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Wittgensteins Sinnbilder XIX – das Zellophan

14.04.2019

Es ist sehr merkwürdig, daß man zu meinen geneigt ist, die Zivilisation – die Häuser, Straßen, Wagen etc. – entfernten den Menschen von seinem Ursprung, vom Hohen, Unendlichen u. s. f. Es scheint, als wäre die zivilisierte Umgebung, auch die Bäume und Pflanzen in ihr, billig eingeschlagen in Zellophan und isoliert von allem Großen und sozusagen von Gott.

Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, Werkausgabe Band 8, Frankfurt, 1984, S. 520

 

Wittgenstein war ein Mann, der gebetet hat; eine stereotype Gebetsformel vor allem seiner frühen Notizen lautet: „Möge der Geist mich nicht verlassen!“ Daß der Geist Gottes über den Wassern schwebt und der Geist der Tröster ist, den der Entrückte der verlassenen Schar der Jünger sendet, wußte er aufgrund der intimen Vertrautheit und der eifrigen Lektüre der Bibel in den Stellungen an der Front des Ersten Weltkrieges. Doch pflog er kein frommes rituelles Gebetsleben, schloß sich keiner Gemeinde an, wenn er auch immer wieder gerne Kirchen aufsuchte; so einst mit einem Freund auf einer Wanderung eine, wo der Umstand, daß dort ein Klavier stand (statt einer Orgel), seinen ausgeprägten Sinn für das Sublime und Weihevolle empörte. Daß er nach katholischem Ritus in Cambridge begraben wurde, ist ein schwer entzifferbares Siegel auf einem Leben, das man nicht sowohl fromm als vielmehr religiös in einem außerordentlichen Sinn nennen kann.

Wenn Wittgenstein allen Versuchen einer philosophischen oder rationalen Auslegung der Theologie bis hin zu den philosophischen Begründungen seiner Konversion durch Henry Kardinal Newman skeptisch oder ablehnend gegenüberstand, so nicht aus einer glaubenslosen oder atheistischen Einstellung heraus (wie bei Bertrand Russell), sondern inspiriert durch das, was er mit Kierkegaard als die Leidenschaft des Religiösen bezeichnete, die das Hohe und Unendliche nicht auf die Waagschale des Begriffs legt (sie würde zerbrechen), sondern wie ein „Lied aus der Ferne“ vernimmt.

Die göttlichen Dinge, die der Philosoph im obigen Zitat als das „Hohe, Unendliche“ anspricht, versagen sich dem Mund des nüchternen Denkers, und nur der Nüchterne denkt, weil er sich Rechenschaft gibt über das Gedachte und Gesagte, können aber dem Gemüt und Sinn des inspirierten Dichters und Musikers zufließen; in diesem Sinne inspiriert waren laut Wittgenstein beispielsweise die Romane Dostojewskis, vor allem Schuld und Sühne und Die Brüder Karamasow, oder Kompositionen von Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert und Bruckner.

Wenn man lebende Wesen wie Bäume und Blumen in Zellophan einwickelt und damit ganz umhüllt, sehen sie eine Weile noch gut aus, bald aber verkümmern sie und welken dahin – ihnen mangelt die Luft, aus der sie mittels Photosynthese Chlorophyll und Nährstoffe bilden. Das Höhere und Unendliche ist in diesem Sinnbild die Luft oder der Atem Gottes, und wird er vom Zellophan der Zivilisation gehindert, in unser Herz und Gemüt einzudringen, führt diese Weise einer spirituellen Abschnürung und Sterilisation zu unserem geistigen und seelischen Erstickungstod.

Wir sehen, so Wittgenstein, in diese unsichtbaren oder durchsichtigen Hüllen eingewickelt und verkapselt noch einigermaßen gut aus oder Menschen ähnlich, doch in Wahrheit sind wir munter durch die Alleen und Supermärkte laufend innerlich tot.

In den Evangelien wird dieser Zustand der abgestorbenen Seele sichtbar in den armen Schluckern, die lahm und blind oder übersät mit Geschwüren oder Leichname ganz und gar wie Lazarus durch die leise Berührung des Gewands oder das Liebeswort aus dem Munde dessen, der das Hohe, Unendliche verkörpert, auf wundersame Weise die Fülle des schönen Lebens zurückerhalten.

Von diesem verwandelnden, die tote Seele erweckenden Geist begegnet uns immer wieder ein Hauch in den Harmonien und Arien Mozarts wie (um nur zufällig dies Wenige herauszugreifen) in der Arie des Tamino „Dies Bildnis ist bezaubernd schön“ aus der Zauberflöte, wo der Hauch die erste Blüte der Liebesempfindung anrührt; oder aus der Grabmusik „Betrachte dies Herz“ (KV 42), wo sich der Geist der Liebe in der Trauer ausspricht.

Siehe:
https://www.youtube.com/watch?v=uVb12RXmM0M
https://www.youtube.com/watch?v=HRqUwaX2dLM

 

Das Leben der Zivilisation, auf dem sich immer schneller drehenden Laufband maschineller Routinen wild gestikulierend und brüllend, erschien Wittgenstein in seinen ärgsten Albträumen wie ein stummer Totentanz. Er, der Herr Ingenieur, war dabei keineswegs der Technik abgeneigt, sondern dem gespenstischen Geist der industriellen und sozialen Maschine, der diejenigen heimsucht und behaust, die sie erfinden und bedienen.

So auch in der Sprache: Sie ist ein lebendiger Organismus, und mitnichten eine regelförmig zusammengestoppelte Masse von Gliedern und Teilen: Sonst wäre auch eine Leiche gut genug; aber daß er lebt, immer wieder behaucht vom Hauch fühlender Sprecher, ist das Wunder.

Man könnte daher sagen, die Sprache ist der lebendige Körper der menschlichen Seele.

Daher können wir körperliche Gebrechen und Defekte sowohl als Sinnbild seelischer Krankheit als auch sprachlicher Pathologien benutzen. So dient uns die Farbenblindheit oder das Grau-in-Grau-Sehen als Sinnbild der Depression und die sprachliche Farbenblindheit als Sinnbild der Unfähigkeit, gewisse Bedeutungen, beispielsweise die Metaphorik eines Wortgebrauchs, wahrzunehmen.

Das Hohe, das Unendliche, der Geist der Liebe sind Metaphern, für deren Sinn wir, konditioniert in der Methode und Sprache der Wissenschaft oder abgestumpft durch das geistlose Gerede der Medien, blind geworden sind oder die wir vom Ernst nüchterner Erörterung wie einen dekorativen Flitter abstreifen.

Freilich, Wittgenstein ist der Auffassung, daß dieser Ernst, mit dem wir die Rationalisierung des Lebens bis in seinen Erstickungstod vorantreiben, eine erstarrte Maske ist, vergleichbar dem Schema des Begriffs, mit dem wir die Mannigfaltigkeit seiner Gebrauchsweisen überdecken, der Totenmaske der Sprache.

Auf diese Weise benutzt Wittgenstein den herabgeminderten, verarmten, entleerten Daseinsmodus der in Zellophan gewickelten Organismen als Sinnbild für unsere seelische Krankheit und unsere sprachlichen Pathologien.

 

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