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Rituelle Handlungen – Begrüßung

17.11.2018

Zwei Menschen gehen aufeinander zu und reichen sich die Hand, während sie ihre Hände schütteln, schauen sie sich lächelnd in die Augen.

Wenn wir diese (und ähnliche) Situationen genau beschreiben, können wir die Bedeutung des Begriffs einer rituellen Handlung verstehen.

Wir bemerken, daß dieselben Leute dieselbe Handlung des Händeschüttelns bei der Begrüßung und der Verabschiedung vollziehen. Wir sagen, einmal eröffnet die symbolische Handlung eine Situation (der Begegnung, des Gesprächs), einmal schließt sie die Situation ab.

Wir bemerken, daß die rituelle Eröffnung einer sozialen Situation einer sprachlichen Metapher ähnelt, insofern sie durch gleichsinnige oder gleichbedeutende Handlungen oder symbolische Sprechakte ersetzt werden kann. Ein Mann kann zur Begrüßung vor einem anderen den Hut ziehen (wenn Männer noch Hüte trügen) oder ein Mann kann einer Dame (wenn Frauen noch Damen wären und für ritterliche Gesten empfänglich) die Hand küssen.

Der Mann, der in der prallen Sonne seinen Hut lüftet, um sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn zu wischen, hat nichts Metaphorisches oder Rituelles im Sinn: Seine Handlung ist funktional bestimmt.

Die zeremonielle und rituelle Eröffnung einer Situation ist das Wahrnehmen, Ausloten und Überschreiten der sozialen Grenze, die durch den sozialen Status und die soziale Rolle der Beteiligten definiert wird.

Der Gastgeber ist gleichsam der Zeremonienmeister und stellt die eintreffenden Gäste einander vor, wobei dem Ehrengast oder den sozial höherstehenden Personen der Vortritt gebührt und eingeräumt wird: Sie werden als erste begrüßt und als letzte verabschiedet.

Das Wahrnehmen, Ausloten und Überschreiten sozialer Grenzen ist stets mit mehr oder weniger unterschwelligen Gefahren, Bedrohungen und Ängsten verknüpft, dies zeigt sich an den Sanktionen und Tabus, mit denen die rituellen Handlungen ihrer Überschreitung belegt zu werden pflegen.

Demjenigen, der sich uns gegenüber verleumderisch, betrügerisch oder sonstwie feindlich betragen hat, pflegen wir den Handschlag zu verweigern.

Mit der Verweigerung des Handschlags drücken wir ein Gefühl und eine Haltung der Angst und Bedrohung, des Mißtrauens oder Abscheus aus, zugleich können wir damit den Ausschluß des Betroffenen aus der von uns gebilligten oder erwünschten sozialen Nähe nicht nur bekunden, sondern bewirken.

Die Hand zu reichen, den Hut zu lüften, die Wangen oder die Hand zu küssen sind Weisen des Redens, ohne daß wir dafür den Mund auftun müßten.

Mit der Abgrenzung und Exklusivität des Kreises von Personen, die wir bestimmter ritueller und zeremonieller Formen der Bewillkommnung und Begrüßung für wert erachten, umgrenzen wir einen Mikrokosmos sozialer Gemeinschaft.

Es ist augenscheinlich, daß die rituellen Formen der Vergemeinschaftung auf biologischer Verwandtschaft fußen und sich aus dem intimen Kreis der Blutsverwandten nach und nach auf fernere Bereiche ausdehnen.

Aufgrund der Öffnung der Situation mittels ritueller Formen der Begrüßung lassen wir andere in unsere Nähe, und aus dieser Gunst nähren sich der soziale Rohstoff und das symbolische Kapital der Anerkennung.

Die heikelste, von uns unter allen Umständen mit Argusaugen beobachtete Grenze ist die osmotisch fluktuierende Oberfläche unseres eigenen Leibs. So scheuen wir alle Formen unvorhersehbarer Berührungen und Annäherungen und gestatten nur solchen Personen die Annäherung an unser zerbrechliches Gehäuse, denen wir vertrauen oder zumindest mit Fug und Recht unterstellen, keine feindseligen Absichten hegen, unser Wohlbefinden zu verstören und unsere Haut zu ritzen. Auf der anderen Seite drängt uns das natürliche Bedürfnis nach sanfter Umhüllung, Geborgenheit und intimer Entlastung und Entspannung von der Daseinsangst in die Nähe vertrauenswürdiger Freunde und geliebter Menschen.

Rituelle Handlungen wie die Begrüßung stehen im Kreuzungs- und Verdichtungspunkt dieser widerstrebenden, doch unaustilgbaren Tendenzen des menschlichen Lebens, sie müssen diese ausloten, austarieren und zumindest vorläufig zu einem fragilen Ausgleich bringen.

Wie instabil solch ein Gleichgewicht ist, zeigt der Gebrauch des Wortes als Waffe der Distanznahme. So wehrt sich der physisch oder soziale Schwächere, mag er von dem Überlegenen noch so unbefangen begrüßt worden sein, indem ihm gewisse ironische oder despektierliche und herabsetzende Bemerkungen während ihres Gesprächs entschlüpfen oder gekonnt lanciert werden, um sich auf diese Weise symbolisch seiner Haut zu wehren oder den nicht ganz geheuren Gast auf Abstand zu halten.

Wir kennen die zeremoniell ausgefeilten Begrüßungsrituale der Vögel wie der Störche, Kraniche und Reiher, die der Identifikation und Bewillkommnung des Geschlechtspartners und der Befestigung der Paarbindung dienen. Sie haben allerdings nicht jenen sprachförmigen Charakter der Begrüßungsrituale des Menschen, weil sie starr auf den jeweiligen Partner programmiert und nicht flexibel und intentional wie bei Menschen üblich auf die Genossen der jeweiligen Sippe oder des Schwarms übertragbar sind.

Die Ritualformen menschlichen Handelns variieren wie Idiolekte und Dialekte von Schicht zu Schicht im Sinne der sozialen Stratifikation und von Epoche zu Epoche im Sinne des sprachlichen Wandels. Die Begrüßungsrituale, die wir auf Stelen und Bildnissen des Altertums am Thronsessel des ägyptischen Pharaos oder des persischen Großkönigs und in den Basiliken und Audienzsälen der römisch-deutschen Kaiser wie auf den prachtvoll illuminierten Handschriften des frühen Mittelalters wahrnehmen, sind Ausdruck imperialer Herrschaft und der Devotion der unterworfenen Stämme, Völker und Nationen, die mit Geschenken und Tributzahlungen ihre Aufwartung machen.

Wie symbolisch einzigartig gewichtet ist die Begrüßung Mariens durch den Engel der Verkündigung, wie wir sie reich ausgeleuchtet und farbig ausgedeutet auf den Ikonen des Osten und den Gemälden der Renaissancemeister finden: Wie seltsam die bräutliche Bereitschaft einer Berührung durch das göttliche Wort, das zugleich sich als Taube und Strahl der Empfängnis und als Schwert der mütterlichen Passion darstellt, ohne daß die Magd des Herrn davor zurückschaudert.

Nicht jeder kann und will alle grüßen und nicht jeder kann und will von allen gegrüßt werden, die uniforme Gleichheit und vulgäre Universalität heben den exklusiven sozialen Sinn dieser wie jeder anderen rituellen Handlung auf. Würde ich von allen gegrüßt, welch ein aufdringliches Gewese, müßte ich alle grüßen, welch ein alle Distinktion und allen Charme der Zuvorkommenheit vernebelndes Getue!

Wir können und wollen nicht Hinz und Kunz grüßen und scheuen uns zurecht, dem Schmutzfink, dem Verleumder und dem Übelwollenden die Hand zu reichen.

Wenn wir von dem, an dessen Achtung und Aufmerksamkeit uns viel gelegen ist, von Gruß und Handschlag ausgeschlossen werden, spüren wir schmerzlich, wie uns eine Wurzel symbolischer Teilnahme aus der Mitte unserer Existenz gerissen wird.

Der Entzug und die Verweigerung des Grußes können ans Maß der Verachtung reichen, die wir auch am Niederschlagen des Blicks des einstigen Freundes, Gönners oder Geliebten erfahren.

Die Handreichung kann symbolisch und real am Leben erhalten, und der Blick kann symbolisch und real mit Hoffnung und Zuversicht nähren.

Welche Verwirrung, wenn wir tagträumend oder allzu kurzsichtig einen Unbekannten, in dem wir fälschlich einen Bekannten sehen, grüßen! Wie verstörend, wie beängstigend, wenn uns ein Fremder und gänzlich Unbekannter zudringlich lächelnd die Hand entgegenstreckt!

In der Art der Begrüßung kann sich ähnlich wie in der übertrieben höflichen, einschmeichelnden oder schamlos intimen Briefanrede ein mißlicher, schiefer und falscher Ton einschleichen, der uns verstört und voller Unbehagen zurückläßt.

Die Kunst des Betrügers, Schwindlers und Taschendiebs zeigt sich in der entwaffnenden Form seiner Begrüßung.

Er drückt uns warmherzig die Hand, mit der anderen zieht er unbemerkt die Geldbörse aus der Jacke.

Der den tiefsten Bückling macht – gleich schnellt er wie eine Kobra empor.

Hunde beschnuppern sich, wir müssen an Worten riechen, Schatten hinter Gesten wittern, uns in der Hermeneutik des Mienenspiels üben und bewähren.

Religiöse Verehrung drückt sich im Ritual der Begrüßung der Gottheit vor ihrem Bildnis aus, in dem die Gläubigen ihre Epiphanie gewahren, als habe sie sich soeben zu einer Audienz für die Auserwählten herabgelassen. So mußten die Untertanen der späten römischen Kaiser, die sich haben als Götter verehren lassen, ihr Standbild auf dem Forum grüßen.

Die Opfergabe des Kults ist eine Form des Grußes an den Gott.

Kain fühlte die Verachtung dessen, dem die Entgegennahme seines Grußes und seiner Gabe verweigert wurde, im niedergehenden Rauch der Opferflamme.

Das Spiel der Liebe bleibt unverständlich ohne die Rhetorik der Gruß- und Abschiedsformeln, der Willkommens- und Heimwink-Gesten. Welch hübsche Gaben, welch anmutige Geschenke, die zu den bewährten Requisiten des alten Schauspiels gehören!

Der Rang seiner sozialen Stellung ermächtigt den Würdenträger, die ihn grüßenden oder an einer Audienz teilnehmenden Gäste sitzend zu begrüßen, während die Niederrangigen bei der rituellen Handlung zur Bezeugung ihrer Ehrerbietung zu stehen pflegen.

Dagegen hat Christus den Jüngern die Füße gewaschen, was nach orientalischem Brauch die eingeladenen Gäste gewöhnlich vor der Begrüßungszeremonie taten. Doch hat er sie als Höherrangiger, zwar nach anfänglichem Zögern und Sträuben der Musterschüler, nicht beschämt, sondern paradoxerweise erhöht.

Die Verflechtung von Rangmarkierungen und hierarchischen Distinktionen in die scheinbar einfache rituelle Begrüßungshandlung kann nur auf Kosten des Verblassens ihrer sozialen Wirksamkeit ausgefranst und geglättet werden.

Der Lehrling, der vor dem Meister, der Schüler, der vor dem Lehrer zur Begrüßung nicht aufsteht und seinen Gruß erbötig erwidert, wird von ihm keine Lehre annehmen.

Der dem Zen-Schüler willkommenste Gruß ist der Stock, mit dem der Meister ihn zum Erwachen auf die Schulter schlägt.

Die Begrüßung des Auditoriums durch den Redner eröffnet die soziale Situation, indem sie die Aufmerksamkeit auf denjenigen zieht, dem sie gebührt, falls seine Ausführungen halten, was er ankündigt.

Die pubertäre Neurose äußert sich gern in der Verweigerung des Grüßens; die paranoide Psychose darin, es unmöglich zu machen, gegrüßt zu werden, wenn der Schizophrene glaubt, durch eine entstellende Maske seines Gesichts und Mienenspiels für die Umwelt unerkennbar geworden zu sein.

Das gemeinschaftliche Leben ist nicht nur durch Sprechakte wie das Befehlen, Anweisen, Empfehlen, Fragen oder Versprechen konstituiert, sondern auch durch leiblich ausgeprägte rituelle Handlungen, die das sprachliche Verhalten begleiten oder metaphorisch ersetzen, wie das Aufstehen, Sichverbeugen, Zurückstehen, Händeschütteln, Auf-die-Wange-Küssen oder das Hutlüpfen.

Welche Verwirrung der Geschlechtermoral, wenn einem Mann, der einer Frau zur Begrüßung die Hand küßt oder gar den Vortritt läßt und die Tür öffnet, mit Argwohn begegnet wird, ja ihm niederträchtige Bestrebungen unterstellt werden!

Den Hut vor Nachbars Hund zu lüften scheint uns kein gelungenes Höflichkeitsritual zu sein, weil das Tier in unserer kulturellen Gemeinschaft nicht als Gegenstand von Höflichkeitsbezeigungen und verehrenden Gesten gilt. Wir können uns aber vielleicht kulturelle Umgebungen vorstellen, in denen das anders wäre.

Rituelle Handlungen wie die zeremonielle Begrüßung sind performative Sprechakte, auch wenn sie stumm verlaufen, sie können, wie John L. Austin gezeigt hat, nicht wahr oder falsch, sondern nur angemessen oder unangemessen sein, gelingen oder mißlingen.

Rituelle Handlungen können nicht wie deskriptive Sprechakte als Beschreibungen von mentalen Zuständen aufgefaßt oder verneint werden.

Begrüßungen können mißlingen, wenn der Gegrüßte den Gruß nicht annimmt, sie können von allen möglichen mentalen Zuständen und Gefühlen wie Freude oder Unbehagen, Wohlwollen oder Widerwillen begleitet werden, ohne daß sie mißlängen. Grüßen wir einen Menschen, den wir mit unserem Freund verwechseln, wird der Gruß nicht ungültig und unwahr, sondern verfehlt seinen Sinn oder wird vereitelt.

Die rituelle Handlung der Begrüßung mag ihre Kostüme von Epoche zu Epoche wechseln, doch der sie aufsetzt, der Geist der Gemeinschaft, hält unbeirrbar an ihr fest, solange es Menschen gibt, die sich begegnen und ihre Zugehörigkeit einander symbolisch zum Ausdruck bringen.

 

 

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