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Vom magischen Denken

06.02.2020

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Wie der Traum und die optischen und akustischen Visionen der Geisteskranken schöpfen auch die Kunst und die Dichtung aus den Quellen magischen Denkens.

Eine Gruppe, ein Volk, eine Nation, denen die Quellen magischen Denkens versiegt sind, mag sich dem Typus des Primitiven gegenüber intellektuell und moralisch überlegen dünken, hat aber die Macht und Kraft eingebüßt, auf symbolischer Ebene noch Wesentliches und Entscheidendes auszudrücken.

Die Deutschen haben sich die Quelle magischen Denkens von der Säure einer angeblich höheren Moral vergiften lassen.

Wenn die Politik oder die Moral die künstlerische Aussage in Beschlag nehmen, stehen wir vor Kitsch, Aberwitz oder flachen Spielereien.

Er hörte in der tiefen Stille des Waldes seinen Namen rufen. Dies ist eine Urform magischen Denkens, sie begegnet in der Schizophrenie sowohl als auch im religiösen Erleben.

Primitive magische Erfahrungen wie das Gehen auf vertrautem Pfad, der sich im Urwald verliert, aus dem ein Tier, ein Vogel, ein Fuchs oder ein Hirsch, den Ausweg zeigt, das Tor als Hindernis und das Zauberwort als Schlüssel, bei dem es sich von selbst auftut, die Verwandlung in höchster Gefahr in ein magisches Wesen, das beflügelt durchs rettende Schlupfloch fliegt – sie gehören neben vielen anderen magischen Bildern und Motiven zum Urstoff der Märchen, Sagen, großer Dichtung.

Wenn wir wissen, wonach wir suchen sollen, finden wir den Zwerg oder das Kaninchen im überwucherten Rätselbild; das magische Suchbild ist abstrakt und wie ein Ahne der platonischen Idee.

Der Besessene sieht in seiner Umwelt nur die Entsprechungen seines magischen Suchbildes.

Die magischen Bilder von Freund oder Feind, Stammes- und Artgenossen oder Fremden, schwimmen wie Lichtpunkte durch unsere Adern; ähnlich vielen Tieren, die wie manche Vögel oder Katzen imaginäre Beutetiere verfolgen.

Paradies und Hölle sind primitive Bilder magischen Denkens, das Idealbild der Heimat, das Extrembild des Elends.

Eros in seiner sublimen Gestalt wie bei Goethe oder seiner dämonischen Entstellung wie bei Baudelaire und de Sade nährt sich durchaus von magischen Bildern wie dem Spiegelbild, Blume und Blüte, Sonne und Stern, Tropfen und Träne, Stimme und Echo oder dem blinden Spiegel, Stein und Kot, Asche und Rauch, Urin und Flut.

Daß sich seelische Konflikte in sexuellen Bildern ausdrücken, liegt nicht an der patriarchalischen Sexualmoral, sondern daran, daß in den Wäldern und Wüsten der erotischen Bilder auch Ödipus und seine Familie hausen.

Der Jungvogel, der erstmals den Wanderweg vom südlichen Afrika nach Skandinavien durchfliegt, sieht in der realen Landschaft die angeborenen magischen Suchbilder, die ihm Orientierung verleihen.

Die Fratzen und Gesichter des Grauens, die wir in der Rinde verwachsener uralter Eichen, in Felsbrocken oder Wolken gewahren, sind den Traumbildern noch nahe; sie fanden ihre Wirkungsstätten in den Schwellentieren der gotischen Kathedralen, der indischen Tempel, der japanischen Pagoden.

Der Eros Goethes ist noch dämonisch und mit magischer Energie geladen, bei Heine wird er in ironisch gewürzte Tändelei und ein harmlos-resignatives Anspielungsvirtuosentum aufgelöst. Finden wir eine Abwandlungsform dieser Ironie, wenn auch zum Abwehrzauber gesteigert, nicht auch bei den Patriarchen und Propheten gegenüber den von ihnen als Fratzen und Greuel erlebten Göttern ihrer Anrainer?

Bei vielen ist, was sie als Vernunft, Rationalität, Aufklärung beschwören, der Abwehrzauber gegen die Schatten, Risse und Greuel des magischen Bilds.

Das magische Bild, das einen nicht losläßt, wie der eigene Schatten, über den man nicht springen kann.

Die intensivste Form magischer Bezugnahme und magisch evozierter Hingabe ist die Musik; das beginnt mit Trommeln und Singen am Lager- und Herdfeuer, dem von Gesang, Klatschen, Flötenspiel begleiteten Tanz um das Kultbild, sublimiert sich in den vielen Weisen des Liebeslieds und gipfelt in der Musik Bachs und Mozarts.

Der Städter macht seinen mechanischen Einkaufsgang; schon der Jäger ist mit dem Umwelt von Steppe, Wald und Tier magisch verflochten; wie erst der Tänzer des tragischen Chors, und noch in den rituellen Bewegungen höfischer Tanzformen klingen magische Praktiken der Beschwörung nach.

Um alle gemeinschaftsstiftenden institutionellen Formen des Gebarens wie Eide, Treuverpflichtungen, Ehe-, Stammes-, Völkerbündnisse, Kriegserklärungen und Friedensschlüsse schwebt eine magische Aura, die sich in der sakralen und bildreichen Rhetorik der dabei verwendeten Formeln kundgibt.

Die Stimme, die der Schizophrene oder der Fromme hört, ist nicht real, aber hat an der Stimme der Mutter oder des Vaters ihr Modell; sie ist keine bloße Erfindung, kein Konstrukt und doch irreal oder imaginär; sie gehört als magisches Phänomen der subjektiven Wirklichkeit an, die in ihren Wirkungen, Bedeutungen und Relevanzen der objektiven Realität in nichts nachsteht.

Zu glauben, magisches Denken sei ein Surrogat für wissenschaftliches Denken, das an deren Erklärungskraft nicht heranreicht, ist ein Beleg für die Primitivität des abendländischen Rationalismus und die moralische Arroganz der Aufklärung.

Daß die Pythagoreer den Zahlen magische Kraft zuschrieben, die sich in der magischen Wirkung der kosmischen Sphärenmusik kundgebe, ist kein Beleg dafür, daß sie mit Zahlen nicht nüchtern und verständig umgehen oder rechnen konnten; das Gegenteil ist bekanntlich der Fall.

Einer Puppe einen Dorn ins imaginäre Herz zu stoßen ist kein Ersatz dafür, der untreuen Geliebten den Garaus zu machen.

Der Verliebte geht die Wege nach, die seine Angebetete gegangen ist; er küßt ihren Schuh, er küßt ihr Bild, als wäre sie anwesend; doch weiß er zugleich, daß sie nicht da ist, daß sie ihn für immer verlassen hat.

Der Paranoiker sieht in fremden Gesichtern die nahe und doch ungreifbare Gefahr; Hölderlin sah in den Erscheinungen des Himmels und der Jahreszeiten den nahen und doch unbegreiflichen Geist der Welt.

Die magische Verzückung, wenn er in der Glut die amorphe Essenz des Göttlichen erblickt, in den Flammen den Gesang der Engel vernimmt, im Rauschen von Wasser und Wind die Geister der Ahnen von Jenseits-Gärten sprechen hört, ist der Trost des Einsamen, die kleine Ewigkeit des vom Tode Überschatteten.

Die Melodien und Harmonien Mozarts sind die magische Vergegenwärtigung des Paradieses.

Die Harmonien Bachs sind die durch magische Läuterung entschlackten, durch magische Destillation purifizierten Urstoffe unseres Seins zum Tode.

Das wesentliche magische Ausdrucksmittel besteht in der mehr oder weniger leicht variierten Wiederholung einer Formel, eines Namens, eines Motivs, eines Refrains. Das Ziel der Anwendung magischer Wiederholung ist die Erzeugung eines tranceähnlichen Bewußtseinszustandes, wie wir es aus religiösem und rituellen Erleben kennen.

Die musikalische Fuge entsteht durch eine Art Alchemie der Tongestalt.

Die Variationen des Lichts in den Reflexen des Wassers.

Ein Wort, ein Stein, fällt in den Teich der Aufmerksamkeit; die entstehenden, sich ausbreitenden und im Schweigen verebbenden Wellen sind die magischen Verwandlungen des Subjekts infolge dichterischer oder musikalischer Verfahren des Ausdrucks.

„Ene mene muh, raus bist du“ – solcher Art magische Formeln bilden den Ursprung auch der hohen Dichtung.

Das religiöse Erleben rührt von magischer Verwandlung des Subjekts; es ist in höchstem Maße erstaunlich, erschreckend, ergreifend zu gewahren, daß Gott unmittelbar aus dem Mund des Propheten tönt.

Die Zunge des Inspirierten verwandelt sich in die Schlange des Paradieses.

Die magische Inspiration hat ihre rassischen, ethnischen, folkloristischen Abwandlungen und Abschattungen.

Alle ursprünglichen Völker haben einen magischen Bezug zur Nahrung.

Die Identität des frommen Juden kommt sowohl aus der rituell wiederholten Schrift als auch aus den Eingeweiden, die durch die Riten koscheren Essens konditioniert wurden.

Hätte sich ein schmerbäuchiger Goj in ein von frommen Juden bewohntes Haus im Dachgeschoß, einer Eule gleich, eingenistet und schwebten penetrante Würzgerüche von Wildbret, Schweinskopf und fetten Mettwürsten von seinem Herd den Juden in die koschere Küche – wenn es also im wahrsten Sinne des Wortes um die Wurst geht oder um die tieferen Instinkte und kulturellen Identitätsmerkmale, hat aller Diskurs, alles Geschwafel, alle Toleranz ein Ende: Man muß sich aus dem Wege gehen, wenn man sich nicht riechen kann.

Wie die Hausgemeinschaft, so die Volksgemeinschaft, könnte man sagen, wenn es darum geht, den sozialen Frieden zu wahren.

 

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