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Philosophische Konzepte: Stimmung

27.11.2017

Die Fühlungnahme der Witterung verleiht der menschlichen Seele ihre primären Stimmungen.

Wenn das Wetter drückend ist, die Luft schwül, kein Wind geht, kein Wind kommt auf, der Himmel hängt niedrig mit schweflig-schmutzigen Wolken, zwischen denen es dann und wann, doch halbherzig wetterleuchtet, dann fühlen wir eine Beengung und Beklemmung im Innern, als läge uns ein Stein auf der Brust, aber er läßt sich nicht greifen und wegstoßen.

Wenn es regnet und wir liegen im Dämmerlicht und hören, wie es tröpfelt und rinnt oder wie aus Eimern schüttet, werden oft tiefe Schichten des Fühlens und der Erinnerung berührt, die uns unwillkürlich in einen ungeahnten Stimmungsraum versetzen. Oft scheint er uns erfüllt vom Wehen der grauen Luft einer süßen Traurigkeit, wobei wir nicht wissen, woher sie rührt, wem sie gilt. Wo sind wir, wenn wir, die Augen geschlossen, dem Regen lauschen? Wer sind wir? Als würden wir mit dem aufprasselnden und verklingenden Geräusch der Tropfen entstehen und vergehen. Dem Treiben des Tages entronnen, sind uns die Vorhaben für morgen und übermorgen aus der Hand geschlagen, das Gewicht und der helle Umriß des Gewesenen ins Diffuse und Unwirkliche aufgelöst, und wir versinken in einen Schwebezustand zwischen Wachsein und Schlaf, Hiersein und Nirgendsein.

Wandern wir im Schnee, zerstäubt unsere Gegenwart mit den wehenden Flocken, die Spitzen der Lust und des Willens brechen ab, die Unebenheiten des Abscheus und Widersinns werden geglättet, wie die Unebenheiten der Landschaft unter den weißen Laken des Schnees gemildert und geründet werden. Schauen wir aus dem Fenster auf die weiße Pracht, ergreift uns mit dem heimlichen Funkeln der Kristalle und dem gedämpften und verschluckten Laut des Daseins die Stille, die uns wie das weiche Polster den Ast mit schwerelosem Schlummer umhüllt.

Stimmungen sind uns die elementaren Medien des Erlebens. Dazu zählen vorzüglich die Stimmungen des Wetters und des Lichts, wie das blendende Licht des Sommermorgens, das dämmernde Abendlicht oder das Zwielicht, gewiß nicht minder Regen und Sonnenschein, Wind und Sturm, Schnee und Tauwetter. Tageszeiten vom Morgen über den Mittag bis zur Dämmerung und der Nacht bringen uns ihre und unsere Stimmungen (wer wollte hier die Grenze ziehen) genauso mit wie die Jahreszeiten und die Fülle ihrer lebendigen Erscheinungen, mit Blüten und Düften, Farben und Gestalten vom Gras bis zur Wolke, Hitze, Feuchtigkeit, Schwüle oder Frost.

Sind die Luft, das Zwielicht, die Dämmerung, die Stille ein Ding oder ein Ereignis, ist der Wind, gar der ersehnte kühlende, erfrischende, ein Objekt der Wahrnehmung, ist die drückende Atmosphäre eine primäre oder sekundäre Qualität? Diese und andere eingeübten philosophischen Fragebemühungen, die wir an die Witterung und alle Situationen richten sollen, in denen wir eigentümlich gestimmt sind, gehen an dem Phänomen, an dem uns gelegen ist, eben der Stimmung, geradewegs vorbei.

Das Schattenspiel, von sanft bewegten Wellen des Spätsommerlichts auf die Gardine geworfen, das Schattenspiel der im Winde tanzenden Zweige an der Wand, das Flackern des Kerzenscheins oder die Scheinwerferkegel, die an der nächtlichen Wohnung vorbeirauschende Autos über die Zimmerdecke streifen, all dies vermag uns in eine Stimmung melancholischer Versunkenheit zu tauchen, in der wir gleichsam in eine Zwischen- und Zwitterwelt hell zitternder Rätsel geraten.

Stimmungen sind Evokationen, sie werden uns erweckt oder steigen in uns empor, doch werden sie nicht gemacht oder fingiert. Sie sind keine Produkte der Phantasie, auch wenn sie mit Phantasien einhergehen. Wir müssen für ihre Aufnahme bereit sein, sie können uns nicht aufgenötigt oder eingeimpft werden, und es fällt schwer, sie von uns abzuschütteln.

Im Erlebnis der Stimmung wird uns evident, daß die Scheidelinie zwischen Welt und Selbst, Ding und Seele, Außen und Innen eine künstliche, konstruierte, metaphysische Linie darstellt, die sich in ihrer gleichsam ungegenständlichen und anonymen Atmosphäre ähnlich undramatisch und lautlos auflöst wie die Mythe oder Illusion der in unserem Körper eingepackten, vermummten oder versteckten Seele.

In Stimmungen können Gefühle einsickern und durchscheinen, wie Farbstoffe, die das Wasser mit einem Farbton tingieren, doch wie die Farbe nicht das Wasser, ist die Stimmung nicht das in sie eindringende oder sie mehr oder weniger flüchtig färbende Gefühl. In der heraufziehenden Dämmerung mag uns eine bange, wankelmütige oder verzagte Stimmung überkommen, aber sie ist nicht wie das Gefühl der Angst, Angst des Kindes vor der Dunkelheit, konzentrisch und intentional ausgerichtet.

Fließt goldenes Licht am Morgen ins Zimmer, erleben wir uns in einer gehobenen Stimmung, als wäre mit einemal die graue Patina des gestern und vorgestern Erlebten vom Angesicht der Dinge abgewaschen. Betreten wir den schummrigen Hinterhof mit den dunklen Abfallkübeln, dem umgekippten alten Fahrrad und den vergessenen Wäschestücken auf der durchhängenden Leine, befällt uns eine trübe, fade und gleichsam ranzige Stimmung, die uns wie ein schlechter Geruch noch länger verfolgen mag. Kommen wir in einen hohen lichtdurchfluteten Raum, wo auf Tischen weiße Blüten in silbernen Schalen schwimmen und auf schlanken Leuchtern Kerzen brennen, umfängt uns eine feierliche Stimmung, als hörten wir schon von fern die betörende, graziöse Musik, zu der hier bald zu köstlichem Mahl und nicht weniger köstlichen Plaudereien aufgefordert werden mag.

Der Sonnenschein auf der Haut kann uns mit seiner gütigen Wärme gleichsam wiegen, und wir atmen die gelöste Stimmung mit dem halb bewußten Summen eines kindlichen Lieds oder Gestammels aus. Das eintönig skandierende Geräusch der Unruhe der Uhr oder der sich drehenden Trommel der Waschmaschine wird uns zur einladenden rhythmischen Gebärde, in die wir wippend und nickend einschwingen und einer läßlichen, launischen Stimmung nachgeben, in der wir unwillkürlich-mutwillig an den Bommeln des Kissens zupfen oder zu pfeifen beginnen.

Die Stimmung ist auch das Medium der intimen Gemeinschaft. Ihre Valenz, Tonalität und Färbung treten im Augenblick hervor, da wir uns schüchtern oder bequem nebeneinandersetzen, einander mit Blicken streifen oder berühren, die Augen wie gefährliche Gletscherspalten meiden oder wie das Versprechen erquickender Quellen suchen, die Stimme heben oder dämpfen, die Worte wie Bälle einander zuwerfen oder wie Glut in der Asche aufglimmen lassen.

Im stillen Gang unter hohen Buchen, durch deren dichtes Laub das Licht golden herabrinnt, verspüren wir die geistige Stimmung der feierlichen Stille. Über dem in der Sommerschwüle brütenden Wasser des einsamen Teichs überkommt uns unheimliche Stille. Unter dem milchigen Dunst des Mondlichts, das unseren nächtlichen Pfad wie Schnee bedeckt, erleben wir die Stimmung banger Entrückung.

Die Stimmung ist ebenso das Medium des Gemeinschaftserlebens. Treten wir in einen Raum, in dem schwarzgekleidete Menschen sich zum Abschied von einem verstorbenen Anverwandten und Freund versammelt haben, geht ihre bedrückte Stimmung wie in kommunizierenden Röhren auf uns über, gleichgültig wie nahe wir dem Toten stehen. Der lockeren, aufgeräumten Stimmung einer Faschingsfeier, wo man uns mit Luftschlangen und Tröten neckend empfängt, können wir uns nur durch Flucht entziehen, bevor uns das Kichern und Lallen befeuchteter Kehlen, das Glotzen und Frotzeln bunter Masken in den Bann einer sich überstürzenden Stimmungskaskade zieht. Der Phrenesie der bellenden Zurufe, des über uns rollenden Gejohles und der scharwenzelnden Komödie des ins Megaphon fletschenden charismatischen Einpeitschers einer politischen Versammlung können wir kaum mehr entrinnen, sobald die kollektive Stimmung der apokalyptischen Hetze und des messianischen Jubels auf uns übergegriffen hat.

Wie die Gemütsregung und ihr physiognomischer Ausdruck in einer natürlichen oder sozialen Situation eingebettet sind, begegnet uns die Stimmung als Dichte oder Transparenz, Dunstkreis oder Aura, Kühle oder Schwüle einer die leibhafte Gegenwart umwogenden und umhüllenden Atmosphäre. Sie legt sich, kaum daß er dessen innewird, unwillkürlich auf den Betroffenen, er muß vor ihr fliehen oder sich ihr ergeben, muß sie verscheuchen oder hemmungslos auskosten.

Wir finden in der primitiven, der rhythmischen Schicht, von Dichtung und Musik ein Ausstrahlungsphänomen und wirkmächtiges Kraftfeld zur Erzeugung von Stimmungen mannigfaltigster Art. Die Verankerung oder Sedimentierung der Stimmung erkennen wir in Takt und Metrum, in den musikalischen Vortragsweisen und dem metrisch geführten Vibrieren der dichterischen Stimme, die einem strömenden Wasser gleich sich an harten Fügungen oder jähen Umbrüchen und Enjambements bricht, staut oder beschleunigt überfließt.

Ein Lied, ein Schlager, eine Schnulze weht von einem weißen Ausflugsdampfer herüber, während du in der Dämmerung am Ufer des Rheins stehst und ihm wie einem Phantom längst vergessener Kindheitstage nachblickst. Die abgerissenen Fetzen der Melodie, die an dein Ohr dringen, die sprühenden Girlanden der auf den Wellen spielenden bunten Lichter, das Stampfen des Rades durch den Schaum des dunklen Wassers, all das läßt dich in die träumerische Stimmung einer vagen erotischen Sehnsucht nach tänzerischer Leichtigkeit, fließender Seide, milchig verschwimmender Haut und feuchter Schimmer von Augen sinken, die wie blauschwarze Trauben aus dem Schatten der Reben hervorglänzen, wenn du nur das Laub ein wenig beiseiteschiebst.

 

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