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Über das Erkennen von Kunstwerken

28.09.2015

Unser Ausgangspunkt ist nicht die Frage, wie das Verstehen von Kunstwerken funktioniert, also die Frage nach der Fähigkeit, die wir voraussetzen, wenn du mich fragst, ob mir das Gemälde, die Plastik, das Gedicht, die Arie gefalle oder ob ich sie schön finde, sondern darum, herauszufinden, wie wir erkennen, daß ein Gegenstand ein Kunstwerk ist oder nicht ist und worin unsere Zweifel gründen, wenn wir dies nicht klar erkennen können.

Natürliche Gegenstände und Lebewesen sind mehr oder weniger zufällig entstanden oder mehr oder weniger absichtlich gezeugt worden, indes stecken hinter ihrer Gestaltung und ihrem Aussehen, ihrer inneren Organisation und ihren Fähigkeiten keine bewußten Absichten. Dagegen sind Kunstwerke, wie Artefakte überhaupt, künstliche Gegenstände, die zumeist nicht rein zufällig entstanden sind, sondern sich den Absichten und Zwecksetzungen des gestaltenden Menschen verdanken.

Wenn Menschen Menschen zeugen, tun sie dies mehr oder weniger absichtlich, müssen allerdings Gestalt, Fähigkeiten und Charakter ihrer Nachkommen dem Zufallsgenerator der Genmischungen anheimstellen, denen ihre Gameten und ihre Verschmelzung unterliegen.

Wir wissen allerdings, daß Menschen Menschen zeugen, wenn sie zeugen. Wir wissen zumeist nicht, was herauskommt, wenn ein Ingenieur sich ans Reißbrett oder vor den PC setzt, ein Dichter auf seine Tastatur einhämmert, ein Maler die Leinwand traktiert. Aber dennoch gehen wir im allgemeinen davon aus, daß wir schließlich als Ergebnisse und Produkte ihrer Hervorbringungen vom Ingenieur eine Maschine, vom Dichter ein Gedicht und vom Maler ein Bild erwarten können.

Du sagst wohl, du habest in den Kindertagen das letzte Mal auf dem Land eine Nachtigall ihr Lied singen hören, aber du meinst nicht wirklich, daß dieser Vogel oder überhaupt ein Vogel das tut, was du dem Sänger Dietrich Fischer-Dieskau zusprichst, dessen Interpretation der Lieder der Winterreise von Franz Schubert du so oft so gern gehört hast.

Warum sprechen wir beim natürlichen Gesang der Vögel nicht von wirklichem Gesang und wirklicher Musik, auch wenn wir sie wie wirklichen Gesang auf uns wirken lassen können? Wenn Beethoven in seiner 6. Sinfonie, der Pastorale, Naturklänge und auch Vogelgezwitscher imitiert, verwirrt uns dies schließlich nicht den Eindruck der Einheit des Kunstwerks. Der Unterschied zeigt sich an der Tatsache, daß die krächzenden Laute der Krähen, die unseren Ohren weniger schmeicheln, von der Sache oder natürlichen Funktion her nichts anderes sind als die uns schmeichelnden Klänge, die die Nachtigall hervorbringt, die wir mit unseren musikalischen Intuitionen und Gewohnheiten verbinden können. Denn wir identifizieren im Vogelgesang Melodien, die wiederkehren oder variiert werden. Doch würden wir nicht sagen, daß die Amsel, die früh an unserem Fenster singt, heute die Melodie, die wir erwarteten, weil wir sie gestern vernommen haben, um etliche Nuancen variiert hat, um uns mit ihren künstlerischen Neuerungen zu überraschen. Nur in einem Märchen könnten wir dies erwarten und etwa sagen, der Vogel möchte uns mittels der Variation seiner Melodie etwas mitteilen und uns auf ein bevorstehendes erfreuliches oder trauriges Ereignis einstimmen.

Wir bemerken, daß wir Kunstwerke nicht ohne weiteres an äußeren Kriterien ihrer Gestaltung und Wirkung als solche identifizieren können, denn Amsel und Nachtigall bieten uns mit Variationen bestimmter Melodien, die einen bestimmten ästhetisch-emotionalen Eindruck wie den des Erfreulichen oder Traurigen auf uns machen, das, was uns im Prinzip auch in den Liedern Schuberts begegnet.

Wir ziehen die Grenzlinie dort, wo wir auf der einen Seite unwillkürliche oder instinktgesteuerte Lautproduktionen mit ebenso unwillkürlichen und instinktgesteuerten Zwecken wie den der Reviermarkierung oder Anlockung des Geschlechtspartners und auf der anderen Seite absichtsvolle oder intentionale musikalische Hervorbringungen zu diesem oder jenem kulturspezifischen Zweck wie den der Unterhaltung oder der geistlichen Erbauung verorten. Im Falle des Vogelgesangs sprechen wir also im übertragenen Sinne von einem Lied und charakterisieren seine Wirkung dadurch, daß wir Eigenschaften ästhetischer Wirkung, die wir im Umgang mit musikalischen Werken und ihrer Aufführung erfahren und uns angeeignet haben, auf die natürlichen Lautproduktionen übertragen.

Die Intention, als ein Kunstwerk geschaffen worden und als solches gemeint zu sein, scheint uns den Weg zu bahnen, an dessen Ende wir klarer sehen, was es heißt, ein Kunstwerk zu erkennen.

Wir können dem Kunstwerk nicht den Kunstcharakter absprechen, wenn sich außerkünstlerische Absichten und Zwecke an die Herstellung und Verbreitung von Kunstwerken knüpfen: Geistliche Musik wie der Gregorianische Gesang haben nicht nur Kunstwert, sondern dienen in erster Linie der Erbauung und nicht dem reinen Kunstgenuß. Doch der Kunstsinn ist dermaßen großartig in diese geistliche Musik eingeflossen, daß auch Ungläubige den Gesang als solchen genießen mögen. Dasselbe gilt vom ganzen geistlichen Werk Johann Sebastian Bachs. Dagegen möchten wir Werbeanzeigen oder Werbefilmen, die eine Ware anpreisen, den Kunstwert absprechen, auch wenn in ihren Entwurf und ihr Design viel Kunstverstand eingeflossen sein mag. Das Überwiegen des unkünstlerischen Zwecks nimmt uns in diesem Falle gegen den übertriebenen Anspruch derer ein, die sich in den Agenturen Kreative zu nennen pflegen.

Du sagst vielleicht, der aus der Ferne herüberwehende Klang der Kirchenglocken versetze dich wie ein Lied von Franz Schubert in eine kostbar traurige Stimmung, aber du meinst nicht wirklich, daß wir dem Glockenklang die Qualität eines musikalischen Werkes zuschreiben sollten, auch wenn es sich bei Glocken anders als beim Gesang der Vögel um menschliche Artefakte handelt und die einzelnen Glocken bewußt nach reinen Akkorden zueinander gestimmt sein mögen.

Wenn der ängstliche Knabe auf dem Nachhauseweg in den finsteren Gassen ein Lied vor sich hinpfeift, sprechen wir seinem schrägen Getöne nicht die Qualität einer musikalischen Komposition zu, wie wir es bei Werken von Bach und Schubert tun. Wir tun dies aus zwei Gründen: Das Pfeifen des Kindes hat einen eher funktionalen als künstlerischen Sinn, es soll die Angst bannen und nicht Melodien hervorzaubern, die es lohnt, wiederholt oder gar in einer Partitur zum Zweck der Wiederaufführung aufgeschrieben zu werden; und die unbeholfene Lautproduktion weist keine dichte Struktur auf derart, daß wir ihren artifiziellen Charakter gern der Nachahmung oder der Erinnerung anempfehlen würden.

Hier stoßen wir auf den generativen oder zeugenden Kern echter Kunstwerke, den Platon als erotischen Impuls beschrieben und gedeutet hat: Das Kunstlied regt im geneigten Hörer gleichsam die Geburt oder Wiedergeburt seiner Seele an, es regt im zeitgenössischen und zukünftigen Komponisten Möglichkeiten eigener Resonanz und produktiver Stellungnahme an, wie wir es in der Tat bei Brahms oder Schumann sehen können.

Wir erblicken von weitem, ohne die Silben erfassen zu können, ein Blatt, auf dem wenig Text so angeordnet ist, daß jeweils eine Zeile kaum die Hälfte des Blattes füllt und immer vier aufeinanderfolgende Zeilen durch eine Leerzeile abgetrennt sind. Wir neigen aufgrund dieser Wahrnehmung und unserer Erfahrung dazu, von den Zeilen als von Versen und von dem ganzen Text als von einem Gedicht zu sprechen.

Wenn wir allerdings näher hinsehen und konsterniert feststellen müssen, daß es sich bei dem Text um reinen Unsinn oder die Wiedergabe eines Rezepts für Kartoffelpuffer handelt, revidieren wir unser vorschnelles Urteil und reden von Betrug oder bestenfalls von Unfug.

Wenn Kunstwerke ihren Namen einem rein deklatorischen Sprech- oder Zeigeakt verdanken sollen derart, daß jemand ein beliebiges natürliches oder gemachtes Objekt zum Kunstwerk erklärt mit dem Anspruch, es hinfort als solches zu betrachten und zu schätzen, oder ein beliebiges natürliches oder gemachtes Objekt in einem Rahmen zeigt oder ausstellt, der per definitionem einzig Kunstwerken vorbehalten ist, wie in einer Kunstausstellung oder einem Kunstmuseum, sollten wir solche Willkürakte bloßer Deklaration, die den Kunstwert auf den Ausstellungswert des Gezeigten reduzieren und vereinseitigen, ähnlich betrachten wie das Handeln jener Leute, die bei ihrem Vorstellungsgespräch dem Personalchef gefälschte Unterlagen über ihre angeblichen akademischen Titel und sonstige Lorbeeren unterschieben: als Taten von Betrügern und Scharlatanen.

Worin liegt die Schwierigkeit, wenn wir ein Kunstwerk erkennen wollen? Wenn wir als stichhaltiges Kriterium und Kennzeichen für die Tatsache, daß es sich bei dem von uns wahrgenommenen Gebilde um ein Kunstwerk handelt, die Intention des Künstlers angeben, die Absicht, ein Kunstwerk hervorgebracht und es als solches dem Publikum exponiert zu haben, setzen wir offenkundig den Begriff des Kunstwerk voraus.

Wir sagen in Abbreviatur: Kunstwerke sind Objekte, deren Genuß die Person mit all ihren Erinnerungen und Phantasien, kurz die Seele, in ein Gespräch oder in Kommunikation mit sich selbst bringt, ein Gespräch und eine Kommunikation, die nicht den Zweck verfolgt, mit sich zu Rate zu gehen, um zu einer Entscheidung oder einer Handlung vorzustoßen, und die auch nicht den Zweck verfolgt, mit sich zu Rate zu gehen, um sich über die Realität des Wahrgenommen ins Bild zu setzen. Denn wenn wir nach dem Besuch der Oper ins Café gehen, ist der Vorhang auch für die Zwecksetzungen und Absichten unseres Alltags heruntergegangen. Wenn wir das Geschehen auf der Bühne während einer Aufführung des Hamlet gespannt verfolgen, machen wir uns keine Sorgen um den Geisteszustand der Schauspielerin, die die Rolle der Ophelia spielt, denn ihr psychotisches Gebaren ist nicht real, sondern fiktiv.

Wir sagen abgekürzt: Das Kunstwerk erweist sich als solches, wenn es im Erinnerungs- und Phanatasieraum der Seele derart resoniert, daß sie sich selbst inniger und klarer versteht, als sei sie mit neuen Ausdruckmitteln und sprachlichen Wendungen, mit frischen Anschauungen und treffenden Metaphern begabt und beschenkt worden, die ihre Selbstverständigung weiter ins Lichte oder auch ins Dunkle vordringen lassen.

Kunstwerke sind demnach eine Art der Mitteilung und ähneln insofern den Sprechhandlungen, mit denen es uns gelingt, anderen eine Information zu übermitteln, eine Frage zu stellen, sie zu einer Haltung oder zielgerichteten Bewegung aufzufordern oder sie die Größe, Qualität und Intensität unserer Gefühlsregungen und Stimmungen spüren zu lassen. All dies trifft auf Kunstwerke zu, und dennoch gehen wir nicht nach einer Aufführung der Johannespassion oder der Winterreise oder des Hamlet aus dem Konzertsaal oder Theater gleichsam mit einem Bündel von Informationen in der Tasche, einer bestimmten an uns gerichteten Frage oder Aufforderung nach Hause, nicht beschwingt oder niedergedrückt von einem spezifischen Gefühlsinhalt wie Trauer oder Freude, die uns die Interpretation übermittelt hätte.

Es handelt sich vielmehr um eine indirekte Form der Mitteilung, wie wenn ich in der Nacht auf dem Land ein Feuer in der Ferne brennen sehe und träumerisch vor mich hin sinniere, was dort wohl passiert sein mag: Brennt ein Heuschober, sitzen Zigeuner um ein Lagerfeuer, haben Jungs gezündelt, ist es ein Kartoffelfeuer, das die müden Ackersleute noch spät entfacht haben? All dies kann ich ruhig bedenken, denn es spielt keine Rolle, was es wirklich ist, denn ich träume ja oder gebe mich meinen Phantasien hin.

Wenn die indirekte Form der Mitteilung durch das Kunstwerk meine Einbildungskraft erregt, gewährt mir seine Rezeption eine gelöste und heitere Haltung, in der ich mit mir allein sein kann, ohne gelangweilt oder ängstlich nach tröstlicher Begleitung und entspannender Plauderei suchen zu wollen, denn mich bevölkert ja meine durch die Kunst in Schwingung versetzte Einbildungskraft mit all den Figuren und Masken, all den Wendungen und Bildern, die ich als Möglichkeiten des Selbstseins in mich aufnehme oder in mir für Augenblicke verweilen, aufleuchten und wieder verlöschen lassen kann.

Wenn du die Lieder aus dem schubertschen Zyklus der Winterreise anhörst, kann sich deine Seele in die fiktive Gestalt des schmerzlich liebenden Wanderers verwandeln und Schichten und Tiefen der Sehnsucht und Trauer, des Jubels und der Klage, der Hoffnung und Verzweiflung auskosten, die ihr ohne die große Kunst des Komponisten in solch einer Intensität und Nuanciertheit wohl verborgen geblieben wären.

Der Hörende kann auf den Klängen der Musik phantasieren, er kann den Erinnerungen an seine eigene Liebe, an seine Verluste und Verwundungen, an sein Hoffen und Bangen eine Gestalt geben, die zu formen ihm Verstrickungen und Befangenheiten in trivialen und ausdrucksarmen Worten und Bildern, in Phrasen und Klischees bisher verwehrten.

Wenn dir demnach Musik oder Gemälde oder Gedichte aufgetischt werden, durch die deine Seele nicht in Resonanzschwingungen gerät, durch die dir ein sinnendes und dich vertiefendes Selbstgespräch gar nicht erst angeregt wird, magst du getrost das angebliche Kunstwerk für Schund erklären und ihm den Kunstwert absprechen.

Fazit:

Wir können anhand der Daten und Informationen, die uns die Wahrnehmung liefert, den Kunstcharakter eines Gebildes nicht ohne weiteres ausmachen und identifizieren. Wir müssen an unsere Wahrnehmung den Begriff des Kunstwerks herantragen, den wir in einem mehr oder weniger langen, mehr oder weniger windungsreichen Weg des Lernens und der Erfahrung im Umgang mit Kunst uns angeeignet haben. Dieser Begriff oder dieses Konzept ist nicht als ewige platonische Idee in Stein gemeißelt, sondern lebt und entwickelt sich mit uns. Das Kunstwerk bietet sich uns dar als indirekte Form der Mitteilung, als eine Fülle von Möglichkeiten, Skizzen und Entwürfen, wie wir unser Selbstsein erproben, ausleuchten, mit neuen Wendungen und Ausdrucksgehalten artikulieren können. Wir finden auf diesem Wege an seiner intentionalen Wurzel oder Grundschicht zu der Minimaldefinition: Kunstwerke sind Artefakte mit einem Ausdruckswert und einer Aussagekraft, die unsere Selbstverständigung beseelen und vertiefen können.

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