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Vom Ähnlichkeitssinn

22.07.2019

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Von der begrifflichen gelangen wir zur gewöhnlichen, alltäglichen Sprache, also vom künstlichen Idiom eines Sokrates, der nach dem Wesen einer Sache wie der Frömmigkeit fragt, zum natürlichen Ausdruck der Verwunderung, die jemand fragen läßt, ob die Person, die er an einer Liturgie oder einem Kult teilnehmen sieht, wirklich fromm sei – denn es handelt sich um einen guten Bekannten, der ihm gegenüber noch neulich antireligiöse Affekte kundgetan hat – oder ob dieser Mensch seine wahren Ansichten augenscheinlich gut versteckt habe oder ob er etwa jüngst konvertiert sei.

Wenn wir so fragen, enthüllen sich uns wichtige Aspekte dessen, was wir an Einstellungen und Handlungen fromm oder religiös bezeichnen, nicht aber, wenn wir nach einer Definition des Begriffs Frömmigkeit fragen.

Begriffliches Verstehen beruht auf einem Mißverstehen, wenn es vorgibt, wesentliche Aspekte einer Lebensweise wie die Frömmigkeit aufgrund der Anwendung eines Allgemeinbegriffs verständlich machen zu wollen; wir versinken in den Strudel der Tautologie oder im Sumpf der Trivialität, wenn wir etwas fromm nennen, weil es den Begriff der Frömmigkeit exemplifiziere.

Wenn wir dagegen einen menschlichen Grundzug wie die religiöse Konversion herausgreifen, sehen wir beispielsweise, daß der Konvertit Handlungen, die er vor der Konversion als gleichgültig oder harmlos ansah, nunmehr als sündhaft bezeichnet. Er wendet eine neue Sprache an, die ihm die Dinge in einem anderen Licht zeigt.

Wir könnten auch dem Aspekt der möglichen oder unmöglichen Verheimlichung des religiösen Bekenntnisses nachsinnen und fragen, ob wie im Falle der Verfolgung der Religiöse von seinem Selbstverständnis her berechtigt ist, seinen wahren Glauben zu verbergen und gleichsam die gewöhnliche Sprache der Umgebung nachzureden, oder ob das Risiko und die demütige Hinnahme von Spott, Drangsal und Heimsuchung eine wesentliche religiöse Forderung darstellen.

Wir können Geschichten erzählen von Leuten, die im frommen Milieu groß wurden und ihm wie tauben Eierschalen entwuchsen oder von einer Tradition, Kirche oder Sekte zu einer anderen übergingen; wir haben an den heiligen Schriften des AT und NT, den liturgischen Büchern oder Predigten, um nur diese zu nennen, aber auch an den Biographien, Legenden, Dokumenten der Selig- und Heiligsprechungen, um wieder nur diese zu nennen, einen ungeheuren Reichtum an Zeugnissen dessen, was wir fromm nennen. Doch wenn wir all dies einzig unter dem Argwohn betrachten, es handele sich um Belege individueller geistiger Deformationen und seelischer Krankheiten oder kollektiver Illusionen, entschlüpft uns die Bedeutung dessen, was wir fromm nennen, wie dem skeptischen Philosophen die Welt der Dinge, wenn er annimmt, Aussagen über sichtbare Objekte seien undurchschaute Aussagen über rein subjektive Phänomene des Gesichtsfelds.

Der Patient, der angibt, er habe eine Erscheinung einer strahlend schönen Frau gehabt und diese habe sich ihm als Jungfrau Maria offenbart, und der Psychiater, der ihm das Bild durch Hinweis auf verdrängte erotische Motive auflösen will, reden nicht über dieselbe Sache.

Der Verliebte, der glaubt, die Angebetete sehe einer Engelsfigur auf einem Fresko von Giotto ähnlich, gewahrt diese Ähnlichkeit, auch wenn WIR sie nicht bemerken. Sie ist deshalb kein Trugbild, sondern verkörpert die Wahrheit einer Empfindung oder das Zeugnis einer starken Leidenschaft.

Die Theorie will das Phänomen durch einhellige kausale oder funktionale Verknüpfung mit erklärenden Hypothesen in den Griff des Begriffs zwingen; so erklärt der religionswissenschaftliche Funktionalismus das Gebaren des Menschen, der einen Nagel in eine Tonfigur bohrt, als Form von Magie, der freudianische Analytiker das Gebaren des Verliebten, der das Bild der Geliebten küßt, als Form von Fetischismus. Doch beiden entschlüpft das Phänomen vor der Hand und vor den Augen. Genausowenig wie das Kind glaubt, den Stein, an dem es sich gestoßen hat, zu bestrafen, wenn es ihn aufrafft und wütend ins Wasser wirft, glaubt der Verliebte, die Neigung der Geliebten zu verstärken oder wiederzuerwecken, wenn er ihr Bild küßt. Vielmehr ist beider Gebaren ein lebendiger und in sich sinnvoller Ausdruck ihres Empfindens und ihrer Leidenschaft.

Der Religiöse entzündet eine Kerze und kniet betend vor dem Bild des Heiligen nieder, er stellt Blumen auf den Altar und benutzt Räucherwerk, um die ihm gemäße Stimmung zu erzeugen oder zu verstärken. Die Blumen, das Räucherwerk, das Gebet sind sichtbare Formen der Hingabe und des Opfers. Durch das, was er materiell opfert, wird er seelisch reicher.

Wesentliche Sachverhalte, die unser Dasein prägen, können wir nicht durch Begriffsbestimmungen und Definitionen erfassen oder mittels Hypothesen aus allgemeinen Gesetzen und Regeln ableiten; wir müssen sie anhand von exemplarischen Vorkommnissen erläutern, mittels prägnanter Vergleiche erörtern und erhellen.

Vergleiche und Exemplifikationen für einen Sachverhalt finden und spüren wir mittels der Kraft und Tätigkeit unseres Ähnlichkeitssinnes auf; wir sehen die Ähnlichkeit zwischen dem magisch genannten Verhalten des Indigenen, der die Tonfigur seines Feindes mit einem Nagel durchsticht, und dem von seiner untreuen Geliebten im Stich gelassenen oder düpierten Liebhaber, der ihr Bild, das er vor Tagen noch geküßt hat, zerreißt.

Wir sehen die Ähnlichkeit nicht auf der Folie und dem Hintergrund eines allgemeingültigen Modells, das wir etwa definieren, indem wir von einer Art regelhaftem rituellen Gebaren ausgehen, bei dem das Abbild oder ein echter Teil eines verhaßten oder zum Ärgernis gewordenen Lebewesens zum Gegenstand gezielter Beschädigung oder Zerstörung herhalten muß. Denn wir müßten die so definierte allgemeine Regel des Verhaltens wiederum aufgrund ihrer Ähnlichkeit auf das individuelle Vorkommnis eines solchen Verhaltens anwenden. Wir drehten uns im hermeneutischen Kreise.

Die Ähnlichkeitswahrnehmung, so müssen wir folgern, erfolgt unmittelbar und intuitiv.

Es handelt sich demnach auch nicht um einen Analogieschluß, demzufolge der Sachverhalt A dem Sachverhalt B ähnlich sieht, weil beide einem dritten Sachverhalt C ähnlich sind.

Wenn der Verliebte glaubt, seine Angebetete sehe einer Engelsfigur auf einem Fresko von Giotto ähnlich, muß er dieser Ähnlichkeit unmittelbar und intuitiv innewerden: Wenn er uns ein Foto seiner Geliebten und eine Reproduktion des Giotto-Engels vorlegt, mögen wir ihm beipflichten, daß beide sich ähneln, oder es auch nicht zugeben; aber wir können zur Bestätigung oder Widerlegung unserer übereinstimmenden oder nicht übereinstimmenden Wahrnehmung keinen objektiven Beleg einfordern oder ersinnen.

Wenn wir als Beleg das Galton-Verfahren anwenden und die beiden Fotos, der Frau und des Engels, übereinanderlegen, sehen wir vielleicht, daß sich weder die Konturen noch die Profile der Gesichter ähneln. Der Verliebte könnte daraufhin sagen, so meine er es nicht, er sehe die Ähnlichkeit im sanften Ausdruck der Augen und der Weichheit und Demut des Blicks.

Goethe verglich Blätter verschiedener Pflanzensorten und sein Ähnlichkeitssinn brachte ihn zum Aperçu der Wahrnehmung ihres inneren Zusammenhangs, den er Urphänomen nannte.

Nach Goethe kann man sagen, es sei der ewige Gestaltwandel, den wir mit unserem Ähnlichkeitssinn erfassen, wobei das Urphänomen nicht als genetisches Original zu betrachten ist, sondern als der jeweilige dimensionale Bereich, in dem die Metamorphose des Blatts und anderer Gestaltvariablen immer neue Formen hervorbringt, die gleichsam übereinandergelegt unserem Ähnlichkeitssinn gewisse Grundformen oder Muster durchschimmern lassen.

Was Goethe mit der vergleichenden Morphologie natürlicher Formen und Gestalten an Erkenntnis und Einsicht gewann, machte Wilhelm von Humboldt auf dem weiten Feld der vergleichenden Morphologie der Sprachen fruchtbar. Bemerkenswert bei dieser Form der Sprachbetrachtung, die nicht nur die Wortfeldforschung, sondern besonders den grammatischen Bau der Sprachen betrifft, ist seine Entdeckung der strukturellen Ähnlichkeiten und Unterschiede der in den Sprachen sedimentierten Weltbilder.

Wir können diesen Gedanken auch auf alle Formen der ästhetischen Produktion übertragen und von den Urphänomenen beispielsweise der dichterischen Grundformen des Lieds, der Hymne oder der Klage sprechen. Die historische Morphologie des Epigramms zeigt uns den Gestaltwandel von der Grabschrift über die monumentale Inschrift bis zu den geistreichen Versen eines Lessing.

Wie sollen wir im Deutschen den Verbmodus des Optativs oder den temporalen Aspekt des Aorists aus dem Altgriechischen adäquat wiedergeben? Wir müssen uns mit künstlichen Umschreibungen wie „Es drängte ihn, zur Waffe zu greifen“ oder „In diesem Moment zückte er sein Schwert“ behelfen und können somit nur eine dem Original ähnliche, doch keine vollkommen adäquate Übersetzung erreichen.

Die Hellenen hatten nicht nur einen scharfen logischen, sondern ebenso einen hellsichtigen analogischen Sinn, der sie anregte, nicht nur wie Aristoteles morphologische Studien im Bereich der Pflanzen und Tiere und im Aufbau des Dramas, sondern auch wie Plutarch im typologischen Vergleich von Biographien zu treiben.

Die frühen christlichen Theologen wandten den typologischen Vergleich auf die prophetischen Figuren des AT an, mit dem Ziel, sie als Vorformen, Schattenrisse und Präludien des Messias zu deuten.

Gewiß wird der orthodoxe Rabbiner den Kopf schütteln und sich weigern, in Moses und den Propheten Präfigurationen Christi zu sehen. Nicht daß er sie unter anderen Umständen nicht sehen KÖNNTE, in dem Kontext, den seine Lebensweise und religiöse Sprache bestimmen, WILL er sie NICHT sehen. Das verweist uns auf den Anteil des Willens und den voluntativen Aspekt der Aufmerksamkeit in dem, was wir sehen und als ähnlich und unähnlich gelten lassen.

Die Grenze der typologischen Betrachtung von Biographien bemerken wir im Verfahren Freuds, das individuelle Leben unter dem allgemeinen Gesetz der von ihm definierten sexuellen Stadien und der in ihnen maßgeblichen, mehr oder weniger gelungenen Bewältigung typischer Spannungen und Konflikte wie des ödipalen Konflikts oder die Trauminhalte unter dem allgemeinen Gesetz der Traumarbeit von Verdichtung und Verschiebung zu betrachten. Wir gewahren die Grenze insbesondere, wenn die individuelle Stimmung des Träumenden ausgeklammert wird. Warum sollte der Traum eines Mannes vom erquickend empfundenen Untertauchen in die blaue See als Symbol der Kastration dechiffriert werden und nicht als Symbol seelischer Erneuerung und Vertiefung?

Freilich darf das Suchen nach Ähnlichkeiten nicht zum blinden Fuchteln mit dem Zauberstab der Analogie entarten. Wenn wir in einem Gedicht von Benn ähnliche Farbwörter und Blumennamen wie in einem Gedicht Mörikes finden, könnte dies auf eine tiefere Differenz statt auf Anähnelung hinweisen, eine Differenz der geistigen Haltung, die sich bei Benn beispielsweise als Ironie oder Sarkasmus geltend macht.

Der Ähnlichkeitssinn ist ein Teil unserer natürlichen Ausstattung wie das Auge, das Ohr oder die fühlend-sehende Hand. Aus diesem Grund können die von uns gefundenen und in alltäglicher und poetischer Rede verwendeten Ähnlichkeitstopoi, die Metaphern, auf dem Grund unserer Intuition aufruhen, falls sie nicht durch Willkür, Mißverstand und Bedeutungsblindheit verzerrt oder verfehlt werden.

Eine neuartige und kühne Anwendung des Gedankens der vergleichenden Morphologie wäre die Anwendung auf sprachliche und Verhaltensformen, die wir dem Recht und der Moral zuweisen. Wir könnten uns mit diesem Verfahren von der stets noch unbewältigten Erblast der kantischen Voraussetzung einer überhistorischen oder dem diskurstheoretischen Geltungsanspruch einer universellen normativen Basis von Recht und Moral dispensieren.

Würden wir unsere vergleichende Morphologie sinnigerweise mit den alten Begriffen vom damnum oder der obligatio, der Schädigung und des Schadens sowie der Verpflichtung im rechtlichen und moralischen Sinne beginnen, verließen wir bald die engen Gleise der auf die Herkunft verengten nietzscheanischen Genealogie der Moral und gewännen die weite Aussicht der Goetheschen Metamorphose in der vergleichenden Betrachtung ihrer Gestaltungen und Umgestaltungen in den unterschiedlichen sprachlichen und kulturellen Lebensformen.

Gewiss, es muß gemäß der Struktur des menschlichen Lebens Institutionen, Konventionen und Formen rechtlicher Vereinbarung und Sicherung sowie moralischer Verpflichtung geben; aber nicht DAS Recht, nicht DIE Moral, sondern die den unterschiedlichen Humboldtschen Weltbildern korrespondierende Mannigfaltigkeit von Rechtsauffassungen und Moralen.

 

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