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Wittgensteins Sinnbilder IX – der Verkehrsunfall

04.04.2019

Wir sagen angesichts einer verworrenen Lage, wir müssen uns zunächst einmal eine Übersicht über die Situation verschaffen. Wir steigen auf eine Leiter, einen Balkon, einen Aussichtsturm und sehen, was wir unten behindert von Sträuchern, Hecken, Mauern, Schatten nicht ins Auge fassen konnten. Wir sagen, wir müssen uns ein Bild von der Sache machen und ordnen auf dem Schreibtisch vor uns Papiere, Dokumente, Schriftstücke, um sie in eine sinnvolle zeitliche und sachliche Anordnung zu bringen.

Wittgenstein wurde zu seiner Idee, Gedanken seien ein Modell der Realität und Sätze funktionierten wie Bilder der Tatsachen, durch einen Zeitungsbericht über die Rekonstruktion eines Autounfalls in einer Gerichtsverhandlung angeregt. Dabei fungierten Spielzeugautos und kleine menschliche Figuren auf der Zeichnung einer Straßenkreuzung als Repräsentanten der wirklichen Autos und der echten Verkehrsteilnehmer.

Wir finden in diesem Modell Symbole von Gegenständen wie der Straßenführung, der Automobile und der menschlichen Verkehrsteilnehmer; aber auch die Abläufe und Ereignisse, auf die es entscheidend ankommt, finden an dem Modell eine einfache symbolische Übersetzung, indem der auf der Hauptstraße fahrende Wagen geradeaus und der in die Kreuzung einbiegende Wagen von rechts nach links bewegt wird, bis zu dem Punkt, an dem die Autos den Unfall verursachen und das eine in das andere kracht.

Die einfachste symbolische Beziehung läßt sich demnach als eindeutige Zuordnung eines Objekts zu seinem Symbol und als eindeutige Beziehung des Symbols zu einem Objekt auffassen. Die reale Beziehung der Objekte können wir dann in die symbolische Beziehung der sie vertretenden Symbole übersetzen. Im einfachen Falle der räumlichen Beziehung: Wenn das erste Auto links vom zweiten steht, dann steht das Symbol für das erste Auto links vom Symbol für das zweite.

In diesem Modell fungieren die Symbole für die menschlichen Verkehrsteilnehmer wie Namen für Personen: Wenn „Peter“ für Peter steht und „Hans“ für Hans, sehe ich, daß Peter links von Hans steht (oder fährt), wenn „Peter“ links von „Hans“ steht.

Wenn Peter links von Hans fährt und „Peter“ rechts von „Hans“ steht, ist unsere symbolische Wiedergabe nicht korrekt oder falsch. Wenn Peter rechts von Hans fährt und „Peter“ links von „Hans“ steht, ist unsere symbolische Wiedergabe ebenfalls nicht korrekt oder falsch.

Der Satz, der durch die Zeichen „Peter“ (fahren) „Hans“ dargestellt wird, heißt demnach: „Peter fährt links von Hans“ und er ist wahr oder ein wahrer Satz über einen bestehenden Sachverhalt dann, wenn Peter links von Hans fährt.

Woher wissen wir, daß „Peter“ Peter bedeutet? Uns wird jemand mit Namen Peter vorgestellt; nun haben wir ihn gesehen und wissen, wie Peter aussieht. Wenn wir an ihn denken, fällt uns dann der Name Peter ein, weil wir uns an seine schlanke Gestalt, seine braunen Haar und seine Art zu sprechen erinnern? Als trüge das mentale Bild der Person ein Etikett mit dem Namen „Peter“.

Doch woher wissen wir, daß unser Bild von Peter, das „Peter-Bild“, sich auf die Person namens Peter bezieht?

Wir haben das Rätsel des symbolischen Bezugs von „Peter“ auf Peter nur weitergeschoben und begegnen ihm jetzt erneut in dem Rätsel des symbolischen Bezugs des Bilds von Peter auf Peter.

Nehmen wir statt des figürlichen Modells des Verkehrsunfalls das zweidimensionale Modell der topographischen Karte, auf der die beiden Wagen von Peter und Hans durch einen roten und einen grünen Punkt eingezeichnet sind. Wenn wir Karten zu lesen gelernt haben, wissen wir, wie ihre Legende zu verstehen ist, bei der zum Beispiel das ikonische Zeichen einer Tanne oder Eiche für einen Wald steht, ein Anker für einen Hafen, ein Kreuz auf einem Kreis für eine Kirche, ein Fähnchen auf einem Rechteck für eine Burg und ein kleines Geweih für ein Forsthaus.

Wenn wir auf der Karte sehen, daß der rote Punkt links neben dem grünem Punkt liegt, verstehen wir, daß Peters Auto links neben Hansens Auto steht oder fährt. Doch um der symbolischen Wiedergabe die reale Stellung der Wagen zueinander zu entnehmen, müssen wir schon wissen, was links und rechts bedeuten.

Das Bild sagt uns nicht, es sei nur ein Bild – manche, die Bilder verbrennen, agieren so, als handele es sich um die Dargestellten. Das Zeichen sagt uns nicht, daß es ein Zeichen und was ein Zeichen ist.

Der Satz sagt uns nicht, daß er ein Satz ist und was ein Satz ist – und täte er es, dann in einem weiteren Satz, ja, in demselben Satz.

Der Name „Peter“ gibt uns keinen Hinweis darauf, daß er sich auf Peter bezieht. Und der symbolische Ausdruck des Gedankens keinen Hinweis darauf, wovon er handelt. Und doch können wir die Karte spielend lesen und benutzen den Namen „Peter“, wenn wir Peter treffen oder an ihn denken.

Der frühe Mensch macht sich aus einem Stein, einem Stück Holz, einem Bild an der Wand das Symbol seines Gottes, vor dem er opfert und betet. Von weitem sieht es so aus, als knie er vor einem Stein, als bete er einen Holzklotz an. Doch wir sollten sagen, dieser Mensch ist der Erfinder der ikonischen Schrift und der symbolischen Zeichen.

Kinder lernen es im Spiel, wenn sie mit Puppen sprechen, Puppen ankleiden und kämmen, sie mit einem Wägelchen spazieren fahren. Glauben sie, die Puppe, die sie „Susi“ nennen, sei Susi? In gewisser Weise schon; denn sie schimpfen manchmal und sagen: „Susi war heute nicht artig und bekommt keinen Nachtisch“ – und meinen damit in der Tat, daß Susi auf ihren Nachtisch verzichten muß.

Der Verliebte riecht am Blumenstrauß, den die Freundin ihm geschenkt hat, als wäre sie im Duft ihm nah, er küßt ihr Bild, als küsse er sie selbst, und flüstert dabei zärtlich ihren Namen, als könne sie ihn hören.

Der primitive Mensch formt sich ein Tonfigürchen und sticht eine Nadel in seine Brust, als töte er seinen Feind.

Goethe hüllte seine Handschrift der Marienbader Elegie in ein kostbares Futteral und barg sie in einem Schrein, als könne die Geliebte, der das Gedicht gewidmet war, darin eine Art Traumexistenz führen.

Wenn wir dem gegnerischen König Schachmatt sagen, haben wir keine Schlacht gewonnen, sondern das Spiel.

Dadurch daß wir ein symbolisches Plastikkärtchen in den Schlitz des Ablesegeräts stecken, gehören die wirklichen Äpfel und Bananen und Zeitschriften uns.

Unser Leben ist eingetaucht und verflochten in symbolische Handlungen, Gesten, Riten – deshalb können wir mit Puppen und Figuren als Modellen und Simulationen spielen, die topographische Karte lesen und verstehen, daß „Peter“ Peter bedeutet.

Doch wenn wir uns mit Peter verabredet haben und gehen wie gewohnt im Park spazieren und er würde sich plötzlich in Hans oder einen Hund verwandeln, müßten wie entweder glauben, wir seien verrückt geworden oder in eine exotische Welt verzaubert, in der uns der Boden unseres Alltags entzogen worden ist, auf dem wir recht und schlecht einhergehen und jemanden und etwas mit einem Namen rufen und einem Wort bezeichnen können.

Würde aus dem Auto, in das Peter eingestiegen ist, Hans aussteigen, wäre es mit unseren schönen Gedankenmodellen und der Wahrheitsfindung vor dem Gericht vorbei.

Daß „Peter“ sich auf Peter, wie er leibt und lebt, beziehen können muß, ja sogar auf den einstigen Träger dieses Namens, der zu Staub und Asche geworden ist, gehört zu den schicksalhaft anmutenden Bedingungen unserer Lebensform, die wir nur staunend bemerken können, im glücklichen Falle blind vertrauend, im unglücklichen heillos mit uns selbst zerstritten.

Daß wir aber „Peter“ nicht mit „Hans“ verwechseln und sogar aufgrund unserer Gedankenmodelle und Satzbilder herausfinden, daß nicht Peter, sondern Hans den Unfall verursacht hat, gereicht den frühen Schöpfern symbolischer Darstellung zur Ehre.

Allerdings erweist sich das Geschenk des allgemeinen Symbolismus bisweilen als ein Danaergeschenk – denn es verführt auch zu allem möglichen Lug und Trug, Denker-Tand und Dichter-Schmand, Aberwitz und Kunstbeschiß, Verleumdung, Verketzerung und Verlästerung bis hin zur Auslöschung des Namens oder einer wie auch immer gearteten damnatio memoriae.

Denn wir können unserer alten Feindschaft gegen Peter die Zügel schießen und freien Lauf lassen, indem wir meineidig vor Gericht ihm die Schuld an dem tödlichen Unfall zuschieben, wir können der Wahrheit Fallstricke bauen, sie ins Zwielicht der Halbwahrheit bugsieren oder sie kopfüber in den Morast der Unwahrheit stoßen.

 

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