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Philosophische Konzepte: Aspekt II

26.12.2017

Wir verwechseln den Aspekt nicht mit der Perspektive, die wir durch Einnahme eines Standorts gewinnen und infolge der Veränderung unserer Position in Raum und Zeit variieren. Denn wenn Robinson auch am Strand entlang seine Insel ganz umrundet, er sieht immer nur das Meer, den Sandstrand und die Palmen. Ob wir kreuz und quer mit dem Fahrrad durch die Stadt kurven oder unseren Wohnort aus großer Höhe vom Flugzeug aus erblicken: Was wir sehen, ist eben die Stadt.

Doch wenn wir im Liniengewirr ein Gesicht erblicken, sehen wir nicht mehr das gleiche Bild, sondern etwas Neues, aber so, daß wir das Neue im gleichen Bild erblicken. Und wenn wir (in der Kipp-Figur) statt eines Hasen eine Ente oder statt einer Ente einen Hasen erblicken, sehen wir gleichfalls nicht mehr das gleiche Bild, sondern ein anderes, aber so, daß wir das andere im gleichen Bild erblicken.

Vergleichen wir dies mit einem Aspekt, der uns sehr ferngerückt erscheinen mag, aber die Literatur- und Kunstgeschichte des Abendlands stark geprägt hat: die mythische Sicht auf das Dasein bei Homer.

Wir greifen ein Detail heraus: Die Götter mischen sich unter die Kämpfer vor Troja, sowohl in die Reihen der Griechen als auch die Reihen ihrer Feinde. Wir erfahren, wie Athene dem Helden Achilleus im rechten Moment erscheint, um seinen Groll zu beschwichtigen und in ihm den Impuls zu hemmen, sich an Agamemnon aus Ärger über die ihm angetane Kränkung zu vergreifen. Wir sagen, in diesem Augenblick habe der stürmische Krieger noch einmal Besonnenheit walten lassen, statt in Rage zu geraten. Homer stellt es so dar, daß die Macht der Besinnung ihm in Gestalt der Göttin Athene von außen entgegentritt. Achill sieht die Göttin leibhaftig vor sich und sie gebietet ihm durch ihr Erscheinen Zurückhaltung, den Umstehenden indes bleibt ihre Gestalt verborgen. Homer sieht das gleiche Phänomen anders, als wir es zu sehen pflegen.

Homer und wir haben dasselbe Phänomen vor Augen: einen Menschen, den ein Moment der Besinnung daran hindert, sich wie wir sagen zu vergessen und loszuschlagen. Für uns ist die Besinnung, wie es Platon und Aristoteles unter dem Aspekt des Menschen als animal rationale sahen, ein integraler Bestandteil der Vernunft. Für Homer ist sie eine den Menschen als Lebewesen zwischen Erde und Himmel überwältigende göttliche Macht, auf derselben Stufe angesiedelt wie der Impuls, den sie hemmt, Zorn und Wut. Doch würden wir von einem jähzornig aufbrausenden Mann, den sein besonnener Freund vor einer Tat, die er bereuen würde, handgreiflich zurückhält, nicht sagen, er habe sich noch rechtzeitig eines Besseren besonnen.

Wir lesen bei Homer, daß die höchste Göttin, Hera, aus gekränkter Eitelkeit ziemlich schlecht auf den trojanischen Prinzen Paris zu sprechen, der sie beim Schönheitswettbewerb alt aussehen ließ (er schenkte ja Aphrodite den goldenen Apfel und nicht ihr), die Gattin des Zeus also höchstpersönlich in die Reihen der Griechen fährt, um ihnen beizustehen. Ihr Beistand besteht nun seltsamerweise darin, daß sie sich in einen der griechischen Krieger namens Stentor, bekannt für sein gewaltiges Stimmorgan, verwandelt und mit der Energie von fünfzig männlich rauhen Kehlen die kampfesmüden Helden zu frischen Taten aufruft und anspornt. Für uns ist unter dem Aspekt der Subjektivitätsbestimmung Kants die Identität des Ich die Voraussetzung dafür, daß einer sich mit eigener Stimme zu Wort meldet. Für Homer indes scheint Stentor mit der fremden Stimme der Göttin zu brüllen. Wir kennen dieses Phänomen bezeichnenderweise nur noch als Symptom religiöser Besessenheit oder psychotischen Wahns. Wir sagen, wenn jemand hysterisch schreit, er sei außer sich oder nicht mehr bei sich. Homer sieht dasselbe Phänomen unter dem mythischen Aspekt, daß der Mann von einer göttlichen Macht namens Hera besessen und überwältigt ist. Uns gilt eine Person, die ihrer Sinne nicht mehr mächtig ist und die Kontrolle über ihre Handlungsimpulse verloren hat, für unzurechnungsfähig und in der Sprache des Gerichts für nicht schuldfähig, weil wir ihr keine Verantwortung für ihre Taten zusprechen. Der homerische Stentor dagegen, aus dem die Göttin Hera schreit, wird von seinen Kampfgenossen durchaus ernst genommen und seine bizarre Aufforderung zu erneutem Kriegseinsatz findet Gehör.

Wir lesen des weiteren in der Ilias des Homer, daß der Kriegsgott Ares, Sohn des höchsten Götterpaares, auf Seiten der Trojaner in den Kampf eingreift und ein wüstes Schlachten und Morden unter den Griechen vollführt. Er wird sodann durch seine Schwester, die Göttin Athene, mittels eines Lanzenwurfs mitten in den Leib außer Gefecht gesetzt und kehrt zum Hohn der Olympischen jammernd zu seinem Vater Zeus zurück, der kein gutes Haar an ihm läßt. Auch die schöne Aphrodite ist sich nicht zu schade, sich in das grausame Gemetzel zu stürzen, gilt es doch, ihren Schützling Paris, der sich als rechter Waschlappen entpuppt und sich feige unter die Helme seiner Kampfgenossen duckt, vor der Wut seines Rivalen Menelaos, dessen Gattin Helena er entführt hat, zu bewahren. Die schöne Göttin wird ihrerseits im Schlachtgetümmel an ihrer zarten Haut von der Lanze des Griechen Diomedes gestreift und zieht sich schmollend in den Olymp zurück.

Daß der Krieg als wilder Gott und Eros als schöne Göttin erscheinen, setzt uns über einen erstaunliche Tatsache ins Bild: Das Dasein unter dem mythischen Aspekt zu betrachten bedeutet, die großen, unabweislichen Mächte des Lebens, in die alles Lebendige von der Geburt bis zum Tode verwoben und verstrickt ist, Gestalt werden zu lassen und als Person gewordene Gestalten zu sehen.

Sollen wir sagen, die Fähigkeit, das Dasein unter dem mythischen Aspekt zu betrachten, bezeuge eine Stufe der Entwicklung des menschlichen Geistes, über die wir dank der Fortschritte der Aufklärung und Wissenschaft zu einer reifen Stufe der Autonomie der Vernunft glücklich und für immer hinausgewachsen sind? Diese Arroganz und Selbstgefälligkeit sei ferne von uns! Denn wir haben in den Dichtungen Hölderlins, Georges und Hofmannsthals Zeugnisse der Wiedergeburt oder der Wiedererinnerung des mythischen Aspekts des Daseins, deren Gültigkeit nur trockene Schulmeisterei oder fanatisch bornierter Fortschrittsdünkel anzuzweifeln sich vermessen.

Die Götter nennt Homer die leicht Lebenden, sie mischen sich wie zum Spiel in die Bedrängnisse des menschlichen Lebens und ziehen sich wolkengleich auf die Höhen des Olymp zurück, die Blessuren, die Aphrodite und Ares im Kampf vor Troja davongetragen haben, sind keine tödlichen Wunden, sie heilen alsbald. Die Menschen aber bleiben den Lebensmächten, die Ares, Aphrodite oder Athene verkörpern, ohne ihnen entfliehen und entrinnen zu können, ausgeliefert. Nur ein unscheinbares Antidot, die harmlose Zauberdroge eines ephemeren Rückzugs vom (Lebens-)Kampf oder wie in der Odyssee von den Mühen der Lebensfahrten, weiß uns Homer: die Kunst. So finden wir Achilleus, der sich grollend bei den Schiffen der Griechen in sein Zelt zurückgezogen hat, wie er sich die trübe und müßige Zeit mit epischem Gesang und dem Spiel auf der Phorminx vertreibt. So wird es uns als edle Kunstübung vorgeführt, wie Odysseus vor dem König der Phäaken und der anmutigen Königstochter Nausikaa von der Mühsal und den Leiden seiner Fahrten mit episch breitem Atem erzählt.

Unter dem mythischen Aspekt erglänzt das, was Menschen kostbar und schätzenswert erscheint, im harten Mittagslicht einer einmaligen und unwiederbringlichen Begegnung und im verfließenden Abendlicht eines unaufhaltsamen Abschieds. So sehen wir mit Hektor, wenn er seiner Gattin Andromache, das Söhnchen Astyanax an der Hand, auf seinem schicksalhaften Gang ins Schlachtfeld begegnet, den Glanz in ihren Augen und den Glanz in ihren Tränen, sehen den Schmerz der Pflicht und des Verzichts in den hohen Zügen des Mannes, aber auch die Rührung des Vaters, der den mächtigen Helm auf den Boden setzt, weil sich der Kleine vor dem wippenden Helmbusch fürchtet, um das Kind auf seinen Arm zu nehmen und sanft zu wiegen. Die Worte, mit denen der Vater eine goldene Zukunft auf den Sohn herabbeschwört, trägt, kaum ausgesprochen, der eisige Atem der Geschichte davon. Die Worte, die Mann und Frau tauschen, verdunkeln die Schatten des unentrinnbar Gewissen, des tragischen Schicksals, das nicht innehält.

Andromache, die Eltern und Brüder verloren hat, beschwört ihren Mann, ihr Vater und Mutter zu sein, ihr und dem Kind das traurige Geschick einer Witwe und eines Waisen zu ersparen. Doch Hektor ruft sogar das trübe Bild herauf, wie Andromache in die Sklaverei verbracht in Argos für Fremde Wasser schleppen und am Webstuhl sitzen wird. Er müßte sich aber vor seinen Leuten schämen, wenn er nicht tapfer sein Los auf sich nehme und in den Kampf ziehe, diese Pflicht zu erfüllen sei er sich und den Ahnen schuldig.

Die tragische Sicht auf das Leben scheint uns durch einen Abgrund von dem uns vertrauten Aspekt des animal rationale getrennt, insofern sich seine Rationalität endlich von allen Verstrickungen und Fatalitäten des Herkommens und der Sittlichkeit emanzipiert hat, um als Kalkül freier Wahl der Befriedigung eigener Interessen zu dienen. Doch mutet dies nur wie ein trügerisches Sophisma an, wenn wir auf unser tatsächliches Verstricktsein in Geschichten blicken, die uns heutzutage von den namenlosen Göttern des Fortschritts, der Technik, der Geschwindigkeit oder des Konsums souffliert werden.

Siehe:
https://de.wikipedia.org/wiki/Hektorlied
https://www.youtube.com/watch?v=LUx0SBAj9fc

 

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