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Wenn der Nebel sich lichtet

10.11.2020

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Wir gehen Schritt für Schritt; doch ab und an machen wir einen Sprung.

Wir begutachten und zählen die Bestände, wo eine Lücke klafft, verweilen wir länger.

Die Schatten, die uns im dichten Nebel narren, geben keinen Anlaß zur Hoffnung.

In groben Zügen wissen wir, was kommt; aber die Überraschung läßt nicht lange auf sich warten.

Wir können die Trivialitäten und die billigen Kupfermünzen des Lebens abzählen wie die Kardinalzahlen; aber die Höhen und Tiefen, die Goldtaler und die gefälschten Scheine, sind wie die Reihe der Primzahlen nicht vorhersehbar.

Aus dem Labyrinth des Lebens führt uns kein Zauberfaden in eine helle Lichtung des Seins; am Ende wartet der gefräßige Minotaurus.

Es läßt sich nicht beweisen, daß der Mensch, der eben aus dem Bett aufsteht, derselbe ist, der sich gestern Abend hineingelegt hat; aber wir gehen fest davon aus. Täten wir es nicht, bräche unser System der Verständigung und Kommunikation zusammen; denn wer wollte demjenigen seine Schulden begleichen, von dem er nicht mit Sicherheit zu wissen meint, daß eben er und kein anderer es ist, der ihm das Geld geliehen hat.

Wenn wir keine Unterschiede und Brüche wahrnehmen, gehen wir umstandslos von der Kontinuität der Ereignisse aus. So hören wir das langsame Tropfen des Wasserhahns in einer kontinuierlichen Abfolge von Takten. So spinnen wir den Faden der Erinnerung, auch wenn wir nicht wissen, ob es stets derselbe ist.

Wenn wir allem mißtrauen, müssen wir auch uns selbst mißtrauen; so kommen wir zurück zur Gewißheit, nämlich davon, daß unser Mißtrauen da und dort nicht unangebracht und unser Vertrauen hie und da gerechtfertigt sein mag.

Die Sprache ist uns wie eine Erhebung in der Urlandschaft des Daseins; sie gewährt einige Aussicht, einigen Überblick; wer mutwillig in die Ebene absteigt, riskiert mit dem Verstummen die geistige Verdunkelung.

„Radikale Sprachskepsis“: Das heißt, mit dem Unkraut zweideutiger Begriffe auch die fruchttragenden Pflanzen roden und die schönen Blüten knicken.

Der korrekte sprachliche Ausdruck impliziert die Möglichkeit des nicht korrekten, das Verstehen das Mißverstehen, die Güte die Feindseligkeit, die Rede das Verstummen.

Die Lautgestalt der Worte mag arbiträr sein, nicht aber die grundlegenden grammatischen Strukturen, wie die Zeitformen oder die Modi des Verbs. Denn daß wir etwas als vergangen ansehen und etwas als möglich, gehört zu unser Art zu sein.

Aus der Relativität der Zeitmessung folgt nicht, daß wir darüber Zweifel hegen könnten, daß du nicht der Vater deines Vaters bist.

Das System unserer grundlegenden Überzeugungen ist wie die Erde, die sich weiterdreht, auch wenn wir schlafen.

Unser Glaube, daß sich unser Gesprächspartner nicht plötzlich in einen Jaguar verwandelt, steht fest, doch nicht auf demselben Boden wie unser Wissen, daß er, falls er Junggeselle ist, nicht verheiratet sein kann.

Um etwas zu wissen, müssen wir etwas und noch einiges mehr glauben.

Unser Wissen ist wie die Kleidung, die wir ausbessern oder wechseln können; unser Glaube ist wie die Haut, aus der wir nicht schlüpfen können. Es sei denn, sie wird uns abgezogen, wie die derben alten Griechen von der Erziehung sagten, sie sei eine Art der Schindung (Menander).

Unsere Meinungen sind wie gekochte und gewürzte Speisen, unsere tiefen oder trivialen Überzeugungen dagegen Rohkost.

Wenn wir die Rohkost unserer alltäglichen Gewißheiten würzen und kochen, macht uns der Genuß unpäßlich.

Unser Weltbild, das wir nicht artikulieren, sondern unserer Erfahrung und unserem Weltumgang stillschweigend synthetisch einverleiben, kongruiert mit den sprachlichen Distinktionen, wie jenen von unbelebten Stoffen, Pflanzen und Tieren; solche Distinktionen halten wir konstant, auch wenn die wissenschaftlichen Erklärungen ihres Ursprungs wie die von Aristoteles, Lamarck oder Darwin variieren.

Die Rosen, die wir kaufen, sind nur Blumen; die wir verschenken Rosen und Zeichen.

Zeichen sind eine Funktion dessen, was wir tun, nicht ein Gegenstand der Wahrnehmung.

Stille Tragödie eines Gelehrtenlebens: Kant nahm an, Sätze der Arithmetik und der Geometrie seien synthetische Sätze apriori, denn die reinen Formen der Anschauung, Zeit und Raum, kämen in ihnen zur Anwendung. Frege nahm an, die Sätze der Arithmetik seien analytisch, denn er glaubte, die Zahlen auf Mengen von Mengen zurückführen zu können. Russel wies ihm einen Widerspruch in dieser Erklärung nach, denn sie impliziert den Begriff einer Menge, die sich nicht selbst enthält, und damit den inkonsistenten Begriff der Menge aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten; denn diese Menge muß ja, wenn sie sich selbst nicht enthält, sich per definitionem selbst enthalten, und umgekehrt. Kurze Zeit vor seinem Tod kehrte Frege resigniert zur Auffassung Kants zurück.

Die Tatsache, daß wir die Reihe der Primzahlen nicht voraussagen oder mittels Axiomen ableiten und konstruieren können, ist ein Beleg für die Annahme, daß die Sätze der Arithmetik nicht durchgängig analytisch sind; doch kein Beleg dafür, daß sie durchgängig empirisch sind, denn wir können apriori jede Zahl darauf überprüfen, ob sie prim ist oder nicht.

Um rechnen zu können, müssen wir nicht wissen, was Zahlen sind, wie wir nicht, um jemanden zu versprechen, daß wir morgen zu ihm kommen, wissen müssen, was Zeit ist.

Die Dinge, derer wir gewiß sind, müssen wir nicht begründen; und zumeist lassen sie sich nicht begründen.

Der Grund dafür, daß ich die Treppe benutze, ist nicht meine Gewißheit davon, nicht einfach das Fenster öffnen und wegfliegen zu können, sondern meine Absicht, etwas einkaufen zu gehen.

Wenn der geistige Nebel sich lichtet, gewahren wir, daß da und dort, wo wir Bäume oder Sträucher vermuteten, nichts als Schatten waren; mit der Klarheit weichen Zweifel, Unbehagen und Angst. Der Himmel ist klar, wolkenlos und still; das scheint wenig zu sein, doch es ist alles, was uns vergönnt ist.

Die meisten tun so, als wüßten sie, was sie sagen, als hätte, was sie tun, überragende Bedeutung. Daher die verzerrten Mienen, daher die menschliche Komödie.

Rhetorik statt Philosophie, Phrasen statt Gedanken: das wilde Schütteln von Zweigen, an denen keine Früchte hängen.

Die Wahrheiten, die bleiben, sind bescheiden, wie die Tropfen, die sich bilden, wenn sich der Nebel lichtet; ja sie bleiben nicht einmal, sondern schwinden allmählich dahin (und werden von anderen abgelöst), wie die Tropfen, die unter der steigenden Sonne verdunsten.

Die Philosophie gibt keine Manifeste heraus, die von einem smarten Tagesrebellen vor der jubelnden Menge hinausgeschrien werden könnten.

Wenn der Nebel sich lichtet, warten in der Lichtung des Seins keine prächtigen Bilder auf uns, keine Idole, keine Siegeszeichen; da ist nur das ewige Gras, das unscheinbare Gras, das sich im Wind bewegt, dem ewigen Wind.

 

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