Skip to content

Über den Grundbegriff der Ordnung

12.05.2015

Wenn wir ein wirres, ungeordnetes Geflecht von Linien oder einen ungeordneten Haufen von Flecken und Punkten wahrnehmen, können wir in diesem Chaos da und dort eine Figur, eine Gestalt, ein Gesicht erkennen oder zu erkennen glauben. Wir tun dies spontan, und es bereitet uns ein dem Verstand eigentümliches Vergnügen, es zu tun.

Auch wenn wir nicht spontan eine ganze oder eine angedeutete ganze Gestalt erkennen, gelingt es uns meist, einer bestimmten Linie zu folgen, die das Gewimmel und Chaos zum Beispiel diagonal durchquert. Mit der Fixierung einer solchen Linie gewinnen wir mehr als die Linie, nämlich eine Grenze: Wir können unser Bild einteilen in die Fläche, die links oder rechts, oberhalb oder unterhalb dieser Grenze verläuft.

Wir gehen noch weiter: Mit der Linie als Grenze gelangen wir auch zu einer Grenze als Markierung eines inneren Bereichs von einem äußeren Bereich. Insbesondere dann, wenn die Linie konkav oder konvex gebogen ist, neigen wir dazu, einen inneren von einem äußeren Bereich zu unterscheiden. Die Innen-Außen-Differenz erinnert uns spontan an die Elementarstruktur lebender Organismen: Zu leben heißt ja, einen inneren Bereich als wahrgenommene und erlebte Einheit in einem äußeren Medium wie Wasser oder Luft zu erhalten und zu bewegen.

Wenn wir nichts vom Dasein geordneter Strukturen wie Figuren, Gestalten oder Gesichter wüssten, wären wir nicht in der Lage, in einem visuellen Chaos solche Strukturen zu identifizieren. Hier beruht die Wahrnehmung von Ordnung auf ihrer Antizipation.

Wenn wir Eisenspäne auf eine Fläche streuen, erhalten wir geordnete Strukturen und geometrische Muster, sobald wir mit einem Magneten über die Fläche fahren. Der Magnetismus ist dabei die ordnungsstiftende oder strukturbildende Kraft.

Wenn wir Ordnung als Grundbegriff definieren, gehen wir davon aus, dass es strukturbildende Faktoren wie die chemische Verkettung der DNA oder das magnetische Feld geben muss, die sowohl die Komplexität der Ordnung wie die Elemente spezifizieren, aus denen sie sich zusammensetzt.

Wir können die Grundbegrifflichkeit der Ordnung auch so ausdrücken: Ordnung ist ein Primärbegriff, Zufall oder Chaos ein Sekundärbegriff oder abgeleiteter Begriff. Es handelt sich demnach um eine ausschließende Relation: Etwas erscheint uns als zufällig, ungeordnet oder chaotisch in dem Maß und Grad, wie es von einem bestimmten Ordnungstyp, den wir antizipieren oder der uns vorschwebt, abweicht. Etwas erscheint uns als geordnet, wenn es gemessen an bestimmten Ordnungsmustern oder Ordnungstypen von der zufälligen Anordnung der Teile in dem Maße abweicht, in dem diese Muster exemplifiziert sind.

Wenn wir die Unordnung der Teilchen in einem Glas mit Flüssigkeit durch erneutes Schütteln oder Umrühren maximieren, erhalten wir keinen neuen Typ von Unordnung. Wenn wir die Ordnung in einer zufällig gereihten Menge von Kreisen und Dreiecken dadurch maximieren, dass wir die Dreiecke in die Kreise einschließen, von denen sie umschrieben werden, erhalten wir einen gegenüber dem ersten Ordnungstyp um eine Stufe erhöhten Ordnungstyp. Im gleichen Sinne können wir die gegebene Ordnung durch Verfahren der Entdifferenzierung minimieren, indem wir zum Beispiel die eingeschriebenen Dreiecke den Kreisen entnehmen und ihnen in beliebiger Reihenfolge beiordnen. Wir gelangen so von einer Stufe der Ordnung zur nächstniedrigen Stufe.

Wenn wir eine beliebig lange Reihe von Punkten oder Kreisen betrachten, können wir sie ordnen, indem wir ihnen die Reihe der natürlichen Zahlen zuordnen: Ordnung entsteht durch Zuordnung oder die Anwendung von Mustern auf beliebige Materien. Wenn wir jeden zweiten Punkt streichen, erhalten wir die Reihe der geraden Zahlen, wenn wir umgekehrt vorgehen, die Reihe der ungeraden Zahlen: Ordnung entsteht durch Anwendung von Verfahren strukturierter Auswahl. Allerdings müssen wir im ersten Fall bei Nr. 2 mit unserem Verfahren der Streichung anfangen und dann Schritt für Schritt weitergehen, um das gewünschte Ergebnis zu erhalten: Ordnung entsteht durch Verfahren zeitlicher Strukturierung und Abfolge.

Wir bemerken: Räumliche Anordnung und zeitliche Abfolge sind elementare Verfahren zur Gewinnung von Ordnung.

Wenn ich dir versprochen habe, dich heute zu besuchen, muss ich eine zeitlich geordnete Reihe von Handlungsschritten abschreiten, um zu dem gewünschten Ergebnis zu gelangen und mein Versprechen einzuhalten. Ich ziehe meine Jacke und meine Schuhe an, schließe die Tür hinter mir, gehe zur U-Bahn-Station, steige in den Zug der richtigen Bahnlinie ein und am Zielort steige ich wieder aus, um dann die Straße zu erreichen, in der du wohnst. Ich kann keinen Zwischenschritt überspringen, sonst könnte ich wie im Märchen gleich auf der Stelle vor deiner Türe stehen.

Wir bemerken: Unsere Handlungen und Verrichtungen sind zeitlich geordnet, weil wir als physische Wesen der Kausalität als wesentlichem Grundtyp zeitlicher Ordnung unterliegen.

Wir können eine Schachtel in eine größere Schachtel stecken und die größere in eine noch größere und so fort. Damit gewinnen wir ein neues Ordnungsverfahren: das der Hierarchie von Begriffen. Wir kommen an die unterste und kleinste Schachtel nur durch ein geordnetes Verfahren: Indem wir zuerst die oberste Schachtel öffnen, dann die nächstkleinere, dann die nächstkleinere und so fort, bis wir zur kleinsten Schachtel der verschachtelten Reihe gelangen. Wir öffnen die Schachtel mit der Aufschrift „Tiere“ und finden die Schachtel mit der Aufschrift „Stamm: Wirbeltiere“. Wir öffnen sie und finden die Schachtel mit der Aufschrift „Klasse: Säugetiere“. Wir öffnen sie und finden die Schachtel mit der Aufschrift „Ordnung: Raubtiere“. Wir öffnen sie und finden die Schachtel mit der Aufschrift „Familie: Hundeartige“. Wir öffnen sie und finden die Schachtel mit der Aufschrift „Gattung: Wolfs- und Schakalartige“. Wir öffnen sie und finden schließlich die kleinste Schachtel mit der Aufschrift „Art: Haushund“. Wir kennen uns jetzt in dieser Form der hierarchischen Ordnung insofern aus, als wir wissen, dass wir nur 1 Schachteltyp mit der Aufschrift „Tiere“ in ihr vorfinden, aber so viele Schachteln vom Typ Art, wie es Arten gibt, also etwa 1,75 Mio. (von denen wir zurzeit wissen).

Wir bemerken: Neben den Grundtypen räumlicher und zeitlicher Ordnung unterscheiden wir den Grundtyp begrifflicher Ordnung.

Das ist kein Zufall, sondern selbst Ausdruck einer fundamentalen Ordnung, die wir durch unsere Art zu sein exemplifizieren: Denn als sprachliche Lebewesen sind wir durch unsere Leiblichkeit oder unsere Wahrnehmung in die Raum-Zeit-Welt der Gegenstände und Ereignisse integriert, über die wir uns mittels Anwendung begrifflicher Unterscheidungen Urteile bilden.

Comments are closed.

Top