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Zögernd auf der Schwelle

02.06.2023

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Plötzlich taucht ein Foto der Person auf, mit der wir seit Jahren geschäftlich oder anderweitig korrespondiert haben. Paßt nun das Gesicht zu der Vorstellung, die wir uns aufgrund des wenn auch nichtvisuellen Kontaktes von der Person gemacht haben oder nicht? – So oder so, glauben wir uns in unserer imaginären Annahme nun bestätigt oder enttäuscht: Es handelt sich in jedem Falle um eine philosophischer Betrachtung würdige Form von Täuschung.

Eine andere ebenso elementare Täuschung wird in der Meinung ersichtlich, daß der Menschheit ein großer Schaden entstanden wäre, wäre Mozart (oder ein anderer der Kulturheroen) nicht geboren worden oder als Säugling verstorben oder doch vor der Abfassung des Don Giovanni oder des Requiems. Denn etwas, was nicht existiert oder existiert hat, kann keine wohltuende (oder auch schädliche) Wirkung ausüben. – Fragen wir noch, welchen Verlust all jene unzähligen Generationen erlitten haben, die vor Mozarts Geburt und segensreicher Schaffenszeit gelebt haben und nicht in den Genuß seiner beseligenden Harmonien haben kommen können, so fragen wir nicht minder töricht.

Wir können unsere eigene und die Nichtexistenz anderer weder uns vorstellen noch begrifflich erfassen; es bleibt stets ein Schatten, Spiegelbild oder eine bizarre Art von Scherenschnitt, jeweils freilich gearbeitet nach dem lebenden Original.

Die Schwierigkeit, sich einen Begriff von der Seele zu machen, der sich gleichsam von allen physischen Schlacken purifiziert hat: Homers Schattenbilder und Dantes Jenseitsgestalten.

Es gibt einen begrifflichen Unterschied zwischen absoluter und relativer Differenz: wahr und falsch, ja und nein, künstlerisch gelungen oder mißlungen; dagegen mehr oder weniger schwer, groß, warm, schnell; intelligent, geschickt, talentiert.

Allerdings kann selbst das gut Gemeinte schiefgehen; das allzu schöne oder üppige Geschenk kann den Beschenkten beschämen.

Wir können der Versuchung kaum widerstehen, den Abgrund zwischen absoluten Gegensätzen mit den Schatten und Spiegelbildern des Relativen zu füllen.

Die mittels KI generierte Mozart-Sonate klingt zunächst wie ein Original, bevor sie den seichten Ton des Imitats oder Plagiats offenbart.

Kinder fragen, wo sie vor der Geburt waren. – Sie zweifeln an der Tatsache, daß es die verstorbene Großmutter „nicht mehr gibt“, weil sie von ihr geträumt haben.

Das Nichtsein ist nicht vorstellbar, nicht denkbar, ein gedankliches Unding: der erste Lehrsatz des Parmenides.

Der Satz „Der Kreisumfang beträgt in der euklidischen Geometrie 360 Grad“ ist nicht wahrer als der Satz „Peter war vorgestern mit mir im Park spazieren“, nur weil der erste uns mit größerer Gewißheit oder Evidenz ausgestattet scheint als der zweite.

Der Satz „4–2 = 8“ ist nicht falscher als der Satz „Sokrates war der Schüler des Platon“, nur weil die Inkonsistenz und somit Falschheit des ersten uns unmittelbar ins Auge springt, während die Unwahrheit des zweiten einem historisch und philosophisch Ungebildeten verborgen bleiben mag.

Die Liste der Wörter „über“, „alle“ „Gipfel“ „sein“, „Ruhe“ ist kein Teil eines dichterischen Zusammenhanges wie der Vers „Über allen Gipfeln ist Ruh“ es ist.

Das Nichtdichterische ist keine Vorform, kein Schattenriß, kein Spiegelbild des Gedichts.

Wir springen von der Prosa des Alltags in die Sprache der Dichtung, so wie wir nach Kierkegaard den Sprung von der lauen Gleichmütigkeit des Nichtglaubens in die Leidenschaft des Glaubens tun.

Sehr mißlich, fatal und töricht ist die Täuschung, die durch Projektion des Gegenwärtigen auf das Vergangene zustandekommt, als wäre das eine stets die unausbleibliche Manifestation des anderen oder das Heute eine neue Zwiebelschale auf der alten Haut des Gestern.

Die Gründe für den Ausbruch des Krieges liegen freilich in der Vergangenheit, ja können in Tiefenschichten geopolitischer, kultureller, ethnischer und sozialer Differenzen der Kriegsgegner wurzeln, deren Alter Jahrzehnte und Jahrhunderte umfaßt; doch der Befehl zum Angriff an diesem bestimmten Ort und zu dieser bestimmten Zeit hätte auch unterbleiben können.

Moralische Wahrheiten sind schon aus dem Grund nicht als unmittelbar einleuchtend, selbstevident oder als der Seele des Menschen eingepflanzt zu klassifizieren, wie es immerhin Platoniker, Stoiker und sogar Paulus annahmen, weil es in diesem erstaunlichen Falle keiner Gerichte, Strafen oder Ächtungen bedürfte.

Zu sagen, daß man nach diesen und jenen schrecklichen Ereignissen und Untaten dies und das nicht mehr tun könne, ohne die Toten zu verhöhnen oder sich selbst zu betrügen, zum Beispiel Gedichte zu schreiben, zeugt nicht von einem überempfindlichen moralischen, sondern einem unterentwickelten oder einseitig entwickelten ästhetischen Organ.

Wenige Tage nach der Katastrophe hört man wieder die Sektkorken knallen. – Das spricht nicht für die moralische Unbedenklichkeit der Feiernden, sondern für die tiefere Wahrheit des Lebens, das nicht umhin kann, sich selbst zu feiern.

Horaz, der sich selbst einmal ironisch als epikureisches Schwein bezeichnete, versteigt sich in den Römeroden zu härtesten Forderungen des Verzichts, des Opfermutes und der Selbstverleugnung; doch nur die eine Wahrheit auszusprechen und ihren Schatten geflissentlich zu retouchieren, hieße, nur die halbe Wahrheit zu bekennen.

Besser die doppelte Wahrheit als die schlichte Indifferenz.

Hedonismus zu predigen ist eine perverse Art von Pfaffentum.

Den Aufflug zu den Gipfeln des hohen Stils wie bei Pindar, Sophokles oder Horaz registrieren wir als Ausnahme von der Regel, im lauwarmen Wasser des Alltagsgeschwätzes zu planschen.

Mancher freilich, der sich den zu großen Kothurn untergebunden hat, zeigt einen bedrohlich schwankenden Gang.

Der den psalmodierenden Vortragsstil Paul Celans in der Runde der literarischen Biedermänner und Beckmesser mit demjenigen eines Goebbels verglich, war aufrichtiger in der Artikulation seines peinlichen Unbehagens als die Corona seiner philosemitischen Bewunderer.

Keine theatralische Maske, kein solitäres Gehabe und kein elitärer Dünkel schützen vor der Ansteckung mit dem Virus vulgaritatis.

Dummheit hält sich für das Maß aller Dinge und schreitet unbedenklich zur Tat; der denkende Mensch sieht sich im Kind des Heraklit, und versucht nicht erst, mit einer Muschel den Ozean auszuschöpfen. Zögernd auf der Schwelle kehrt er in seinen Elfenbeinturm zurück.

Der hohe Stil der antiken Dichtung ist gleichsam ein in gespanntester Syntax und überbelichteter Bildlichkeit eingefangener Wirbel des Schnees auf dem Olymp.

Der olympische Adler des Pindar rauscht wieder in den Hymnen Klopstocks und einzigartig in jenen Hölderlins. Doch ist die Luft, die seine Fittiche aufwirbeln, nicht luzid und transparent wie die mediterrane, sondern geisterhaft von ahnungsschwangeren Wolken verdunkelt.

Das Wagnis des hohen Tones und Stils im Deutschen, von Klopstock über Goethe und Hölderlin bis Rilke und Celan, gleicht dem Wagnis des Seiltänzers ohne Netz und doppelten Boden, der der Innervation seiner hymnischen Rhythmik in einem Maße vertraut, daß er schließlich auch die Balancierstange – nicht nur des Reims, nicht nur des Ruhms und des Applauses – wegwirft.

Was aber preisen, wen aber rühmen, wenn es zum Zerwürfnis mit den Vätern, zum Abbruch der Fühlungnahme mit den Ahnen kam? Vom geschmolzenen Schnee auf den Bergen der Götter zu schweigen.

Die Verlockung des Rätselhaften, jenes Enigmatischen, das den Orakeln und Göttersprüchen in ihrer Zweideutigkeit von jeher anhaftet, hat manchen nicht nur das Zögern auf der Schwelle des Takts leichthin überspringen lassen, sondern im Salto mortale ins Unverständliche an die Grenze der Groteske, der Parodie und Hysterie getrieben.

Der tragisch auf dunkel tönenden und beängstigend dünnen Eisflächen angehäufte, aber auch sentimentalisch in vermodernde Waldungen stiebende Wörterschnee eines Jürgen Kross ist zugleich ein Zeugnis hoher lyrischer Verdichtung auf engstem Raume und des unvermeidbaren Unglücks, das über den odisch atmen wollenden deutschen Vers in Form einer steil in die dünne Luft einer transzendenten Leere gereckten Bildlichkeit und der wurzellosen Ranken einer dämmerigen Syntax hereinbricht. Die bescheidene Lichtung, die ihm das schartige Messer eines formstarren Manierismus im Dickicht des sprachlichen Zerfalls der Gegenwart zu schneiden vermag, wächst im Rücken des heroischen Mannes augenblicks wieder zu, als sein eigener Schatten.

Man kann dem Leben sein Geheimnis nicht gewaltsam entreißen. Es ist stark genug, auf der Folterbank unserer herrischen Ungeduld und zuchtlosen Neugierde zu schweigen. – Die leise Geste, ein Anhauch des Nichtgesagten, tut es uns kund.

Ohne ein Bewußtsein, und sei es vage, bedrängt und ausweglos, wie am Rande des Grabes, ein Bewußtsein des Übermenschlichen versiegt der Quell der Hymnen; es bleibt nur ein trübes Rinnsal von Abwässern, in denen sich keine silbernen Wolken spiegeln.

Hermeneutik oder die Kunst der Interpretation wird asthmatisch, steckt sie die Nase in den Korb mit schmutziger Wäsche, erblindet, blickt sie scheel durch das Schlüsselloch in die zwielichtige Kammer der Perversionen.

Das in Mitgefühl sentimental zerfließende Herz, dem keine distinctio boni et mali eingepflanzt ist, kann den kaltsinnigen Verstand nicht erweichen, der ihm im Gegenteil anhand untrüglicher Belege, freilich vergeblich, nachzuweisen versucht, daß jener parasitische Dauergast, der den armen Teufel, den schwer Traumatisierten und ewig Unbehausten mimt, in Wahrheit ein verschlagener Tunichtgut ist, der sich an der Tochter des Hauses schon vergriffen hat.

Der hohe Ton und Stil kamen den Deutschen nicht zuletzt abhanden, weil die Jauche des massenmedial legitimierten Plebejergeschmacks längst über die sakrale Schwelle des hierarchisch-hieratischen Hochsinns geschwappt ist.

Es erleben alle alles, doch dem Erlebten den Stempel des Originellen und Exklusiven aufzudrücken vermögen nur die Seltenen.

Der starre Falter des gültigen Worts im Bernstein des Gedichts.

„Wenn ihre dionysische Gottheit sie inspiriert, träumen die Vulgären von fetten Ärschen und die ewig Empörten vom Schafott, während ein Baudelaire das Lied vom Wein des Einsamen singt.“

„Das klingt plausibel oder vielmehr allzu plausibel; denn nicht weniger wahrscheinlich ist es, daß derselbe von seiner dionysischen Gottheit inspirierte Dichter, nachdem es ihn in die Niederungen vulgärer Phantasien und bösartiger Ressentimentgefühle gezogen hat, sich mit einem Male umwendet, um seinen Aufstieg zum Sublimen anzutreten.“

 

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