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Vom Nomos der Dichtung

11.07.2022

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Auf metrisch und strophisch knapp bemessenem Raum die Worte so positionieren, stellen und entgegenstellen, daß sie ihn wie das Gitter eines Kristalls strukturieren; eines Kristalls, der vom einfallenden Licht zum Leuchten, Funkeln, Irisieren gebracht wird.

Welches Licht fällt in den Raum des Gedichts; und durch welches Fenster?

Der Strahl, der ins Fenster des Gedichtes fällt, kann vom Mond herrühren, auch wenn du das Gedicht am hellichten Tage oder unter der grellen Neonlampe liest.

Freilich gibt es Stoffe, die das Licht wie ein Sieb durchseihen oder vollständig absorbieren. In beiden Fällen gibt uns das Gedicht den Eindruck der gedämpften und getrübten Atmosphäre einer unheimlichen oder unergründlichen Dämmerung.

Etliche Gedichte Trakls sind von dieser Art.

Keiner wird ein Möbel, erlesen an Zierrat und Intarsien, vor das Fenster stellen.

Wie geistreich ist Goethes Wort vom Gedicht als bemalter Fensterscheibe (wenn wir die Anmutung des Gotisch-Butzenscheibenhaften von ihm ablösen).

Freilich, manchmal geraten wir in eine vollgestopfte Besenkammer, die nur ärmlich vom Dämmerschein erhellt wird, der aus der halbgeöffneten Dachluke sickert.

Ökonomie des Gedichts: Knappheit der Mittel – Höchstmaß der Wirkung, wie es Nietzsche so stilvoll wie elegant im Kapitel „Was ich den Alten verdanke“ in seiner „Götzendämmerung“ beschrieb.

Der Kiesel gehört dem Vaganten, der Smaragd dem Kaiser.

Gedicht: Kiesel, der wie ein Juwel funkelt.

Reim, Rhythmus, Strophe – Fesseln, Peitschen, Züchtigungen, die den Ausdruck zur Verdichtung, den Gedanken zu höchster Konzentration nötigen.

Welchen ungeheuren Druckes, freilich über Äonen, bedarf es, damit aus der Kohle der Diamant hervorzuschimmern beginnt.

Hunde, die frei herumlaufen, beginnen zu verwildern.

Gedichte ohne den Zügel des Nomos (den Hirten des Seins, um es mit dem weisen Gnom aus dem Schwarzwald zu sagen) sind wie entlaufene Schafe, die aus der erstbesten Schlammpfütze saufen.

Die Bindung, die Verpflichtung, das Opfer – Ökonomie der poetischen Sublimierung.

Der fast Verschmachtete erblickt in der Wüste des Daseins die Fata Morgana.

Dürsten, schmachten, sich verzehren – Dichters Exerzitien.

Die aus Ägypten in die Wüste Entkommenen erahnen in der Ferne das verheißene Land, wo Milch und Honig fließt. Und war es für Moses nicht eine Art Fata Morgana?

Mag der Dichter nur ausgebrannt sein – die Glut des Gedichts aber sprühe Funken in die Nacht.

Die fremde, gefährliche Schöne, die wie Salome unter Schleiern tanzt, sie, die nach dem Haupt des Dichters verlangt.

Die fette Hure in ihrer nackten Häßlichkeit genügt dem hündisch-satirischen Trieb.

Die wesentliche Aussage ist wie das Gelispel des Quells in der Abenddämmerung kaum hörbar; sie wird durch den Lautsprecher entstellt, den elektronischen Verstärker verzerrt.

Je leiser das Wort, je gehauchter, umso eindringlicher die Aussage.

Je leichter, anmutiger die Form, umso gewichtiger der Sinngehalt.

Die Anmut des Gedichts kommt auf Taubenfüßen. Sagte ähnliches nicht, der dummer- oder tragischerweise wähnte, mit dem Hammer philosophieren zu müssen?

Unter milchig-zarter Haut siehst du das Delta blauer Venen.

Der gekrümmte Rücken des Psalms trägt die Glorie der Welt.

Gegen die Tagesnorm des alternierenden Verses wirkt der verschlungene Rhythmus eines Klopstock nächtlich, mystisch, okkult.

Das munter plätschernde Rinnsal des Jambus im Delta odisch brausender Rhythmen.

Die Erneuerung des deutschen Verses durch Klopstock erfolgte im Zuge nicht nur der Hinwendung zur griechischen Ode, sondern auch zum hebräischen Psalm; ähnlich der Erneuerung des Sprachdenkens bei Hamann aus dem Geist der Prophetie.

Weshalb klammert sich Hopkins verzweifelt an die strenge Form des Sonetts, obwohl die geisterhafte Flut seines sturmgepeitschten Verses über sie hinwegschäumt?

Die „terrible sonnets“ des Poet-Priest Hopkins kann man freilich als Symptome klinisch reiner Depression entziffern. Aber sagt das mehr über ihren dichterischen Gehalt als die kleingeistig-professorale Lektüre eines Gedichts von Baudelaire als Dokument des literarischen Exotismus und der erotischen Libertinage oder eines Gedichts von Trakl als Zeugnis seiner Drogen- und Liebessucht?

Die Partikel „aber“ – ein Stigma an der Hymne Hölderlins, das den Bruch der Stimme oder den plötzlichen Schaum auf der Woge anzeigt, die dem jähen Katarakt entgegenrollt, wo der Gesang sich im Rauschen verliert.

Es bedurfte der sorgfältigen Beobachtung und minutiösen Anwendung von immer ausgefeilterer mathematischer Physik, um das alltägliche Phänomen der Tages- und Jahreszeiten, der Dauer von Monat und Jahr in die Struktur des verläßlichen Kalenders einzubauen und zu berechnen. Eratosthenes, Ptolemäus, Caesar, Augustus, Julian, Gregor und die immer genauere Datierung des Osterfestes durch die Astronomen des Mittelalters und der Neuzeit sind nur einige Stationen auf diesem Weg.

Es ist dies der Weg des Abendlands, denn die Kulturen des Judentums, der Antike und des Christentums haben ihn gleichermaßen gebahnt – man denke an die Institution des Sonntags, den römisch-germanisch gemischten Ursprung der Namen der Wochentage, die den christlichen Glauben bezeugende Festlegung und Taufe der hohen Festtage und ihren teleologischen Richtungssinn (Geburt, Tod, Auferstehung) innerhalb der kosmisch-zyklischen Wiederkehr.

Sicher, man kann den Frühling Herbst nennen; doch wird der neue Herbst keine Früchte reifen und der neue Frühling keine Knospen schwellen lassen.

Sicher, der Mann kann sich Frau, die Frau sich Mann nennen; doch wird der neue Mann keine Kinder gebären und die neue Frau keine zeugen können.

Wie der deutsche Idealismus über die Torheiten des epistemologisch-sozialen Konstruktivismus zum ideologischen Etikettenschwindel verkam.

Wie der Kalender das Erbe der großen Entdecker und Forscher des Abendlandes ist der Nomos der abendländischen Dichtung das Erbe der Sprachschöpfer Israels, Ioniens, der äolischen Inseln, Attikas und Roms.

Sicher kann man die strenge Form lockern; doch nestelst du lange genug am Mieder der Schönen, steht sie endlich nackt da. Venus mag’s erfreuen, doch die Muse der Dichtung kleidet ein schimmerndes Gewand, das sich dem Fleisch des Worts wie Wasser auf dem Teppich von Moos und Gräsern anschmiegt, und doch, mag es auch transparent sein, verhüllt, was der gemeine Geschmack als nackte Wahrheit preist.

Wie der Nomos des dichterischen Worts von den strengen Fügungen und kunstvollen Gewölben eines Horaz, eines Klopstock, Goethe oder Hölderlin zur Trümmerlandschaft verkam, wo zwischen den zerschlagenen Formen dürftiges Gras in den trüben Himmel der nackten (sozialen, politischen) Wahrheit sprießt.

 

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