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Das Brot des Lebens

29.04.2022

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Mit schlotternden Knien, am Katheder festgekrallt, tönt er vom großen Menschheitsprojekt.

Seinen Marktwert steigert, wer was alle sagen, lauter, schriller, grimassierender verkündet, Individualität beweist, wer schweigend sich abwendet.

Von allen extravaganten, raffinierten Speisen gekostet, doch das einzig nährt, das Brot des Lebens war nicht darunter.

Du wachst auf, und links und rechts sind statt Häusern tiefe Trichter, in denen schon Gras und Schellkraut sprießen. Hast du den Krieg verschlafen? – Was soll’s, stiller ist es immerhin geworden und ungescheuter fliegen dir in dieser Öde die Tauben zu.

Im Nachbarhaus stellt, sobald die Dämmerung hereinbricht, ein junges Mädchen eine brennende Kerze ins Fenster. – Doch nicht für dich, nicht für dich.

Doch ratsamer wäre es, so zu tun, zu träumen oder sich einzubilden, als gelte jene huldvolle Geste dir allein.

Und doch die Zauberflöte, und doch Tristan und der Rosenkavalier; was soll man mehr sagen, wenn all der Weltenlärm uns anficht.

Zwischen all den Phrasen, ob nun sentimental überzuckerten Kuchen oder satirisch scharf gewürzten Schnitzeln, fand er das ungesäuerte Brot der Wahrheit nicht.

Doch etliche und unter ihnen bewunderte oder verleumdete Philosophen, meinen, vom Brot der Wahrheit allein könne man nicht leben; jedenfalls nicht Hinz und Kunz, die von der Zuckerwatte und den gebrannten Mandeln der Jahrmärkte nicht abzuhalten sind.

Andererseits erfahren wir, daß einseitige Diät das Denken zu einseitigen Deutungen verleitet.

Wer alles nach moralischen Maßstäben betrachtet und beurteilt, übersieht die dämonische Dimension des Daseins, Wollust, Perversion, Geisteskrankheit oder Krieg, bei denen die Moral immer zu spät kommt.

Der Meisterkoch hat es nicht nötig, seine Gerichte marktschreierisch anzupreisen.

Nennt man Kultur das Geschick, die Flamme zu zähmen, um das Rohe in das Gekochte zu verwandeln, könnte man mit nicht minderer Plausibilität Dichtung das Geschick nennen, die Rohkost alltäglichen Geredes unter kontrollierter Anwendung des Feuers der Imagination in die sublime Kost des Verses zu verwandeln.

Doch nehmen selbst Naive und Illiteraten in fallenden Tropfen das rhythmische Muster, in Wolken Gesichter und in der Urgewalt der Sonne ein Göttliches wahr.

Volk und Nation, das ist die Summe gemeinsamer Erinnerungen an schicksalhafte Ereignisse, wie die Taufe Chlodwigs in der Kathedrale von Reims oder das Fällen der Donareiche durch Bonifatius.

Der zugefügte Schmerz, der verwehrte Genuß und der Verlust sind Wegmarken der individuellen Lebensgeschichte.

Nicht der gewährte, sondern der erwartete, der ersehnte oder verwehrte Gute-Nacht-Kuß der Mutter ist die Gründungserinnerung des Werks von Marcel Proust.

Nichts verpflichtet denjenigen, der gleichsam nackt und ungeschützt sich eigener Erfahrung ausliefert, zu ihrer Deutung auf ein überkommenes Deutungsmuster zurückzugreifen, schon gar nicht, wenn es sich dabei um einen Allgemeinplatz der öffentlichen Meinung oder ein Schulbuchklischee handelt, die zu ignorieren oder gar zu desavouieren dem Missetäter den Ruf des geistig Zurückgebliebenen, des Hinterwäldlers und Reaktionärs einbringt.

Das Charisma ist der Blitz, gleich jenem, von dem Semele getroffen den Dionysos gebiert, Gott, welcher Rebe und Rausch, weibliche Ekstase und das tragische Opfer bringt. Schriftgelehrte und amtlich bestallte Künder und Deuter leiten ihn mit ihren dicken Schwarten in gefällige allegorische Interpretationen ab, die sich ad usum Delphini eignen.

Das Charisma ereignet sich außerhalb der glatten Lebensverläufe von Alltagsbegegnungen, Karrieren oder Reisen; auch der scheinbar Unwürdige, ja Verworfene kann, wie der Heilige Dostojewskis, seiner teilhaft werden.

Das Charisma der Dichtung ist kein Kondensat der persönlichen Erlebnisse des Dichters, sondern eine zum biographischen Zeitverlauf gleichsam senkrecht stehende und ihn durchkreuzende Linie intensiver Vergegenwärtigung; deshalb erscheint sein Träger dem männlichen Dichter oft als schönes junges Mädchen, wie Beatrice dem Dante.

Beatrice, die Allegorie des danteschen Charismas.

Wir fragen nach der Bedeutung eines Begriffs, eines Wortes, eines Satzes, nur wenn wir auf einen Grundbestand fragloser Bedeutungen zurückgreifen können. Meist können wir die fragliche Bedeutung mittels Umschreibung oder Definition vorausgesetzter Begriffe ableiten oder bestimmen. Ein echtes Hapax legomenon gibt es in der Wortsprache nicht.

Auf Moses folgt Aaron, auf den Propheten der Priester, auf Hölderlin der Professor.

Am Sexus gewahrt man sowohl die animalische Natur des Menschen, Zeugung, Schwangerschaft und Geburt, als auch seine prekäre Stellung unter den Tieren, ungezügelte Begierde, Triebhaftigkeit, Perversion.

An den Organen sehen wir die animalische Herkunft; aber an der eigentümlichen Bildung von Hand und Fuß, Wirbelsäule und Becken, den Windungen des Gehirns die „Sonderstellung“ in der Tierreihe.

Wir sehen nicht nur die reife Frucht, sondern die Möglichkeit ihrer genetischen Manipulation.

Die Weidetiere sehen das Nahbild vertilgbarer Kräuter, wir die Tiere, die Weide, die blühende Wiese und die in der Ferne ragenden schneebedeckten Gipfel als Genrebild.

Das Untier Mensch siedelt überall, dringt in den Mikrokosmos und den Makrokosmos ein, will alles in Besitz und Beschlag nehmen, doch findet an und in sich selber keinen Halt.

Nach Bestäubung und Reifung folgt die Weitergabe des Kerns in der Frucht; nach der Belehrung und wenn es hochkommt der Meisterschaft folgen der Stillstand in Routinen und der geistige Verfall.

Archetyp: der da aufrecht die Pfade begeht und Beeren und Früchte in die umgehängte Felltasche sammelt; und jene, die aus dem Supermarkt kommen, mit ihren prall gefüllten Beuteln.

Der naturgeschichtliche Fortschritt, der über den Rahmen der Geschichte hinausführt: vom Tier über das Untier zum Übertier; die unter eugenischer Aufsicht erfolgte künstliche Befruchtung, hernach die Implantation von Schaltkreisen ins Gehirn, die das soziale Verhalten und die Gesinnung regulieren.

Die ins Gehirn implantierten Schaltkreise kommunizieren unmittelbar über elektromagnetische Wellen miteinander und gewissen algorithmisch gefütterten staatlichen Befehlszentralen; so werden wir der Unsicherheit, was zu denken, zu wünschen, zu tun sei, aufs glücklichste enthoben. Die zu Mißverständnissen, Mythologien und Imaginationen verleitende semantisch fundierte Sprache wird überflüssig und stirbt ab; oder wird gnädig abgeschaltet und außer Dienst gesetzt.

Der Hunger nach dem Brot des Lebens und der Wahrheit wird als eine krankhafte Form religiöser Indisposition oder Magenverstimmung verdächtigt.

Die Faszination der Flamme für den Falter, von Phallus und Vagina für den Kult des Frühmenschen, des Monds für die mutterrechtlich, der Sonne für die vaterrechtlich orientierte Menschheit. Aber das Kreuz? Nichts weniger faszinierend als das Kreuz.

Konstantin ist eine Wasserscheide, verbindet er doch das Kreuz mit dem imperialen Symbol der Sonne.

Die Madonna, der Morgenstern und die auf der Mondsichel Schwebende, bildet den Einspruch, der sich manchmal wie in der Dichtung Hölderlins und Rilkes dem Widerspruch nähert.

Gewiß, nur der Glaube wider alle natürliche Vernunft, an die Transsubstantiation von Brot und Wein bedeutet, was Hölderlin das Rettende nennt, aber vergeblich als das Kommende beschwört.

Nichts Rettendes käme, wäre kein Augenblick der Zeit enthoben. – Kann man es heute, mehr als ein Säkulum nach Hölderlin und Kierkegaard, beschwören oder behaupten, ohne sich lächerlich zu machen?

Worauf die Banalität der Heine und Brecht setzte, daß allen dampfende Fleischtöpfe den Hunger nach dem Brot des Lebens und der Wahrheit stillen, führte in größere Sklaverei als die der alten Israeliten unter dem Pharao.

 

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