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Von Gründen und Maßstäben

18.09.2019

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Die Ros’ ist ohn warumb
sie blühet weil sie blühet
Sie achtt nicht jhrer selbst
fragt nicht ob man sie sihet.

Angelus Silesius

Den Maßstab legen wir fest und messen MIT ihm, ihn selbst messen wir nicht.

Etwas anderes ist es, vom Maßstab zu sprechen, etwas anderes vom Gemessenen. Hat der Lehrling den geeigneten Maßstab angelegt und richtig gemessen, kann dies Anerkennung oder Lob verdienen, hat er falsch gemessen, Tadel. Doch wenn wir einen ungeeigneten Maßstab verwenden, ein dehnbares Gummiband zur genauen Vermessung der Kante eines starren Körpers, ist dies nicht falsch, sondern unsinnig; wir verdienen nicht Tadel, sondern ernten nur Kopfschütteln.

Wir gehen um das Haus herum und betrachten seine Größe, Lage, Bauform; um die Sprache, das Denken, das Leben, die Welt können wir nicht herumgehen, sie von außen betrachten und vermessen.

Das Selbstverständliche, Einfache, Triviale ist kein Grund, auf dem wir stehen; es schwebt gleichsam in der Luft.

Das Einfache und vor Augen Liegende ist, was keiner sieht, was grundlos aus sich west.

Lebten wir in einer Welt, in der unsere Partner, Freunde, Kollegen plötzlich verschwänden (nicht stürben, sondern sich in Luft auflösten), bräche unsere Weise des Redens, Tuns, Erinnerns in sich zusammen.

Wenn wir davon ausgehen müßten, daß die Person, die uns heute ein Buch, Geld, ihr Auto geliehen hat, morgen spurlos von der Erdoberfläche verschwunden sein könnte, würden wir ihr heute nicht versprechen (oder nur mit äußersten Vorbehalten), ihr nächste Woche das geliehene Gut wieder auszuhändigen.

Die Philosophen, die von der Vernunft, der Rationalität und allen Verfahren der Begründung vollständig eingenommen sind, werden von einem Verlangen getrieben, das, uneingeschränkt und gleichsam ohne Schatten, gedankenlos und dumm ist; denn das jeweilige Spiel der Gründe läuft in seinem jeweiligen Rahmen ab, und dieser läßt sich klarerweise nicht wieder begründen oder mit gleichsam letzten Gründen oder für sich selbst sprechenden Evidenzen rechtfertigen; er ist weder vernünftig noch unvernünftig, weder rational noch irrational, nicht wahr und nicht unwahr (wie das organische Leben selbst).

Es liegt an uns, wo wir die Reihe der Gründe und Begründungen abbrechen oder in den Nebel des Ungewissen, Unerforschlichen oder Gleichgültigen tauchen lassen. Sie war dir untreu, er hat dich verraten: Das zu wissen genügt, mit ihnen zu brechen; denn wer weiterfragt, verirrt sich in einem psychologischen Labyrinth aus Gründen und Abergründen.

Die einen sehen ein geistiges Licht, die anderen verharren im alltäglichen Grau in Grau. Die Erleuchteten können den anderen nicht mit Gründen und Evidenzen kommen, sie eines Besseren zu belehren – und umgekehrt.

Wer damit rechnen müßte, daß die Person, mit der er sich zu Bett gelegt hat, am anderen Morgen eine andere sein könnte (oder er selbst ein anderer), hätte den Rahmen, in dem wir von Vertrauen, Liebe, Freundschaft reden, schon verlassen oder nie sich darein gefunden.

Wir verstummten augenblicks, würden wir den Anfang des ausgesprochenen Satzes, kaum daß wir ihn beendet hätten, schon vergessen haben; oder würden wir annehmen, daß der Satz, der uns über die Lippen kommt, eine Eingebung oder Einflüsterung einer fremden Macht (wie unseres Nervensystems, unserer Triebe, der Algorithmen des neuronal verkörperten linguistischen Systems) wäre.

Die Ballspieler, die Schachspieler spielen nach Regeln; aber nicht jede ihrer Bewegungen und Züge kann aus dem Regelwerk abgeleitet oder prognostiziert werden.

Ein Sonett, das sich gleichsam algorithmisch aus dem Vorschriften für die Verwendung von Metrum und Reim, Strophe und Aufbau zur Bildung von Sonetten ableiten ließe, wäre kein Gedicht.

Wir stehen am Fenster und sehen dem Treiben der Welt zu; aber die Tatsache, daß wir es sind (und niemand sonst), die dort stehen, daß wir es sind, die dort unseren Betrachtungen nachgehen (und gerade diesen und keinen sonst), hat keinen tieferen Grund; anders als die Tatsache, daß jetzt ein Blatt vom Baum des Nachbargartens fällt, daß jetzt der Mond aufgeht oder daß wir jetzt müde werden.

Es ist unsinnig zu sagen, an unserer statt könnte auch ein anderer am Fenster stehen, ein anderer fühlen und denken, was wir denken, ein anderer geboren worden sein.

Wir können nicht wissen, was es heißt, zu sein, wer wir sind, denn es zu wissen implizierte die Möglichkeit, es nicht zu wissen.

Wir vertrauen darauf, daß die Erde nicht plötzlich nachgibt, wenn wir über die Türschwelle treten, daß wir an unserem verabredeten Treffpunkt den Freund erkennen, daß wir seine Äußerungen verstehen – aber wir können es nicht wissen.

Wir können nicht beweisen, daß wir nicht offenen Auges träumen, wir können nur darauf bauen.

Sicher, die Historiker können Gründe geltend machen für den Ausbruch des trojanischen Krieges – doch welch seltsamen Kriegsgrund sahen die Beteiligten, wenn sie sich die Geschichte vom Priamossohn Paris aus Troja und dem Versprechen der von ihm erkorenen Göttin Aphrodite erzählten, ihm die schönste Frau auf Erden, die mykenische Helena, zu verschaffen.

Welche Weisheit in der kreationistischen Mythe, das Schöpferwort eines allmächtigen Gottes habe den Zustand hervorgebracht, in dem wir uns nun einmal vorfinden. Welche Stupidität in der evolutionistischen Annahme, die ganze Angelegenheit sei auf ein paar Mechanismen der Auslese und Anpassung zurückzuführen, die am Ende Organismen mit extravaganten Gehirnen hervorbrachten, so daß sie sich nun fragen können, was sie hier treiben.

Es ist wie mit dem Schlucken oder Atmen, wenn man überscharf und überwach darauf achtet und lauert, kommt man aus dem Takt oder wird verrückt.

Die Entdeckung, daß wir nichts mehr sagen, wenn wir das Behauptete gleichzeitig verneinen, die Entdeckung des Logischen überhaupt, gleicht dem hellen Klang des Wittgensteinschen Spatens, der vom harten Fels der Normativität der Sprache abprallt.

Der Sinn der Rede ist nicht gegeben, sondern aufgegeben, nicht Entität, sondern Norm; wir verstehen die Aussage als Aussage, die Aufforderung als Aufforderung, die Frage als Frage, die Antwort als ihr angemessen, andernfalls öffnen wir das Spundloch im Boot der Rede und versinken in den Fluten des Unsinns.

Der Sinn des Gesagten, der Gedanke, ist keine Entität oder Proposition, sondern die Spur eines Tuns, die auch die Spur eines Fehltritts sein kann. Deshalb korrigieren wir Äußerungen am Maßstab des Korrekten, Richtigen, Angemessenen.

Wir sagen, jemand habe sich im Ton vergriffen, wenn seine Äußerung im Verhältnis zum geringfügigen Anlaß überreizt und schrill oder angesichts einer dreisten, ehrverletzenden Äußerung kleinlaut und leisetreterisch war; den Maßstab unserer Beurteilung entnehmen wir der jeweiligen Situation, die wir intuitiv erfassen müssen.

Wir sagen, einer habe gut reagiert, wenn er dem Maulhelden oder dem schamlosen Lügner über den Mund gefahren ist; in einer Welt, in der Maulhelden verehrt und Lügner bewundert werden, stehen wir freilich auf verlorenem Posten. – Von einer allgemeinen Idee des Guten oder einem universellen Maßstab des Richtigen kann jedenfalls keine Rede sein.

Das joviale Auftreten und freimütige Plaudern erheitern die gemütliche Freundesrunde, sind aber auf der Beerdigungsfeier deplaziert. – Freilich, einer mag mit der Rezitation von Trakl-Gedichten und nekromantischem Geraune auf der Party Eindruck schinden.

Unser Mißgriff bei den geeigneten Maßstäben ähnelt bisweilen der enharmonischen Verwechslung der Noten As und Gis; auch wenn sie gleich klingen, gehören sie doch unterschiedlichen harmonischen Reihen an.

Wenn wir vom Wege abgekommen sind, erkennen wir dies manchmal daran, daß die Wegmarken nicht mehr das Ziel oder den Namen des Ortes anzeigen, zu dem wir aufgebrochen sind.

Wir können nicht irren, ohne von etwas Gewissem ausgegangen zu sein.

Wir müssen etwas im Sinn gehabt haben, wenn uns unser Unterfangen plötzlich sinnlos dünkt.

Wir können nur befragen, was nicht gänzlich ohne Sinn daherkommt.

Wir hoffen, an Türen zu klopfen, die uns aufgetan werden.

Wenn wir alles in Frage stellen, zerstören wir den Sinn des Fragens.

Wir können uns nicht als Bewohner oder Elemente eines alles umfassenden, universellen Bezugsrahmens sehen und verstehen, ob wir ihn Kosmos, Leben oder Gesellschaft nennen. Sicher sind wir Teil des Kosmos, aber wir gingen in die Irre, verstünden wir uns ausschließlich als gesetzmäßige Kombination physikalisch-chemischer Elemente und Strukturen, gewiß sind wir Teil der organischen Natur, aber uns entgingen die Pointe und der ganze Witz, verstünden wir uns einzig als emergente Komplexion neuronaler Netzwerke, und wir starrten blöde in den Spiegel, begriffen wir uns nur als der Sozius oder das Double des anderen.

Wir sind nicht die Summe oder Komplexion unserer Empfindungen, Intentionen und Erinnerungen; denn wäre dem so, wären unsere Gefühle und Gedanken Inhalte oder Funktionen einer ablösbaren, objektivierbaren Entität, gleichgültig, ob wir sie Seele nennen oder mit dem Gehirn ineinssetzen.

Auch wenn ich ohne Augen und Sehzentrum nichts sehen könnte, sieht mein Gehirn nicht, was ich sehe.

Du könntest deine Erinnerung, gestern deinen Freund Peter im Park getroffen zu haben, mittels Aufweis von Gründen als korrekt beschreiben, indem du beispielsweise Zeugen für die Korrektheit des Satzes benennst: „N. N. hat gestern Peter im Park getroffen.“ Doch dieser wahre Satz, durch objektive Gründe gerechtfertigt, wäre seinerseits kein Grund für den Nachweis der subjektiven Tatsache, daß es sich bei der Erinnerung, gestern Peter im Park getroffen zu haben, um DEINE Erinnerung handelt.

Wenn du dich irrtümlich erinnerst, gestern deinen Freund Peter im Park getroffen zu haben (denn es war vorgestern), bleibt es doch deine wenn auch irrtümliche Erinnerung, die jeder möglichen Rechtfertigung durch den Aufweis objektiver Gründe entbehrt.

Unsere Empfindungen, Gefühle, Erinnerungen sind keine seelischen Inhalte, die wir uns korrekt oder versehentlich zuschreiben können.

Wir sind wie der eigene Schatten, auf den wir nicht springen können.

Für das, was wir unmittelbar sind und erleben, haben wir kein völlig angemessenes Bild und keine erschöpfende Metapher oder bleiben alle Vergleiche unzulänglich und ohne handlichen Maßstab; wenn Sappho die erotische Erfahrung mit einer sie durchrieselnden Glut vergleicht, klafft eine Lücke zwischen all den Bildern von Körpern, die wir je haben brennen sehen, und der Innigkeit der Empfindung der Liebenden, die sich als glühend erlebt. – Glut, die nichts verzehrt als sich selbst, Feuer, das sich vom Mark der Imagination nährt, Rose, die für sich selber blüht.

 

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