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Philosophische Konzepte: Gemütsbewegung (Teil I)

24.11.2017

Zum sprachlichen Ausdruck unserer Gemütsbewegungen wie Freude, Kummer, Angst, Ekel, Scham, Haß, Wut, Eifersucht, Neid und Bewunderung gebrauchen wir Wendungen, die reine Reflexivbildungen darstellen können, oder Aussagen, die auf ein direktes Objekt zielen und ein indirektes Objekt mit sich führen.

Reflexive Wendungen:

1.1 Ich freue mich.
1.2 Ich ängstige mich.
1.3 Ich ekele mich.
1.4 Ich schäme mich.

Aussagen mit direktem und indirektem Objekt:

2.1.1 Ich freue mich auf sein Kommen.
2.1.2 Ich freue mich über sein Kommen.
2.1.3 Ich freue mich an seiner großen Leistung.
2.2.1 Ich bin um ihre Gesundheit bekümmert.
2.2.2 Das unterkühlte Gebaren seiner Freundin bereitet ihm Kummer.
2.3 Ich ängstige mich vor der Dunkelheit.
2.4 Ich ekele mich vor dem Unrat.
2.5 Ich schäme mich für mein Benehmen.
2.6 Ich hasse Unpünktlichkeit.
2.7 Ich bin wegen seiner Verleumdungen auf ihn wütend.
2.8 Er ist auf seine Frau grundlos eifersüchtig.
2.9 Sie bewundert ihn für seine Geduld.
2.10 Sie beneidet ihre Freundin um ihre Schönheit.

Die Aussagen 2.6., 2.9 und 2.10 mit den Verben „hassen“, „bewundern“ und beneiden“ haben ein direktes Objekt. Allerdings können wir die meisten Aussagen mit Affekt-Verben so umformen oder ergänzen, daß wir die Prädikate mit direkten Objekten verknüpfen können:

3.1 Ich habe sie mit meinem Geschenk erfreut.
3.2 Ihre herablassende Art hat ihn bekümmert.
3.3 Der kläffende Hund hat das Kind verängstigt.
3.4 Ihr schlampiger Aufzug hat ihn angeekelt.
3.5 Daß sie ihn vor seinen Freunden bloßstellte, beschämte ihn.

Darüber hinaus verfügen wir zum Ausdruck unserer Gemütsbewegungen und affektiven Gestimmtheiten über viele Eigenschaftswörter und adverbiale Bestimmungen wir fröhlich, heiter, verärgert, aufgebracht, traurig, grimmig, verlegen, trotzig oder übermütig.

Wir sehen anhand dieser kleinen Übersicht, daß Ausdrücke für die Gemütsbewegung gleichsam dem Mutterboden der die Menschen einander zueignenden, aneinander fesselnden oder zueinander in gemäße Beziehungen setzenden leidenschaftlichen Dramen des Lebens entstammen. Die Affekte sind gleichsam die Masken und die Mienenspiele, die uns die Rolle auf der Bühne des Lebens zumutet.

Wir beobachten im alltäglichen Umgang, daß unsere Affekte und emotionalen Befindlichkeiten mit eigentümlichen mimisch-physiognomischen Phänomenen und charakteristischen Verhaltensänderungen einherzugehen pflegen.

Der erfreute oder frohgemute Mensch lächelt, der bekümmerte blickt ernst unter sich, das verängstigte Kind stößt einen Schrei aus und schrickt vor dem kläffenden Hund zurück, der vom Unrat Angeekelte verzieht die Miene und wendet sich ab, der Verlegene und Beschämte errötet und tritt ins hinterste Glied.

Wir unterscheiden affektive Impulse und emotionale Dispositionen oder Haltungen: Der Wüterich mag, wie wir zu sagen pflegen, ein cholerischer Charakter sein, denn wenn ihm etwas gegen den Strich geht, braust er gleich auf und geht an die Decke, während der Duldsame vieles Anstößige hinnimmt und der Depressive alles in sich hineinfrißt. Der vom Naturell her Eifersüchtige gewahrt an den flüchtigsten Blicken, am schnippischen Zungenschlag, am etwas zu lauten Ton seiner Freundin, die mit einem ihm Unbekannten telefoniert, er wittert an ihrem neuen Parfum einen untrüglichen Grund für seine Eifersucht – und schon behelligt er sie mit bohrenden Fragen.

Wir beobachten Fälle, bei denen der Grundton eines Affekts, die Grundfarbe einer Stimmung, das Wasserzeichen einer emotionalen Haltung in allem Fühlen und Denken vorwalten und gleichsam durch das wirre Gekritzel aller Lebenszeichen durchscheinen. Wir sind gewohnt, diese Disposition, die den Choleriker dazu bestimmt, ständig wegen irgendeiner Lappalie wütend und den Eifersüchtigen wegen des notorischen Zuspätkommens der Freundin immer wieder eifersüchtig zu sein, schlicht Charakter zu nennen, und tun gut daran, wenn wir in das Wort nicht mehr hineingeheimnissen als eben die Disposition des Betreffenden, in typischen Situationen in gewohnter Weise affektiv und verhaltensmäßig zu reagieren.

Wir unterscheiden aber vom Charakter mit seiner typischen Affektlage den Habitus oder die durch Gewöhnung und Erprobung erlangte ethische Haltung, wie wir beispielsweise die Leidenschaft des Zornmütigen von der kontrollierten Haltung des Tapferen oder die schwächliche Nachgiebigkeit des Duldsamen von der beherzten Langmut des Geduldigen oder das neidische Beäugen der Größe von der hochsinnigen Bewunderung unterscheiden.

Es ist bemerkenswert, daß die bis ins Pathologische gesteigerte und zugespitzte Dominanz einer herausstechenden gemüthaften Disposition den Stoff sowohl für die literarische Gestaltung komischer und als auch diejenige tragischer Figuren abgibt. Denken wir an die komische Figur des Thersites in der homerischen Ilias, jenes krummen Nörglers und Querulanten, der aufgrund seiner gehässigen und neiderfüllten Einstellung gegenüber den Führern der Hellenen lächerlich wirkt, oder an die tragische Figur der Elektra in der Orestie des Aischylos, die aufgrund des Hasses wider die eigne Mutter den Bruder Orest zu deren Ermordung anstiftet.

Wir sagen nicht angesichts des verlegenen die Augen niederschlagenden Kindes, das errötet, weil es die Mutter beim Stibitzen von Leckereien aus der Speisekammer erwischt hat, oder angesichts des lächelndes Kindes, das sich freut, weil es ein Geschenk bekommen hat: „Ich vermute aufgrund der Beobachtung seines Verhaltens (Augenniederschlagen, Erröten), daß sich das Kind schämt und verlegen ist.“ Und wir sagen ebensowenig: „Ich schließe aus meiner Wahrnehmung seines Lächelns auf seine freudige Gestimmtheit als den seelischen Grund seines Gebarens.“

Unsere Erkenntnis des Ausdrucks der Gemütsbewegungen ist weder eine Meinung oder Theorie über fremdpsychisches Erleben noch ein induktiver Schluß von der Beobachtung des Verhaltens auf eine bestimmte Affektlage. Unsere Erkenntnis der Gemütsäußerungen anderer ist unmittelbar und gleichsam der Bildung von Meinungen und Theorien gegenüber primitiv oder elementar. Der Ausdruck der Gemütsbewegung dient uns nicht als Symptom, an dem wir den Affekt als seine Ursache ablesen oder dechiffrieren. Denn in den Gemütsbewegungen unserer Mitmenschen liegt ihre Seele gleichsam nackt zutage.

Dem Freund, der angesichts des schlampigen Aufzugs seiner Holden das Gesicht verzieht, unterstellen wir keinen Widerwillen, sondern merken ihm an, daß er sich ekelt. Wir gehen nicht davon aus, daß das Kind, das vor dem kläffenden Hund zurückschrickt, Angst hat, sondern wir nehmen seinen angstvollen Zustand unmittelbar wahr.

Unsere Beschreibungen der Gemütsbewegungen sind nicht metaphorisch in dem Sinne, daß wir sie in eine wörtlich oder wissenschaftlich approbierte Sprache wie die Sprache physischer Ereignisse übersetzen könnten und müßten. Die von uns wahrgenommenen Affekte wie Freude, Ekel, Zorn, Mißstimmung oder Scham sind keine hypothetischen Annahmen wie die Elektronen und Photonen der Physiker, deren Spuren sie in der Leuchtkammer verfolgen. Sie sind auch keine theoretischen Konstrukte wie die Postulate der Evolutionsbiologen und Neuropsychologen, sondern Evidenzen unseres alltäglichen Sprachgebrauchs. Evidenzen, die uns das eigentliche Drama der in Leid und Leidenschaften verstrickten menschlichen Existenz enthüllen.

So sehen wir die Aufregung des Prüfungskandidaten an seinen angespannten Gesichtszügen und hören sie, wenn er sich im Vortrag verhaspelt. Wir sehen die verliebte Erregung des jungen Mädchens an seinen geröteten Wangen und hören sie, wenn sich seine Stimme überschlägt, und fühlen sie, wenn es plötzlich stockt und in Schweigen versinkt.

Erst wenn wir das Lächeln als Ausdruck der Freude verstanden haben, vermögen wir hinter den Schein des aufgesetzten, falschen Lächelns zu kommen. Nachdem wir dem freundlichen Lächeln begegnet sind, macht uns das spöttische oder ironische Lächeln hellhörig oder mißtrauisch.

Wenn wir nicht gerade indische Yogis sind, wird es uns schwer fallen, den Ausdruck empfindlicher Schmerzen in unserer Mimik und unserem Gebaren zu unterdrücken. Doch können wir, bevor wir uns zu Taten hinreißen lassen, die wir bereuen müßten, unseren Zorn, wie wir sagen, verrauchen lassen. Unserer Neigung, schon bei geringsten Frustrationen den Kopf hängen zu lassen, können wir entgegenwirken, indem wir unser Selbstgefühl durch anerkennenswerte Leistungen oder Übungen stärken. Der Krankenpfleger oder der Sterbebegleiter lernt im menschlich vertieften Umgang mit den Betroffenen nach und nach seinen Ekel vor üblen Gerüchen, Ausscheidungen und Unrat in den Griff zu bekommen. Das ängstliche Kind kann durch wiederholte Proben der Tapferkeit allmählich größere Selbstsicherheit gewinnen.

Wir können unterscheiden zwischen Affekten wie Wut, Haß, Eifersucht und Neid, die unsere Persönlichkeit schwächen und unser Leben verwirren und die wir mittels erprobter Techniken und Übungen disziplinieren oder doch abmildern lernen, und Gemütsbewegungen wie Freude, Neugier, Scham und Bewunderung, die uns mit anderen in hellhörige und ausgleichende Kommunikationen versetzen und unser Leben klarer und vielschichtiger machen.

Auf diese Weise können wir, ist uns das Glück nicht ganz abhold, hoffen, größere Gelassenheit angesichts der keinen verschonenden Unbill des Schicksals zu erringen. Dabei hilft es uns, in der Förderung und Pflege positiver Affekte die seelische Waage gegen die Last der negativen auszutarieren. Die Frau, die Neid gegen die Schönheit ihrer Freundin verzehrte, entwickelt ihr gegenüber Mitgefühl und mildert oder überwindet so den herabziehenden Affekt, wenn sie sich nach und nach die Nachteile physischer Exzellenz vor Augen führt, wie vorwiegend nach dem Augenschein beurteilt zu werden oder nur in das Blickfeld von Männern mit eher einseitigem Interesse zu geraten. Der verkrachte Schriftsteller, der seinen blinden Ehrgeiz, so schreiben zu können wie Proust oder Kafka, über Bord wirft, weil er einsieht, daß es lächerlich wäre, so zu schreiben wie Proust oder Kafka, erlöst sich selbst von seinem falschen Ideal und beginnt, die Idole, die er bisher nur beneidet hat, aufrichtig zu bewundern. Die aus dem Sumpf der Versagung aufquellende Traurigkeit kann zumindest gemildert und aufgehellt werden, erfährt der Mißlaunige an freudvollen Begebenheiten und Begegnungen eine Quelle der Heiterkeit, die von den immer drohenden Eintrübungen der Lust und ihrer immer wiederkehrenden Versagung oder Enttäuschung und von den die Langeweile vergebens zerstreuen sollenden dumpfen Vergnügungen unangetastet bleibt.

Auch jenem, den das wuchernde Gestrüpp der negativen, zerstörerischen und bösartigen Affekte in Dunkelheit verschlagen hat, in das Schattendasein der Sünde, in dem wir am Ende alle hausen, bleibt die Hoffnung auf ein lichtvolles, belebendes oder segnendes Wort, das ihm wie ein Blütenblatt aus dem Garten der großen Dichtung oder vom ewig blühenden Baum heiliger Schrift vor die Füße schneien mag.

 

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