Skip to content

Philosophische Konzepte: Zeichen

12.12.2017

Wir fragen zunächst, woran wir erkennen, daß ein Laut oder ein Bild als Zeichen gemeint ist.

Denn daß ein Duft oder ein Geschmack uns als Zeichenträger vorschweben könnte, scheinen wir von vornherein oder intuitiv auszuschließen. Warum, könnte man fragen? Das hat systematische und rein praktische Gründe, können wir doch auch bei einer genügend reichen Skala von Duftnoten diese nicht nach Belieben kontrollieren und verteilen, geschweige denn zu längeren Sinneinheiten verketten. Wir können nur ein paar Geschmackswerte unterscheiden, nicht genug, daraus eine hinreichend gegliederte Mannigfaltigkeit von Sinnbezügen zu kombinieren.

Doch sind die Blinden nicht in der Lage, bloß mit dem Tastsinn lesen zu lernen? Indes, was sie lesend ertasten, sind keine bildhaften Zeichen, sondern wie in der Brailleschrift distinkte erhabene Punkte, die in systematischer Rasterung angeordnet werden und wie die diskreten Lautzeichen der gesprochenen und geschriebenen Sprache jeweils einen Buchstaben- oder Zahlenwert haben. Damit erfüllen sie auf der Ebene des Tastsinns die grammatischen Anforderungen an Gliederungs- und Verkettungsmöglichkeiten wie die distinkten Laute und Buchstaben auf der Ebene des Hörbaren und Sichtbaren.

Gewöhnlich nehmen wir die Dinge so auf und so hin, wie sie sind. Wir schauen aus dem Fenster und sehen, daß es schneit, daß Kinder mit Schulranzen auf dem Weg zur Schule rennen oder daß dort unser Freund Walter verabredungsgemäß auf unser Haus zumarschiert.

Wenn wir hören, daß eine altmodische Schelle ertönt und jemand laut „Kartoffeln, neue Kartoffeln!“ ruft, wissen wir, daß wie allwöchentlich um diese Jahreszeit der Händler mit seinem Fuhrwerk unterwegs ist und seine Ware feilbietet. Die Schelle ertönt nicht, weil jemand sie schüttelt, um sich an ihrem Klang zu ergötzen, sondern weil jemand mittels des Klangs eine Mitteilung machen möchte, nämlich kundtun, daß er nunmehr in der Nähe ist. Zu welchem Zweck er unterwegs ist, teilt er mit der Anpreisung der käuflichen Ware mit, wodurch er bei den Anwohnern ihrerseits die Absicht hervorrufen will, seine Kartoffeln zu kaufen.

Der Hund wird durch das Ertönen der lauten Schelle vielleicht erschreckt und schlägt an. Er nimmt das Geräusch nicht anders wahr als den Krach von Motorlärm oder das Kreischen einer Säge, worauf er ähnlich unwirsch reagieren mag. Indes erkennt er im Klang der Schelle nicht die bewußte Mitteilung. Er erkennt nicht und weiß nicht, daß der Klang als Zeichen gemeint ist, und er erkennt nicht, wofür dieses Zeichen steht.

Die Fähigkeit, aus der chaotischen Mannigfaltigkeit von Geräuschen eine bestimmte Lautgestalt als Zeichen zu erkennen, nennen wir diskriminatorische Fähigkeit.

Wenn der Hund die gewohnten Schritte seines nach Hause kommenden Herrchens auf der Treppe hört, wird er die Ohren spitzen und dann freudig mit dem Schwanz wedelnd an der Wohnungstür auf- und abspringen, weil er weiß, daß sein Herrchen gleich die Türschwelle überschreitet. Natürlich nimmt er das Geräusch der Schritte nicht als Zeichen für die Ankunft seines Besitzers wahr. Der Hundebesitzer teilt dem Hund mit dem Geräusch, das seine Schritte nun einmal hervorrufen, nichts mit. Es löst bei seinem tierischen Freund eine typische Reaktion aus, nämlich die Ankunft seines Besitzers zu erwarten. Dieser Auslöser gleicht der Klingel, auf die der Psychologe Pawlow das Verhalten seiner Versuchshunde konditioniert hatte, wenn sie erwarteten, daß es gleich etwas zu fressen gebe. Diese Erwartung zeigte sich daran, daß sie Speichel absonderten, noch bevor sie den leckeren Happen vor Augen hatten.

Wir unterscheiden demgemäß echte Zeichen von Reizen und Signalen, wobei Reize eine unwillkürliche Verhaltensreaktion wie Ekel vor faulem Fleisch und Signale eine konditionierte Verhaltensreaktion wie den Speichelfluß der Pawlowschen Hunde auslösen, während Zeichen nur als solche diskriminiert und beantwortet werden können, wenn die mit ihnen verfolgte Mitteilungsabsicht erkannt worden ist. Naturgemäß zählen daher auch Verkehrsschilder und Signale wie Glockenläuten, Hupen, Winken oder das einem Regelkanon entsprechende Schwenken von Fahnen zu den Zeichen.

Daran erkennen wir zweierlei: Zum einen unterscheidet sich die diskriminatorische Fähigkeit, ein Zeichen zu erkennen, grundlegend von der verhaltenstypischen Reaktion oder dem konditionierten Reflex, der durch ein bestimmtes Signal ausgelöst wird. Zum anderen ist es charakteristisch oder konstitutiv für das Zeichen, daß es als solches gemeint sein muß. Anders gesagt: Die Absicht dessen, der das Zeichen gibt, gehört zum Wesen des Zeichens und des Zeichengebrauchs. So ist das Geräusch der Schritte auf der Treppe kein Zeichen, weil es nicht auf die Absicht des Heimkehrenden zurückgeht, um damit seine nahe Ankunft mitzuteilen. Vielmehr ist das Geräusch der Schritte eine unwillkürliche oder unbeabsichtigte Folge der Tatsache, daß jemand die Treppe hochgeht.

Daraus schließen wir, daß es keine kausale Theorie des Zeichens geben kann, wie es eine kausale Erklärung für die typische Verhaltensreaktion auf einen Reiz oder ein Anzeichen gibt, wie der Rauch ein kausal bedingtes Anzeichen für das Feuer darstellt, auch wenn die Pfadfinder, die es entzündet haben, nicht beabsichtigt haben sollten, Rauchzeichen zu geben.

Zeichen im eigentlichen und vollen Wortsinne ist immer das Zeichen des Subjekts, seine primäre Bedeutung ist die Veranschaulichung der ursprünglichen Indikation des subjektiven Lebens:

Ich bin jetzt hier.

Der Gebrauch der Schelle dient dem fliegenden Händler zu der Mitteilung: „Ich bin jetzt hier!“ Die mit Farbe markierten Handflächen und auf den Stein gepreßten Finger des frühen Menschen in den steinzeitlichen Höhlen dienten als Signaturen und sagen uns: „Wir waren hier!“

Die zeichenhafte Indikation des „ich, jetzt, hier“ ist ein Wink, ein Anruf oder eine Frage, ob dort jetzt wer ist, der den Wink wahrnimmt, den Anruf hört, die Frage beantwortet. Somit ist das erste oder primordiale Zeichen der Keim und Ursprung eines Zwiegesprächs, eines Dialogs.

Das Zeichen ist kein Ausdruck oder Bild einer Innerlichkeit, eines mentalen Zustands oder einer Vorstellung, und es zu erkennen bedeutet nicht, einen lautlichen oder figurativen Ausdruck auf einen mentalen Zustand zurückzuführen oder ein Bild in eine Vorstellung zu übersetzen. Das Schellengeläut ist kein Bild des mentalen Zustands oder einer mentalen Vorstellung des fliegenden Händlers – was immer er sich vorstellen mag, wenn er die Schelle läutet, oder auch wenn er sich gar nichts dabei denkt, wir verstehen die Absicht unmittelbar, der sein Schellengeläute dient, und damit dessen Bedeutung, nämlich die Anwesenheit des Läutenden mitzuteilen.

Zeichen können wie die Zeichen der frühen Bilderschriften Bilder, Abbreviaturen oder Andeutungen von Gegenständen oder Sachverhalten sein, so ist auch das abstrahierte Bild auf dem Verkehrsschild, das einen Abhang darstellt, an dem Steine herabstürzen, ein Zeichen, das sich nur in seinem intentionalen Kontext erschließt, nämlich die Absicht auszudrücken, den Verkehrsteilnehmer vor drohendem Steinschlag zu warnen.

Das prachtvolle Schwungrad des Pfaus, das er in der Balz zeigt, ist kein Zeichen, das der Vogel gebraucht, um den weiblichen Vögeln eindeutige Absichten zu bekunden, sondern ein Element oder Bestandteil der Balz selbst. Der Pfau entfaltet sein Rad unwillkürlich, er könnte nicht, weil er schlechte Laune hat oder ihm das eine oder andere Weibchen mißfällt, seine Werbung vorläufig zurückhalten oder die Absicht hegen, sie bei anderer Gelegenheit nachzuholen. Ebenso ist der schrille Pfiff des Murmeltiers, das es angesichts der durch einen Greifvogel drohenden Gefahr ausstößt, kein Zeichen, das es mit der Absicht gebraucht, seine Verwandten zu warnen, sondern selbst ein Element oder Bestandteil der typischen Verhaltensreaktion, die durch eine nahe Bedrohung als ihre Reizquelle ausgelöst wird. Das Murmeltier könnte nicht die Absicht hegen, sich selbst in Sicherheit zu bringen, die Gefahr aber auf hinterlistige Weise oder böswillig nicht anzuzeigen, weil es auf seine Verwandten im Moment schlecht zu sprechen ist oder ihnen ein Schnippchen schlagen möchte.

Was wir freien Willen nennen, steht demnach mit dem Gebrauch von Zeichen oder dem semiotischen Handeln in einem internen Zusammenhang. Der freie Wille drückt sich im Zeichengebrauch beispielsweise darin aus, daß wir unsere wahren Absichten mittels zweideutiger Zeichen verschleiern oder den Adressaten durch unangemessene Zeichen in die Irre führen oder belügen können.

Bedeutungsvoll ist die Beobachtung, daß wir uns im Ganzen oder cum grano salis NICHT selbst belügen können, denn sonst müßten wir konsistenterweise sagen können:

Ich bin jetzt nicht hier.

Doch das können wir nicht, denn sagen wir es, geben wir damit ein eindeutiges Zeichen für das Gegenteil des Ausgesagten – eine echte Antinomie.

Ein Schild, auf dem ein Paar schwarze Fußsohlen abgebildet sind, die ein roter Strich durchquert, ist ein Verbotsschild und besagt, daß das Betreten des Orts, der sich hinter dem Schild befindet, nicht erlaubt ist. Es bedeutet dagegen nicht oder spricht nicht den bestehenden Sachverhalt aus, daß an diesem Ort niemand herumläuft.

Es ist von hoher Relevanz für unseren Gebrauch und unser Verständnis der Zeichen, daß wir Negationen und negierte Sachverhalte weder mittels Klängen und Geräuschen noch mittels Bildern eindeutig darstellen können. Der fliegende Händler könnte nicht negativ oder verneinend schellen oder mit akustischen Mitteln beispielsweise kundtun, daß er heute nichts zu verkaufen habe. Es sei denn es gelte die Verabredung: zweimal lang, einmal kurz – doch wäre diese Konvention eine artikulierte oder grammatische Gliederung der Lautkundgabe, die nicht nur ihr Vorbild in der sinnträchtigen Gliederung unserer Lautsprache hätte, sondern diese allererst voraussetzte. Denn wie anders als durch mündliche Abmachung oder schriftliche Mitteilung könnte der Händler seine komplexe Verlautbarung als Regel aufstellen?

Mit dem Durchstreichen eines Bilds geraten wir leicht wieder in Inkonsistenzen. Würde der frühe Mensch die Signatur seiner Hand in der Absicht durchgestrichen haben, um wahrheitswidrig oder lügnerisch vorzugeben, daß er nicht an Ort und Stelle gewesen sei, würde das Zeichen seiner Absicht zuwiderlaufen und er sich selbst widersprechen. Wiederum eine echte Antinomie.

Diese Beobachtung führt uns zu der Einsicht, daß wir Wahres und Falsches nur mittels einer grammatischen Struktur bezeichnen können. Dazu benötigen wir mindestens ein Laut- oder Schriftzeichen als Zeichen für einen Sachverhalt und ein Laut- oder Schriftzeichen für die Negation: nicht p. Denn nur so können wir die Gleichung ausdrücken:

p = nicht (nicht-p)

Um auf die Tatsache hinzuweisen, daß an einem Ort keiner raucht, genügt nicht das Schild mit dem Bild einer Zigarette, die von einer roten Linie durchgestrichen ist, denn dieses Verbotsschild gibt uns nur den Hinweis, daß hier nicht geraucht werden SOLL. Das Verbot könnte ja mißachtet werden. Wir können die Tatsache, daß es niemanden gibt, der in einem bestimmten Raum raucht, nicht durch ein Bild wiedergeben. Nur ein grammatisch artikuliertes Zeichen, das heißt eine mehrgliedrige, mindestens zweigliedrige, Zeichenkette, kann einen negativen Sachverhalt als bestehenden Sachverhalt ausdrücken und behaupten.

Mithilfe der Negation können wir unseren gedanklichen Spielraum ausdehnen, indem wir beispielsweise sagen:

Hätte ich mein Versprechen nicht gebrochen, wären wir Freunde geblieben.
Er könnte nicht mit mir befreundet bleiben, wenn ich mein Versprechen nicht hielte.
Wenn es nicht regnet, gehen wir spazieren.
Wenn es regnet, gehen wir nicht spazieren.

Wir können auch den originären sprachlichen Ausdruck unseres subjektiven Lebens mittels kontrafaktischer oder hypothetischer Bildung von Konditionalen modulieren und variieren:

Wenn ich jetzt nicht hier wäre …
Wenn ich jetzt dort (woanders) wäre …
Wenn nicht ich (sondern ein anderer) jetzt hier wäre …

Auf diese Weise üben wir unseren Möglichkeitssinn und erproben und entfalten unsere Einbildungskraft.

Nur wenn wir das Negationszeichen verwenden können, befinden wir uns im eigentlichen Raum und Kontext des sprachlichen Zeichengebrauchs. Wie wir sahen, können wir mittels Bildern oder Zeichnungen (wenn es sich nicht um das Schriftbild handelt) keine negativen Sachverhalte darstellen. Daraus schließen wir, daß wir besser nicht von der Kunst als Sprache oder von der Sprache der Kunst im strengen Sinne reden sollten. Ähnliches gilt mutatis mutandis von der Musik: Mit Akkorden und Melodien läßt sich nicht darstellen, daß eine bestimmte Tonfolge gleichsam eingeklammert ist und das mit ihr Ausgedrückte nicht gilt. Daraus schließen wir, daß wir besser nicht von der Musik als Sprache oder von der Sprache der Musik im strengen Sinne reden sollten.

Dies gilt im Grunde auch für die Dichtung, denn auch mit ihr betreten wir eine Erfahrungsdimension, in der wir gleichsam Zeichen und Winke ins Irreale, Nichtwirkliche, Abwesende geben und empfangen. Nehmen wir die Hymnen Hölderlins auf die Flüsse Rhein, Neckar oder Donau. Wo fließen sie, wo entspringen und münden sie? Nicht an den Orten, die wir auf der Landkarte identifizieren können. Die gedichtete Landschaft ist nicht die reale, von ihr borgt sie nur die uns vertrauten Zeichen und Bezeichnungen, aber entwirklicht oder entkernt sie und füllt die leeren Hülsen mit einer seltsam berauschenden Substanz, entrückt sie mittels einer Transposition oder Transfiguration in eine imaginäre und mythische Landschaft.

Lesen wir die Hymnen, werden auch wir gleichsam entwirklicht oder entkernt und die leere Hülse unseres vertrauten Ich von seltsam-fremden Anmutungen und Atmosphären erfüllt, werden wir in unwirkliche Beleuchtungen getaucht. Die semantische Ursituation des „ich, jetzt, hier“ wird in den Konditionalis und Irrealis transponiert und transfiguriert, als wären wir jetzt im Schnee der Alpen gewandelt und sogleich im blendenden Licht über den Inseln der Ägäis geschwebt. Die auf keine realen Gegenstände und Ereignisse bezüglichen dichterischen Zeichen umhüllen uns wie das Wasser den Taucher, der über sich den kalten und unheimlichen Glanz einer fremdartigen Sonne erblickt und unter sich ein von exotischen Fischen und transparenten Quallen reflektiertes Korallenlicht, dessen Herkunft und Sinn er nicht zu deuten vermag.

Sagen wir es so: In der Dichtung erfahren die Zeichen und ihr Gebrauch in der Alltagssprache eine manchmal unmerkliche, öfter aber einschneidende Deformation, Transposition oder Entrückung ihrer ursprünglichen semantischen Rolle. Die ästhetische Funktion dieser Einschnitte und Verformungen der normalsprachlichen Zeichen und ihrer untrüglichen Verwendung deutet Aristoteles an, wenn er davon spricht, die Dichtung strebe nicht die Darstellung oder Mimesis des Wirklichen, sondern die Darstellung des Möglichen an, nicht die zufällig uns begegnende Erfahrungswelt, wie sie aus der Lotterie des Schicksals aus allen möglichen Konstellationen von Dingen und Ereignissen herausgemendelt und herausgesiebt worden ist, sondern gleichsam das unwirkliche Zwischenreich der Potentialität.

Wir erkennen im Werk Kafkas das Zwielicht und die Zweideutigkeit dieses sprachlichen Zwischen- und Schattenreiches. So sehen wir, wie der Autor des Romans Der Prozeß Zweideutigkeit zum Prinzip der Rede seiner Protagonisten und der gesamten Darstellung macht, auch und gerade indem er die normalsprachliche Rolle der Negation gleichsam deformiert und entstellt. Die Zeichen „(ist) nicht“, „kein, „nein“ bedeuten in Kafkas poetologischer Semantik und dichterischer Sprachversion nicht das Gegenteil von „ist“, „jeder“ und „ja“, sondern „(ist) scheinbar“, „mehrere“ und „vielleicht“. In seiner Unterredung mit dem Gerichtsmaler Titorelli, der von einem nicht individualisierten Kollektiv junger Mädchen wie von einem Nebel umgeben ist, aus dem man Flüstern vernimmt oder Kreischen, will der Angeklagte Josef K. die Chancen ausloten, die ihm der Kontakt mit dieser Maske des Gerichts zu eröffnen verspricht. Dabei erfährt K. zu seinem Erstaunen, daß der Maler vorgibt, ihn möglicherweise vor einer Verurteilung bewahren zu können. Doch bedeutet in der zweideutigen Sprache dieser aus dem Alltag der Zeichen herausgefallenen Welt nicht verurteilt zu werden nicht, daß K. die Hoffnung hegen dürfte, freigesprochen zu werden. Die Negation des verdammenden Urteils ist, wie Titorelli in einer den Kanzleistil parodierenden rabulistischen Manier klarstellt, nicht der Freispruch, sondern der scheinbare Freispruch oder die ewige Verschleppung des endgültigen Urteils: Der Angeklagte bleibt im Dunstkreis des Gerichts befangen, er wird wohl freigelassen, muß aber damit rechnen, schon morgen oder übermorgen oder irgendwann wieder in Haft genommen zu werden. Verschleppt sich aber das Gerichtsverfahren, so bleibt K. auch auf freiem Fuß immer dem Gericht überantwortet, denn seine Akten schweben zwischen den niederen Instanzen und dem allen unzugänglichen obersten Gericht auf und ab. Kann man aber einer Instanz wie dem immerdar unzugänglichen, unsichtbaren, wesenlosen obersten Gericht überhaupt Existenz in dem normalsprachlichen Sinn zusprechen, in dem wir dem Träger wesentlicher Eigenschaften Existenz zusprechen?

Man hat geglaubt, Kafkas Prozeß entweder theologisch deuten zu können als Bild des in eine dämonische Traum- und Schattenwelt gefallenen Menschen oder soziologisch als Bild des in der unheimlichen Maschinerie des totalen Staates entfremdeten Menschen. Beide Deutungen stochern gleichsam mit allegorischen Stöcken im Nebel des stofflich Aufdringlichen, aber Opaken herum. Sie verfehlen die semantische Ebene des eigentümlichen poetischen Gebrauchs der Zeichen.

Wir geben dafür noch einen abschließenden Hinweis: Der wie ein Vogelschwarm ungreifbare Chor der Mädchen, die den Maler (als eine Federn und Flaum um sich streuende, gackernde Karikatur auf das Klischee der ausschweifenden Künstlerexistenz) umgeben, sind aus der semantischen Ursituation der Subjektanzeige „Ich bin jetzt hier“ ausgebrochen. Denn keine hat ein eigenes Leben, ein eigenes Gesicht, eine eigene Zunge, um auf diese Weise ihren existentiellen Standort angeben zu können. Jede verkörpert alle, keine steht für sich selbst. Die Mädchen sind nicht vollständig individualisiert und leiblich vereinzelt oder subjektiv verleiblicht, sie sind immer mehrere und wie ein in die Echos der Umgebung aufgelöstes Für-sich-Sein.

 

 

Comments are closed.

Top