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Wittgensteins Sinnbilder II – der Gefangene

28.03.2019

Ein Mann steckt in einem Haus fest. Er versucht alle möglichen Wege, um nach draußen zu gelangen; so zwängt er sich durch den Kamin, der ist zu eng, will aus dem Fenster steigen, das ist zu hoch. Dabei steht die Tür die ganze Zeit offen.

Quelle: Norman Malcolm, Ludwig Wittgenstein, Ein Erinnerungsbuch, München und Wien 1958, Seite 68

Norman Malcolm, der später Dozent an der Cornell University in New York wurde, ist in seiner Studienzeit von seinem Lehrer O. K. Bouwsma auf Wittgensteins Wirken in Cambridge hingewiesen worden. Die hier zusammengefaßte Notiz stammt aus Malcolms Aufzeichnungen über ein Kolleg zu Fragen der Philosophie der Psychologie, das Wittgenstein 1946 an der Universität Cambridge hielt.

Das Bild des Gefangenen, der vergeblich durch ungehbare oder aporetische Wege ins Freie zu gelangen sucht, ist die zu einer kurzen Parabel erweiterte Gestalt eines Denkbilds.

Bei dem Gefangenen handelt es sich um jenen Denker, der versucht, ein Problem mit unzulänglichen Mitteln zu lösen. Gerade die Wege und Methoden, die er einschlägt und wählt, fruchten nicht und halten ihn in seinem Gefängnis fest.

So geschieht es, wenn wir glauben, die Bedeutung eines Wortes müsse etwas Bestimmtes und eindeutig Definierbares sein, wie ja das Wort „rot“ eine bestimmte Farbe und das Wort „Nase“ einen bestimmten Körperteil meint. Aufgrund des Bilds einer Landkarte, auf der jedem Ort der Name dieses Ortes zugeordnet ist, oder der Wahrnehmung einer Visitenkarte, die uns der Mensch überreicht hat, dessen Name auf ihr steht und an den wir uns zu erinnern glauben, wenn wir ihn lesen, erliegen wir der Suggestion, die Bedeutung eines Worts sei die Vorstellung, die wir mit der gemeinten Sache, auf Basis der Erinnerung oder der Assoziation, verknüpfen – als wäre sie wie ein Pfeil, in dessen Richtung wir auf den Ausschnitt der Welt blicken, den das Wort bedeutet.

Doch woher wissen wir, daß wir uns richtig erinnern, daß unsere Assoziation nicht trügt, der Pfeil in die richtige Richtung weist?

Und welche Erinnerung, welche Assoziation sollen wir mit Wörtern wie „und“, „aber“, „jeder“, „nicht“ oder „obwohl“ verbinden, die uns auf den Kern ihres Sinnes leiten?

Vielmehr verwenden wir solche Wörter, ohne jeweils einen spezifischen Gedanken an ihre Bedeutung in uns wachzurufen, ähnlich wie wir mit dem Löffel die Suppe verrühren, ohne darauf zu achten, daß wir mit der Hand jetzt nach rechts, jetzt nach links fahren.

Wenn wir glauben, die Bedeutungen der Wörter und Sätze spukten in unserem Kopf oder sie seien feste Elemente unseres Geistes, bleiben wir in einem Bild gefangen.

Die durch verfängliche Bilder ausgelösten Probleme sind Scheinprobleme – wie ja die Tür die ganze Zeit offenstand, durch die der scheinbar Gefangene hätte ins Freie treten können.

Indes, der Unterschied zwischen scheinbar und wirklich verschwimmt angesichts der Tatsache, daß der sich gefangen Wähnende eben dadurch gefangen ist.

Die Tür, die immer offensteht oder nur leicht angelehnt ist, führt nicht in den Sonn- und Feiertag der wahren Kontemplation und Erkenntnis reiner Ideen und Bedeutungen, sondern in den nüchternen Werktag des alltäglichen Sprachgebrauchs.

Wenn wir meinen, der wahre Satz sei ein Bild der Tatsache, müssen wir fragen, welches Bild wiederum diesen Satz abbildet usw.

Wir bleiben in diesem Zirkel gefangen, bis wir die Idee von der semantischen Relation zwischen Sprache und Welt als einer 1:1-Abbildbeziehung aufgeben.

Was du sagst, erhält die Bedeutung, die sich beim aktuellen oder virtuellen Hörer und Adressaten in seinen Reaktionen auf deine Äußerung zeigt. So antwortet er mit den Worten „Immer geradeaus!“ auf deine Frage, welcher Weg in den Ortskern führt, oder mit den Worten „Ich gebe es dir morgen zurück!“, wenn du ihn an das Versprechen erinnerst, dir das geliehene Buch wieder auszuhändigen.

Was wir tun, wenn wir reden, Fragen stellen und Antworten geben, etwas versprechen und an ein Versprechen erinnern, kommt dem Festzurren oder dem teilweisen Aufdröseln und Neuknüpfen des gemeinschaftlichen sprachlichen Netzes gleich, das unser alltägliches Dasein trägt.

Die Bedeutungen unserer Worte und Äußerungen sind kein verbaler oder schriftlicher Ausdruck von Ideen, Vorstellungen, Erinnerungsbildern und Assoziationen, keine Manifestation von mentalen Inhalten im Kopf, deren Berührung oder Annäherung an die Welt uns immer unsicher bliebe, sondern Wirkungen von sprachlichen Handlungen.

Die Bedeutung oder der Sinn einer Frage ermißt sich an den Möglichkeiten, sie zu beantworten. Läßt sich keine Antwort ausmachen, war sie eben sinnlos.

Der Sinn des Nachdenkens, den wir der Parabel Wittgensteins vom Gefangenen entnehmen, ist ein therapeutischer, nämlich, ihm den Ausgang durch die offene Tür zu zeigen. Wir müssen dem Gefangenen demnach nicht gewaltsam ein Loch in die Mauer hauen: Die Tür ist bereits vorhanden. Freilich, sie auf unseren wohlgemeinten Ratschlag hin als Ausgang zu benutzen, können wir dem Verwirrten nur anraten. Wir können es auch nicht stellvertretend für ihn tun, er muß selbst darauf kommen – oder auch nicht.

 

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