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Philosophische Konzepte: Erinnerung (Teil I)

16.11.2017

Wir nehmen das Gegenwärtige mit den Sinnen wahr, das Vergangene können wir nicht wahrnehmen: Es sind die mehr oder weniger frischen, mehr oder weniger verblaßten Eindrücke und Wahrnehmungen von Ereignissen, die wir als vergangen kennzeichnen, die den Stoff und Inhalt unserer Erinnerungen bilden.

Wir können den gegenwärtigen Sinneseindruck mit einem Gesprächspartner teilen, indem wir sagen: „Siehst du, dort geht unser Freund Manfred!“ Unser Gesprächspartner kann unseren Gesichtseindruck bestätigen oder korrigieren, wenn er erkennt, daß es sich meinerseits um eine Täuschung, in Wahrheit um eine andere Person handelt.

Wir können unsere vergangenen Sinneseindrücke oder Erinnerungen nicht in der gleichen Weise teilen. Wenn wir gestern zusammen im Park waren und ich dich frage: „Erinnerst du dich, wie ich glaubte, dort sei Manfred gegangen?“, kannst du meine Frage genauso gut bejahen als verneinen, wenn du die Begebenheit vergessen hast.

Wir können uns auf die Gegenstände der Wahrnehmung gegenseitig aufmerksam machen, indem wir auf sie zeigen. Ich zeige in die Richtung einer Person, die im Park spaziert, um deine Aufmerksamkeit auf sie zu lenken.

Wir können nicht auf unsere Erinnerungen wie auf Bilder einer Galerie zeigen, um unseren Gesprächspartner auf sie aufmerksam zu machen. Wollen wir seine Aufmerksamkeit auf unsere Erinnerung lenken, sind wir gehalten, davon zu berichten oder zu erzählen.

Etwas berichten, etwas erzählen sind sprachliche Handlungen sui generis, die wir auf unterschiedliche Stoffe und Themen anwenden, auf wirkliche Begebenheiten genauso wie auf erfundene oder fiktive. Denn auch wenn wir uns in phantastische Geschichten einspinnen oder wenn wir lügen, können oder wollen wir den Eindruck erwecken, daß wir von etwas berichten oder etwas erzählen, das sich tatsächlich ereignet hat.

Wir erwähnen nur am Rande, daß die eigentümliche Mischung von Faktum und Fiktion, Historie und Fabel, Bericht und Mythos oder Märchen am Anfang der erzählerischen Tradition liegt, die wir das epische Erzählen nennen, wie wir es als mündliche Überlieferung oder Vorstufe der redigierten Texte des homerischen Epos voraussetzen.

Erinnerungen sind demnach Aussagen über vergangene Sinneseindrücke und Erlebnisse dessen, der spricht (oder schreibt). Er rechnet sich die Gegenstände der Erinnerung, also die Bedeutungen und Referenten der Erinnerungssätze, als Subjekt vergangener Wahrnehmungen zu – auch wenn er dies nicht ausdrücklich macht durch Worte wie: „Dann sah ich“, „Darauf hörte ich“, „Nachher spürte ich“.

Wir können die Semantik von Sätzen der Erinnerung in zwei Formen aufstellen:

1. Wir sagen, Sätze über Erinnerungen sind Sätze über vergangenes Wissen. Dann fassen wir die Erinnerung des Sprechers, er habe gestern seinen Freund Manfred im Park gesehen, als Bericht über die bewußte Wahrnehmung dieses Ereignisses auf. In diesem Falle wäre die Frage, woher er dies wisse, sinnlos. Diese veridische Semantik der Erinnerungssätze ist unproblematisch. Hier ist derjenige, der spricht und von vergangenen Erlebnissen erzählt, offenkundig als identisch mit der Person vorausgesetzt, die genau die Erlebnisse hatte, die sie erwähnt.

2. Wir setzen fest, daß Sätze über die Vergangenheit keinen Index veri et falsi an der Stirn tragen. Dann müssen wir die Semantik von Erinnerungssätzen der Form typischer Glaubensaussagen anpassen. So wird aus dem Satz:

Ich sah, wie Manfred durch den Park ging

der Satz:

Ich glaubte zu sehen, wie Manfred durch den Park ging.

Dieser Satz ist bedeutungsgleich mit folgendem sprachlichen Ausdruck:

(Ich erinnere mich) Manfred ging durch den Park.

Der Satz „Manfred ging durch den Park“ kann ebenso gut in einem Roman stehen wie in einer Autobiographie. Steht der Satz in einer Autobiographie können wir zu seiner Verifikation adäquate Verfahren der Historiographie und ihrer Hilfswissenschaften wie Geographie oder geometrisch-numerische Methoden der Raum-Zeit-Messung anwenden. Damit ist es uns möglich, sämtliche Wege, die eine Person in einem ausgewählten Zeitabschnitt (theoretisch in ihrem ganzen Leben) zurückgelegt hat, in einem idealen Musterplan mit variablen Koordinaten der Raum-Zeit einzutragen und exakt zu fixieren. Wenn sich die rekonstruierte Linie des Wegs, den Manfred an einem bestimmten Tag und einem bestimmten Zeitkorridor der Vergangenheit zurückgelegt hat, mit derjenigen Linie kreuzt, die den Weg rekonstruiert und die Blickrichtung dessen beschreibt, der die Aussage „Ich erinnere mich, Manfred ging durch den Park“ gemacht ist, scheint sie verifiziert zu sein.

Wir zögern zu sagen, der Satz der Erinnerung sei in der Tat bewahrheitet, denn es könnte sein, daß die genannte Rekonstruktion wahr ist, aber der Sprecher in dem Moment, als seine Blickrichtung den Weg Manfreds kreuzte, an etwas anderes dachte oder so abgelenkt und geistesabwesend war, daß er seinen Freund nicht erkannt hat, also zwar eine Person wahrnahm, doch ohne ihre Identität auszumachen. Der Sprecher könnte sich nach einer Weile, nachdem die Person schon aus seinem Blickfeld verschwunden ist, fragen: „War das nicht mein Freund Manfred?“ Hier handelt es sich demnach nicht um eine Erinnerung an eine Wahrnehmung, sondern um die Erinnerung an eine Vermutung.

Wir stoßen hier auf den bedeutsamen Fall, daß unsere Aussagen über Erinnerungen rein zufällig genau das meinen, was sie sagen, ohne daß wir sie als echt, authentisch oder wahr kennzeichnen würden.

Sätze über Erinnerungen können also in dem Fall, daß wir sie semantisch als Glaubenssätze oder Annahmen auffassen, nur dann als wahr oder im hohen Grade wahrscheinlich gekennzeichnet werden, wenn wir ihnen unabhängige Zeugnisse Dritter an die Seite stellen. Um einen Satz der Erinnerung zu falsifizieren, benötigen wir höchstens ein unabhängiges Zeugnis. Wenn der Patientenbericht bezeugt, daß unser Freund Manfred an besagtem Tag zu einer ambulanten Behandlung im zuständigen Krankenhaus anwesend war, ist die Erinnerung falsifiziert. Um ihn zu verifizieren, benötigen wir mindestens ein unabhängiges Zeugnis. Wenn außer dem Sprecher seine Freundin bezeugt, Manfred im Park gesehen und erkannt zu haben, ist es sehr wahrscheinlich, daß die Erinnerung zutrifft. Dennoch könnte auch diese Zeugin sich irren, und es handelte sich um eine Person, die Manfred sehr ähnlich ist, die beide zu erkennen geglaubt haben.

Erinnerungen und Sätze über Erinnerungen setzen die Identität der Person dessen, der sich erinnert und spricht, voraus. Wir geraten in semantische und begriffliche Konfusionen, wenn wir annehmen, wir seien gleichsam das Resultat all der Erinnerungen, die wir in unserem Gedächtnis gespeichert haben. Wenn wir uns daran erinnern, unseren Freund im Park gesehen zu haben, erinnern wir uns nicht daran, daß wir es waren, die im Park gewesen sind, in dem Sinne, wie wir uns daran erinnern, daß wir gemeinsam mit unserer Freundin im Park gewesen sind.

Wären wir das Resultat oder das psychologische Kontinuum unserer tatsächlich uns zugänglichen Erinnerungen, müßten wir eine andere Person werden, wenn uns beispielsweise Zeitgenossen und Zeugen unseres Lebensganges auf Ereignisse stoßen, die wir in der Tat erlebt, aber vergessen haben und nun unserem aufgefrischten Gedächtnis hinzufügen. Umgekehrt stehen wir nicht an, die Annahme als begrifflich konfus zurückzuweisen, gemäß der jemand, der aufgrund einer Amnesie Teile seiner Erinnerungen verloren hat, nunmehr seine Identität verändert oder verloren habe.

Demnach sind Erinnerungen nicht, wie vielfach angenommen, das Substrat der persönlichen Identität und Sätze der Erinnerung nicht semantisch ein Grund dafür, ihren Sprecher von demjenigen abzulösen, über und von dem er spricht.

Es ist konfus, auf den Satz der Erinnerung „Ich habe gestern unseren Freund Manfred im Park gesehen“ mit der Frage zu reagieren: „Erinnerst du dich auch genau daran, daß du es warst, der gestern Manfred gesehen hat?“ Im Gegensatz zur Äußerung des plausiblen, weil aufgrund von Indizien oder Zeugen begründeten Zweifels: „War es vielleicht eine andere Person, die du gesehen hast?“

Wenn die Erinnerung valide ist, daß Manfred gestern im Park war, dann nicht deshalb, weil wir aufgrund ihrer Mitteilung nun annehmen, Manfred sei gestern im Park gewesen. Auch wenn uns dies nicht mitgeteilt worden wäre, verlöre die Erinnerung nichts an ihrer Korrektheit. Ebensowenig konstituiert die Erinnerung, daß ich Manfred gestern im Park gesehen habe, die Tatsache, daß ICH es war, der ihn gesehen hat.

Kennzeichnen wir Erinnern als Form und Funktion des Bewußtseins, kommen wir zu dem bedeutsamen Ergebnis, daß die Identität dessen, der sich erinnert, weder eine Ableitung seiner Erinnerungen noch eine Funktion des Bewußtsein ist (wie vielfach angenommen), sondern das Bewußtsein eine Funktion der personalen Identität.

Wenn jemand sich richtig daran erinnert, seinen Freund Manfred gestern im Park gesehen zu haben, muß derjenige, der sich JETZT daran erinnert, DIESELBE Person sein, die ihren Freund gestern im Park gesehen hat. Aber die Tatsache, daß sie dieselbe Person ist, resultiert nicht aus ihrer Erinnerung.

Wenn mir all deine Erinnerungen durch eine medizinische Prozedur an deinem und meinem Gehirn übertragen werden könnten, würde am Ende meine Identität gegen deine ausgetauscht? Das wäre allerdings gemäß der pseudophilosophischen Annahme gewisser Neuropsychologen dann der Fall, wenn deine und meine Identität vollständig als Resultante und Funktion unserer Erinnerungen erklärt werden könnte.

Nach unserer Annahme aber wäre das Ergebnis dieser Science-Fiction-Prozedur weniger aufregend und trivial: Ich hätte den Eindruck, mich an Ereignisse zu erinnern und Erlebnisse gehabt zu haben, die ich in der Tat nicht hatte, sondern die du wahrgenommen und erlebt hast. Doch würde ich nicht aufhören derjenige zu sein, der zuvor bescheiden mit dem dürftigen Vorrat seiner eigenen Erinnerungen gehaushaltet hat – und nun über mehr davon verfügt, als ihm bekömmlich ist.

 

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