters Fähigkeit im Rechnen ist eine empirische oder psychologische Tatsache; doch seine Unfähigkeit, die größte Primzahl anzugeben, beruht nicht auf seinem natürlichen oder geistigen Unvermögen, sondern auf einer logischen Unmöglichkeit, denn wie seit der Antike bekannt, läßt sich zu jeder gegebenen Primzahl eine größere angeben und berechnen, sodaß der Ausdruck „die größte Primzahl“ kein deskriptiver Ausdruck ist und überhaupt keine Zahl benennt.

„Peter hat Hans zum Freund.“ – Dieser deskriptive Satz kann in den gleichsinnigen Satz umgeformt werden: „Peter ist mit Hans befreundet.“ Die Umformung zeigt, daß in dem Ausgangssatz „Peter hat Hans zum Freund“ wider den grammatischen Anschein nicht der Person Peter eine Eigenschaft zugesprochen wird, sondern den beiden Personen Peter und Hans zusammen eine Eigenschaft, nämlich die Eigenschaft, miteinander befreundet zu sein. Wir mißverstehen den Satz, wenn wir ihn so verstehen wie den Satz: „Peter und Hans besitzen zusammen einen Garten“, als würden sich Peter und Hans einen ominösen Gegenstand namens Freundschaft teilen. Vielmehr sagt der Satz, daß die beiden Freunde sind, und das heißt schlicht, daß sie sich so zueinander verhalten, wie es Freunde nun einmal zu tun pflegen.

„Eben lief eine kleine Spinne über meine Hand.“ – Wenn das ein einfacher deskriptiver Satz ist, könnte der Gedanke, den er ausdrückt, nicht soeben auch ein anderer, du vielleicht, unabhängig von diesem seinem sprachlichen Ausdruck, gedacht haben? Dies ist aus zwei Gründen nicht möglich: Wir können keinen Gedanken denken ohne den Satz, der ihn zum Ausdruck bringt. Und hättest du diesen Gedanken gedacht, müßte sein sprachlicher Ausdruck lauten: „Soeben lief eine kleine Spinne über SEINE Hand.“ Doch damit geraten wir in eine semantisch-logische Aporie: Denn der Satz „Soeben lief eine kleine Spinne über SEINE Hand“ drückt einen anderen Gedanken aus als der Satz: „Soeben lief eine kleine Spinne über MEINE Hand.“

Unsere Unfähigkeit, den Gedanken, den ein deskriptiver Satz ausdrückt, ohne diesen Satz zu denken, ist genausowenig eine psychologische Unfähigkeit, wie das Scheitern der Wiedergabe meines Gedankens „Soeben lief eine kleine Spinne über meine Hand“ durch deinen Satz „Soeben lief eine kleine Spinne über seine Hand“ auf ein sprachliches Unvermögen zurückgeht.

„Hans hat Kopfweh.“ – „Ich habe Kopfweh.“ – Es ist klar, daß beide Sätze trotz ähnlichen syntaktischen Baus nicht vergleichbar sind, weil sie ganz Unterschiedliches bedeuten. Der Satz „Hans hat Kopfweh“ ist deskriptiv; das erkennen wir anhand eines typischen Anwendungskontextes, wenn beispielsweise Peter sich mit Karl und Hans verabredet hat, Karl aber nicht wie vereinbart gemeinsam mit Hans zum Treffpunkt gekommen ist und auf Peters Frage, weshalb Hans nicht mitgekommen sei, sagt: „Hans hat Kopfweh.“ Woher weiß er das? Nun, als Karl ihn zu ihrem Freundestreffen mit Peter abholen wollte, sagte Hans zur Begründung, daß er heute nicht mitkommen könne: „Ich habe Kopfweh.“

Es sieht demnach so aus, als würde, was Hans von sich sagt, Karl im gleichen Sinne von Hans sagen. Doch das stimmt nicht. Denn Karl sagt etwas über Hansens Befinden, von dem er aus dessen Mund erfahren hat; wogegen Hans nicht etwas über sein Befinden sagen kann, das er aus dem Mund von Karl erfahren haben könnte.

Sollen wir diese seltsame Asymmetrie des Erfahrungszugangs hinsichtlich des Kopfwehs von Hans so beschreiben: Hans habe einen unmittelbaren, direkten, zweifelsfreien Zugang zu seinen inneren Zuständen, während alle anderen wie Karl dieser Zugang verwehrt ist und sie vom Befinden von Hans nur aufgrund der Beobachtung seines Benehmens und seiner Selbstaussagen wissen können?

Gewiß, Karl könnte sich irren oder getäuscht werden, wenn Hans nur so tut und vorgibt, Kopfweh zu haben, aber in Wahrheit keine Schmerzen verspürt, und in den vorgetäuschten Kopfschmerzen eine probate Ausrede hernimmt, um dem Treffen mit den Freunden auszuweichen, zu dem er heute nicht aufgelegt ist. – Doch weder kann Hans, wenn er kein Kopfweh hat, vor sich selber so tun oder sich dahingehend täuschen, als habe er welches, noch kann er, wenn er Kopfweh hat, vor sich selber so tun und sich dahingehend täuschen, als habe er keins.

Der Satz: „Ich habe Kopfweh“ ist nicht deskriptiv, auch wenn er dem Satz: „Hans hat Kopfweh“ ähnlich sieht; wir könnten ihn expressiv oder evokativ nennen, denn er beschreibt nichts, sondern drückt etwas aus, nämlich das wirkliche oder vorgebliche Befinden dessen, der ihn ausspricht. – Wir können Karl, der von Hans behauptet, er habe Kopfweh, fragen, ob er sich nicht irre oder getäuscht worden sei; doch wir können denjenigen, der sagt: „Ich habe Kopfweh“ nicht fragen, ob er sich nicht irre oder getäuscht worden sei.

 

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