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Philosophische Konzepte: Kehraus II

30.12.2017

Wenn die Spiele, wie Wittgenstein erläutert, keine Menge oder Klasse von Gegenständen darstellen, die sich durch ein allen gemeinsames Merkmal oder die Identität einer Eigenschaft auszeichnen, bilden sie einen mehr oder weniger losen Verband oder ein Bündel von Merkmalen, das durch die Ähnlichkeitsrelation mehr schlecht als recht zusammengehalten wird.

Wir können angesichts der sprachlogischen Mannigfaltigkeit der Spieltypen nicht davon reden, daß Schach oder Fußball der reinen und idealen Form oder der Idee des Spiels näher kommen als Blindekuh oder Knobeln oder daß Blindekuh und Knobeln nur im abgeleiteten, uneigentlichen oder übertragenen Sinn Spiele genannt werden können. Die Unterscheidung von wörtlicher und abgeleiteter oder metaphorischer Bedeutung entfällt bei dieser Art der Begriffsbildung, die ohne Rekurs auf ein einsinniges Merkmal und die Identität einer Eigenschaft auskommt.

Wir können natürlich auch angesichts der sprachlogischen Mannigfaltigkeit der Sprachtypen nicht einen einzelnen Sprachtypus wie die Logik aus dem Geflecht oder Bündel herausziehen und sie als Idealsprache oder Normsprache deklarieren, so daß sie uns etwa den Maßstab an Klarheit, Distinktion und Mächtigkeit der idealen Satzformen an die Hand gäbe, um alle anderen Sprachen daran zu messen.

Wir können die Regeln des Schachspiels nicht in den Regeln des Fußballspiels formulieren oder die Regeln eines Spiels in die Regeln eines anderen Spiels transformieren. Das ist die einfache Folge der Tatsache, daß uns kein ideales oder normatives Spiel, kein Metaspiel, zur Verfügung steht. Alles funktioniert, wenn wir innerhalb der Domäne eines Regelwerks bleiben. Dann können wir von einem guten oder schlechten Spieler, von einem ausgezeichneten oder verfehlten Spielzug reden. Doch wir können keine Rochade im Fußballspiel und kein Elfmeterschießen im Schachspiel anwenden.

Wir können die Regeln der Beschreibung und des Berichts (des deskriptiven Sprachspiels) nicht in den Regeln der Aufforderung (des präskriptiven oder adhortativen Sprachspiels) formulieren oder die Regeln eines Sprachtyps oder Sprechakttyps in die Regeln eines anderen Sprachspiels transformieren. Das ist die einfache Folge der Tatsache, daß uns kein ideales oder normatives Sprachspiel zur Verfügung steht. Alles funktioniert, wenn wir in der Domäne einer sprachlichen Verkehrs- und Verständigungsform bleiben oder sie was uns freisteht nur wechseln, wenn wir darin übereingekommen sind. Dann können wir von einem guten oder schlechten Dialogpartner, von einer gültigen oder unkorrekten Sprachverwendung reden. Doch wir können nicht erwarten, jemand verstehe es als Einladung zu unserer musikalischen Soiree am nächsten Samstag, wenn wir den musikalischen Charakter des einen und anderen Musikstücks detailliert beschreiben, das an diesem Abend zu Gehör gebracht werden soll.

Wenn wir keine Begriffe finden, die uns die Einheit einer Mannigfaltigkeit oder die Menge von Gegenständen, die unter sie fallen sollen, einem Faustpfand gleich anheimstellen und garantieren, tun wir gut daran, uns vom Begriff des Begriffs zu verabschieden.

Der Begriff ist die eigentliche Chimäre des abendländischen Denkens. Er gaukelt uns die Scheinexistenz eines der natürlichen Lebenswelt enthobenen Gegenstands vor, dessen wir nur jeweils unzulänglich, vorläufig und en passant in seinen Exemplifikationen habhaft würden. Als wäre die Identität des Merkmals einer geometrischen Figur, drei Seiten zu haben, die mindesten zwei Winkel kleiner als 90 Grad bilden, die gleichsam übersinnliche Bedeutung des Begriffs Dreieck, die wir in den augenscheinlichen Exemplaren eines rechtwinkligen, eines spitzwinkligen oder eines stumpfwinkligen Dreiecks nur unzulänglich, ephemer und traumartig streiften. Als wäre die Identität des Merkmals eines Lebewesens, Einsicht mittels logischer Folgerungen und vernünftiger Argumente gewinnen zu können, die eigentliche Bedeutung des Begriffs Mensch, die wir in den Exemplaren Walter, Peter und Paula nur unzulänglich, fragmentarisch und mangelhaft verwirklicht finden.

Wir kommen zu einer ungewöhnlichen und noch kaum ausgedachten Schlußfolgerung: Wie Schachspiel und Fußballspiel keine Unterbegriffe oder Exemplifikationen des allgemeinen Begriffs Spiel und wie das Sprachspiel der Beschreibung und das Sprachspiel der Aufforderung keine Exemplifikationen des allgemeinen Begriffs der Sprache darstellen, so sind Walter, Peter und Paula keine Exemplare des allgemeinen oder Gattungsbegriffs „Mensch“.

Wenn wir Kehraus machen mit den Allgemeinbegriffen und dem Begriff des Begriffs, so wie bereits erwähnt gewiß auch mit dem Begriff des Bewußtseins. Wenn aber mit dem Begriff des Bewußtseins, dann auch mit all jenen Phantasmen, die uns seinen internen Aufbau und seine mentale Struktur vorgeblich plausibel machen sollen: der Verkettung von Vorstellungen durch das Wirken von Assoziationen oder dem Erlebnisstrom.

Denn deine Gegenwart in der Geschichte, die wir gemeinsam erleben, besteht beispielsweise darin, mich zu einem geselligen Abend einzuladen, dabei ist es gleichgültig, welche Assoziationen von Vorstellungen du durch diesen adhortativen Sprechakt bei mir auslöst (falls überhaupt welche), und es ist gleichgültig, welche Assoziationen von Vorstellungen du selbst mit deiner Äußerung verbindest (falls überhaupt welche), wenn nur ich deine Äußerung als Einladung verstehe und du sie grammatisch unzweideutig als eine solche formuliert hast. Mein Verständnis deiner Äußerung als einer Einladung ist aber kein Teil des Erlebnisstroms meines Bewußtseins, sondern eine Handlung: am genannten Termin bei dir vor der Tür zu stehen.

Wenn wir rückblickend und nicht ohne Verwunderung fragen, was mit solch ominösen und mysteriösen Begriffen wie dem Begriff der Einheit des Bewußtseins oder des Erlebnisstroms gemeint gewesen sein könnte, denken wir beispielsweise an die Geschichten, Anekdoten und Räuberpistolen, die wir anderen erzählen, wenn wir unsere Kindheits- oder Jugenderinnerungen zum besten geben: ein Gemisch aus Fakten und Fiktionen, einzig zusammengehalten von den losen Fäden der temporalen Bestimmungen und Konjunktionen („damals“, „und dann“, „in der Zwischenzeit“), verschwommenen oder kurz aufleuchtenden Bildern, unterbrochen von Leerstellen und durchzogen von Löchern und Rissen, die wir wiederum gerne mit Redewendungen und geläufigen Phrasen aus dem Repertoire des autobiographischen Erzählens stopfen.

Die Einheit des Bewußtseins und des Erlebnisstroms enthüllt sich uns als der Faden oder der aus vielen Fäden gedrehte Zwirn der Geschichten, die wir uns und anderen von unserem Leben erzählen. Auf diese Weise transformieren wir die nichtssagende Pseudotheorie des Bewußtseins in die fruchtbare Betrachtung einer literarischen Form und ihrer rhetorischen Technik: der Erzählung, in die sowohl echter Bericht als auch fiktive Elemente eingehen.

Geraten wir am Ende in die gefährliche Zone, in der Philosophie in Literatur übergeht? Nicht in Literatur, sondern in die nüchterne Betrachtung spezieller Sprachspiele und die handwerklich saubere Anwendung narrativer Techniken des Erzählens auf das, was einmal Bewußtsein, Ich, Subjektivität und Erlebnisstrom genannt wurde.

Die platonisch-aristotelische Begriffsanalyse hat uns die Begriffspyramide übermacht, an deren Spitze ein Allgemeinbegriff der Sorte „Mensch“, „Lebewesen“, „Sein“ als Stern letzter Orientierung aufblitzt, während tief in ihrem Inneren oder ihrem dunklen Grab das mumifizierte ens ineffabile namens Walter, Peter und Paula ruhen, zu ewigem Schweigen verdammt. Ihnen die Sprache zurückzugeben setzt voraus, die Pyramiden des Begriffs abzutragen.

Wir gelangen ins Licht eines neuen Aspekts der Welt, der eher das Zwielicht eines Gartens in der Abenddämmerung sein mag, des Gartens der Sprache, in dem die Bäume, Sträucher, Blumen, Gräser (die Sprachspiele) nicht für etwas anderes stehen, was sie eigentlich bedeuten (den klassifikatorischen Allgemeinbegriff), und in dem sie nicht flüchtig aufscheinende Phänomene einer verborgenen Struktur oder eines verborgenen Wesens (als botanisch bestimmbare Exemplare oder als Signaturen einer göttlichen Schöpfung) darstellen, sondern sich selber meinen oder wörtlich verstanden werden wollen.

Wenn wir den Begriff der Sprache als umfassenden Allgemeinbegriff aus dem Garten der natürlichen Sprache ausgekehrt haben, wird uns auch die Annahme der Totalität oder Allheit zuschanden. Nicht nur weil die Annahme der Menge aller Mengen zu Inkonsistenzen führt, sondern weil die narrativen Formen, in denen wir unsere Lebensgeschichten erzählen, in sich relativ abgeschlossen, kontingent und endlich sind. Wir können nicht, wenn wir von unserer Kindheit erzählen, die Gestalten unserer Eltern und Großeltern oder unserer Lehrer (wie im illusorischen Realismus des klassischen Gesellschaftsromans) als Repräsentanten einer Klasse oder Schicht meinen, in welchen alle Individuen dieser begrifflichen Mengen enthalten sind. Wir nennen die Namen der Eltern und der Lehrer, doch diese Namen sind wie unser eigener Name Knoten in den narrativen Fäden, die sich von ihnen aus ins unabsehbare Wirrwarr und Knäuel anderer Geschichten fortspinnen.

Geschichten, die scheinbar von allen Vertretern einer Gattung erzählen, wie die Ursprungsmythen der Aborigines und Indianer, das platonische Höhlengleichnis, die biblische Genesis oder die Rahmenerzählung der europäischen Aufklärung („Alle Menschen sind …“) betrachten wir als alternative Erzählungen, die wir wie Variationen eines Themas in der Musik goutieren und wie diese nach ästhetischen Kriterien des Reichtums der literarischen Erfindung oder der angewandten Technik bildlichen Sprachgebrauchs beurteilen.

Denn wir reden und handeln im Zwielicht der Welt nicht mehr mit dem Anspruch, daß alle so reden und handeln sollen wie wir selbst oder daß wir so reden und handeln, wie wir es gemäß einer universalen Regel von allen anderen erwarten. Das aber heißt in der Tat, daß wir auch den allgemeinen Begriff der Moral wie vorjähriges Laub aus dem Garten der natürlichen Sprache auskehren. Freilich können wir demgemäß Handlungen von Zeitgenossen, die wir als Zumutungen und Übergriffe empfinden, nicht mit dem Hinweis oder Argument anfechten, daß sie einem moralisch bornierten oder degenerierten Verständnis entspringen, das der universalen Regel oder dem Allgemeinbegriff der Moral verbotswidrig oder auf inkonsistente Weise widerspreche. Wir lassen demnach die Hoffnung fahren, den Handlungsanspruch anderer mittels Rekurs auf den moralischen Allgemeinbegriff der Aufklärung („Alle Menschen sollen …“) argumentativ zu entkräften. Wir können uns der mißliebigen Vertreter uns unzuträglicher moralischer Ansprüche nur erwehren, indem wir uns von ihnen oder sie von uns fernhalten.

Wenn wir nicht mehr von einem allgemeinen Begriff des Menschen oder der Moral ausgehen, können wir andere, die unsere Sicht der Dinge nicht teilen oder ablehnen, nicht durch noch so ausgeklügelte Argumente überzeugen wollen, wie im übrigen die Lebenserfahrung hinlänglich und leidvoll bestätigt. Wir könnten den schweren Jungen, die garstige Megäre der Menschheitsverbrüderung, die holde Fee der Allbeglückung oder den religiösen Fanatiker vielleicht mittels erhellender, amüsanter oder pfiffiger Beispiele pädagogisch traktieren und zu bekehren suchen, es einmal anders zu sehen und einmal anders zu probieren. Aber dazu ist uns die kostbare Zeit zu schade. Lassen wir also in aller Seelenruhe die Don Quijotes der x-ten Auflage der globalen Aufklärung die zur Hauptsendezeit ausgestrahlte Komödie weiterspielen, die gezückte Lanze der moralischen Entrüstung noch dem letzten Hinterwäldler ins widerborstige Sitzfleisch bohren zu wollen.

 

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