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Von der Semantik der Ereignisse

31.08.2015

Du siehst in der Ferne einen blauen runden Fleck. Er hüpft auf und ab und hin und her, manchmal verharrt er für eine Weile auf der Stelle, dann geht das Spiel von vorne los. Hast du infolge deiner Farbwahrnehmung Grund zu der Annahme, aus der Wahrnehmung ein Wissen ableiten zu können, das über die bloße Konstatierung der visuellen Tatsache hinausgeht? Sollen wir sagen, die Farbwahrnehmung impliziere die Annahme, daß dort, wo ein Farbfleck ist, etwas ist, das mindestens so viel Fläche hat, wie der Fleck einnimmt? Sollen wir sagen, daß dort, wo eine farbige Fläche oder eine Fläche welcher Farbe auch immer existiert, etwas existiert, das unter anderem die Eigenschaft hat, eine Fläche zu haben oder flächig zu sein? Sollen wir weiter sagen, daß dort, wo etwas existiert, das Fläche hat, etwas existiert, das wir als flächigen Körper im Raum und wenn im Raum dann in der Zeit bestimmen können?

Können wir annehmen, daß unsere Farbwahrnehmung von etwas hervorgerufen wird, das die Eigenschaft hat, farbig zu wirken? Dann gelangen wir über die Wahrnehmung zur Annahme eines Etwas, das ihre Ursache darstellt.

Der Farbwahrnehmung steht es nicht an der Stirn geschrieben, was dieses Etwas ist. Denn gewöhnlich nehmen wir die Ursache der Wahrnehmung selbst nicht wahr. Es mag sein, daß wir spontan zu der Annahme neigen, da vor uns sei eine Körperfläche, die das einfallende Licht auf spezifische Weise reflektiert. Aber wir könnten auch einer Farbhalluzination aufsitzen. Freilich lägen wir auch in diesem Fall mit unserer allgemeinen Annahme, daß da etwas ist, das die Farbwahrnehmung hervorruft, richtig. Nur wäre dieses Etwas in diesem Falle eine Funktion unserer neuronalen Struktur.

Warum sagen wir, wir könnten an einem und demselben Ort des Gesichtsraumes nicht Blau und Grün gleichzeitig sehen? Ist dies eine kontingente Folge unserer neuronalen Struktur und unseres visuellen Systems, so daß wir annehmen könnten, die Leute auf der Gegenerde verfügten über diese uns versagte Fähigkeit, oder eine notwendige Folge der Semantik der Farbbegriffe?

Wenn sich der Fleck in unserem Gesichtsfeld von links nach rechts bewegt, heißt dies, daß es etwas gibt, einen Körper, der diese Bewegungsrichtung aufweist? Nein. Wir könnten uns ja relativ zu dem feststehenden Fleck von rechts nach links bewegen, so daß der Fleck eine Scheinbewegung vollführt.

Alles scheint auf die Frage hinauszulaufen, ob wir die Setzung eines Etwas, des ontologischen Minimums oder der Substanz des Aristoteles, semantisch reduzieren können?

Wir scheinen diese semantische Reduktion des Bezugs auf das Etwas oder das zugrundeliegende Subjekt am ehesten oder ausschließlich bei der Bezugnahme auf Ereignisse vornehmen zu können.

Statt zu sagen: „Ich sehe das Kind, wie es mit dem Ball spielt“ und diesen Satz so zu analysieren: „Ich sehe das Kind, und das Kind hat die akzidentelle Eigenschaft des Ballspielens“, sagen wir so:

„Ich sehe das Kind Ball spielen.“ Wir können diesen Satz so analysieren: „Ich nehme das Ereignis S wahr, und dieses Ereignis, nämlich das Spiel, setzt sich aus den Elementen „Kind“ und „Ball“ zusammen. Unsere hausbackenen Entitäten wie Kind und Ball sind nunmehr auf semantische Funktionen des Ereignisses reduziert worden.

Statt der Analyse der Wahrheitsbedingungen „Kind am Ort lx zur Zeit tx“, die uns die Bedingungen der Wahrheit der Behauptung, das Kind dort zu jener Zeit spielen gesehen zu haben, an die Hand geben, identifizieren wir das Ereignis S (spielen) (Kind, Ball) anhand derselben Raum- und Zeitbestimmungen, beziehen sie jetzt aber auf die räumliche oder zeitliche Ausdehnung des Spiels, zu der sich die räumlichen und zeitlichen Bestimmungen der Elemente des Ereignisses (Kind, Ball) summieren.

Statt zu sagen: „Das Kind spielt mit dem Ball“, sagen wir jetzt: „Es spielt das Kind mit dem Ball“ und analysieren den Satz auf folgende Weise:

Es spielt (das Kind, der Ball)

Wir können die Semantik des Ereignisses spezifizieren, indem wir den jeweiligen Typus des Ereignisses mit angeben:

Es spielt (Ballspiel) (das Kind, der Ball)

Statt zu sagen: „Hans und Peter spielen Schach“, sagen wir jetzt: „Es spielt Hans mit Peter Schach“ und analysieren den Satz so:

Es spielt (Schach) (Hans, Peter)

Statt zu sagen: „Hans trifft sich mit Peter“, sagen wir: „Es findet ein Treffen statt zwischen Hans und Peter“, und analysieren den Satz auf diese Weise:

Es findet ein Treffen statt (Hans, Peter)

Das Ereignis der Begegnung von Hans und Peter beginnt, sobald entweder Hans oder Peter oder beide gleichzeitig von ihrem jeweiligen Aufenthaltsort aufbrechen und sich in die Richtung aufmachen, in der der vereinbarte Ort ihrer Begegnung liegt. Das Ereignis ist abgeschlossen oder hat sich erfüllt, wenn seine Erfüllungsbedingungen wahr gemacht worden sind und Hans und Peter aufeinander zugehen und sich die Hände reichen.

Wir bemerken, daß sowohl Hans als auch Peter Teile oder Elemente des identischen Ereignisses ihres Treffens sind. Wir bemerken aber auch, daß Ereignisse abbrechen und dadurch ihre Erfüllungsbedingungen nicht wahr machen können, wenn Hans unterwegs einen Unfall hat oder Peters alter Groll gegen Hans aufsteigt und er es sich anders überlegt und nach Hause zurückkehrt.

Wir sagen zwar, das Ereignis einer Begegnung zwischen Hans und Peter habe nicht stattgefunden, wenn sich Hans und Peter nicht an dem vereinbarten Ort zur abgemachten Zeit die Hände gereicht haben. Doch sagt uns unsere Ereignissemantik, daß das Treffen der beiden begonnen hat, sobald sich einer der beiden zum Zielort aufgemacht hat, und daß es abgebrochen ist, sobald einer der beiden seine Bewegung zum Zielort aufgegeben hat.

Natürlich gewahren wir die Analogie der Satzform, mit der wir Ereignisse erfassen, zu Aussagen der Art wie „Es regnet“, „Es schneit“, „Es wird Tag“.

Statt zu sagen: „Es regnet“, „Es schneit“, „Es wird Tag“ müssten wir laut unserer primitiven Notation hinschreiben:

E1 (regnen) (Wassertropfen)
E2 (schneien) (Schneeflocken)
E3 (tagen) (Sonne, Erde)

Wir bemerken weiterhin, daß wir Ereignisse wohl nach dem Ort ihres Stattfindens und der Zeit ihrer Dauer individualisieren, sie aber nicht mittels anderer Kategorien des Aristoteles qualifizieren können. Nur ein Etwas kann blau oder grün sein, das Ereignis, daß das Kind mit einem blauen Ball spielt, ist selbst nicht blau und hat keine farblichen Eigenschaften.

Wenn wir unsere Semantik so festlegen, daß wir nicht Einzeldinge wie Bälle oder Eigenschaften wie blau zur Grundausstattung unserer Ontologie wählen, sondern Ereignisse, sind wir der Anfechtung, uns fragen zu müssen, welcher tieferliegenden Instanz wir unsere Farbbegriffe zuschreiben sollen, glücklich ins Land der farblosen (das heißt weder farbigen noch unfarbigen) Ereignisse entronnen.

Uns scheint, daß wir die Kategorien des Aristoteles für die Ereignissemantik im wesentlichen auf Ort, Zeit und Relation reduzieren können, denn Ereignisse haben eine Dauer und eine lokale Umgebung und spielen sich im Bezug auf andere Ereignisse vielleicht früher oder später oder gleichzeitig ab. Aber beispielsweise sind die aristotelische actio und passio, das Tun und Widerfahren, nunmehr keine eigenständigen Kategorien, sondern Elemente von Ereignissen selbst. Statt zu sagen „Das Kind hat Schmerzen“, sagen wir nämlich:

E (Schmerz empfinden) (Kind)

Wir können die Wahrnehmungsqualitäten in die Satzform für Ereignisse einbauen, indem wir schreiben:

Es spielt (Kind, (Ball (blau)))

Wobei klar ist, daß der jeweilige Ausdruck in Klammern dem vorstehenden Ausdruck zugeordnet ist. Die Farbe Blau wird also dem Objekt „Ball“ zugeordnet und nicht dem Funktor der Aussage „Es spielt“.

Wir können die hierarchische Klammerverschränkung immer weiter bis zur Unübersichtlichkeit treiben und zum Beispiel notieren:

Es spielt (Kind ((weiblich, blond, ängstlich, hochbegabt)), Ball ((blau, glatt, rund, luftgefüllt, elastisch, aus Gummi)))

wobei wir phänomenale und reale Begriffswörter reihen, ohne uns ontologisch in Bezug auf die Gesamtaussage über das Ereignis festlegen zu müssen. Denn es könnte sich dabei auch um eine Aussage über ein irreales, geträumtes oder phantasiertes oder nur mögliches Ereignis handeln.

Statt zu sagen: „Ich sehe den Mond, wie er gerade aufgeht“, sagen wir: „Ich sehe den Mond aufgehen“ oder „Es mondet“ und analysieren diesen Satz so:

E (aufgehen) (Mond)

Ich nehme das Ereignis E wahr und es besteht mindestens aus den Ereigniselementen „Mond“ und „Erde“. Denn was „aufgehen“ in Bezug auf den Erdtrabanten heißt, verstehen wir nur in Relation zu unserem irdischen Stand- und Beobachtungsort.

Wir müssen also korrekt notieren:

E (aufgehen) (Mond, Erde)

Mit diesem Schritt gelangen wir zur Annahme begrifflicher Zusammenhänge oder Matrizen (Blaupausen, Strukturpläne), die den jeweiligen Ort der Begriffe angeben, mit denen wir auf Ereignisse Bezug nehmen. Der singuläre ontologische Fixpunkt der aristotelischen Substanz könnte auf diese Weise von einer komplexen Übersicht über die zu einer Bezugnahme auf Ereignisse notwendigen und hinreichenden begrifflichen Matrizen abgelöst werden.

Wenn wir also aus dieser Sicht unsere Rede vom Mond betrachten, dann impliziert sie die Rede vom Mond als dem Planeten der Erde, von der Erde als dem Planeten der Sonne, von der Sonne als dem Zentralgestirn unseres Sonnensystems, von unserem Sonnensystem als Element der Menge aller Sonnensysteme unserer Galaxis, von unserer Galaxis als Element der Menge aller Galaxien, die das Weltall bilden.

Der Ereignissatz „Es mondet“ hat also die Satzform:

E (aufgehen) (Mond, Erde, Sonne, Sonnensystem, Galaxis, Weltall)

Wenn wir desgleichen aus dieser Sicht unsere Rede von dieser Tulpe in dieser Vase betrachten, dann impliziert die Rede von Pflanzen die Rede von Tieren, die Rede von Tieren die Rede von etwas, von dem wir nicht wissen, ob es eine Pflanze oder ein Tier ist, die Rede von Lebewesen impliziert die Rede von nicht lebenden Entitäten und Stoffen. Hier können wir die Rede sistieren und müssen nicht von der Rede von nicht lebenden Entitäten übergehen zur Rede von einer Entität oder einem Etwas überhaupt.

Statt zu sagen: „Dort steht eine Tulpe in der Vase“ sagen wir „Dort tulpt es in der Vase“ und wir analysieren den Satz so:

E (erscheinen) (Tulpe, Vase)

Wir bemerken, daß wir mittels unserer simplen Notation nicht nur die semantische Fixierung auf Entitäten reduzieren, sondern auch den ontologischen Unterschied zwischen Phänomen (Farbfleck, Objekt der Wahrnehmung) und Realität (Kind, Ball, Mond, Tulpe) ausklammern können. Die allgemeine Satzform für Ereignisse wird beiden Ontologien gerecht.

Wir können diese Sicht der Dinge auch auf das modale Gefüge ausweiten. Statt zu sagen: „Ich habe beobachtet, daß es damals hier nicht regnete“ sagen wir: „Ich habe beobachtet, daß ein bestimmtes mögliches Ereignis, das hätte eintreten können, nicht eingetreten ist.“

Damit entgehen wir den Fallstricken der Annahme nichtexistierender Entitäten, wie des Regens, der nicht eingetreten ist, und bekommen semantische und ontologische Klarheit, wenn wir einsehen, daß die Negation harmlos wird, wenn wir sie nicht auf eine bestimmte Entität, sondern auf ein mögliches Ereignis anwenden.

Wie entscheiden wir über die Realität oder Irrealität von Ereignissen? Indem wir festlegen, daß sie von anderen Ereignissen einbegriffen werden, von deren Realität und verifizierender oder bestätigender Kraft wir methodisch ausgehen. So legen wir fest, daß die intersubjektiv kontrollierte Beobachtung des Ereignisses, daß dort ein Kind mit dem Ball spielt, die Realität dieses Ereignisses definiert. Wir sind faktisch genötigt, an einem bestimmten Punkt der potentiell unendlichen Reihe von Einschließungen von Ereignissen in Ereignissen einen konventionellen Schlußstrich zu ziehen und zum Beispiel zu sagen: Wenn das Ereignis der intersubjektiven Beobachtung das Ereignis des Spiels einschließt, gilt es uns für real. Weiter kommen wir nicht, aber das genügt uns.

Wenn du dir Gewißheit über die Realität oder Irrealität des Ereignisses des Abwurfs der Atombombe über Hiroshima am 6. August 1945 verschaffen willst, begibst du dich in die Archive, wo dir Dokumente der Beobachtung jenes Ereignisses in Form von Fotos, Filmen, Zeugenberichten oder Meßwerten zur Radioaktivität zur Verfügung gestellt werden. Deine Beschäftigung mit dem Thema kann Tage oder Wochen dauern, an einem oder mehreren Orten stattfinden, all diese Aktivitäten fassen wir zum Ereignis deiner Beobachtung und Bewertung des damaligen Geschehens zusammen, wobei dieses sich wiederum einzig in den Zeugnissen und Dokumentationen, also Beobachtungsdaten, des ursprünglichen Ereignisses des Abwurfs der Atombombe und ihrer Folgen erschließt und zugänglich ist. Wir haben also folgende Einschreibungen, Einschließungen oder Verklammerungen von Ereignissen:

E3 (E2 ((E1))

wobei E1 das ursprüngliche Ereignis, E2 seine archivalische Dokumentation und E3 deine Beobachtungen und Bewertungen bedeuten.

Natürlich können wir uns vorstellen, daß eine weitere Person deine Beobachtungen und Bewertungen beobachtet und bewertet, so daß sich folgende Form der Verklammerung von Ereignissen ergäbe:

E4 (E3 ((E2 (((E1)))

Doch bemerken wir bald, würden wir mit diesem Verfahren fortfahren, daß sich die merkbaren oder relevanten Differenzen zwischen den Beobachtungsereignissen aufzulösen beginnen wie die immer dünner werden homöopathischen Dosen in einer Tinktur. Demnach ist es vernünftiger, die Reihe schon bei E3 abzubrechen, als sie ins Unübersichtliche weiterzutreiben.

Wir bemerken weiterhin, daß du trotz des überwältigenden Dokumentationsmaterials, das die Realität des ursprünglichen Ereignisses bezeugt, nicht argumentativ gezwungen werden kannst, diese Realität auch anzunehmen. Du könntest die Glaubwürdigkeit von Zeugen und den Wahrheitswert von Dokumenten anzweifeln, von Fälschung oder Manipulation ausgehen.

Die Realität von Ereignissen anzunehmen ist eine Frage vernünftiger Abwägung, nicht von argumentativer und logischer Ableitung. Es ist vernünftiger, die Realität dieses Ereignisses anzunehmen, als sie zu bestreiten, und es unvernünftiger, die Irrealität dieses Ereignisses anzunehmen, als sie zu bestreiten, und es ist vernünftiger, die Irrealität dieses Ereignisses zu bestreiten als sie anzunehmen.

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