Skip to content

Das kulturelle Unbewußte

27.01.2023

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Wenn wir von unbewußten, vorreflexiven Determinanten unseres Redens und Handelns sprechen wollen, müssen wir die schon habituell gewordene Blickrichtung nach innen, die Introspektion oder die Psychoanalyse hinter uns lassen und uns der Tiefenschicht des Äußeren, den Ablagerungen kultureller Formen, der Sprache, den sittlichen Gepflogenheiten, den Symbolen, zuwenden.

Das Ereignis Luther oder der Abfall von Rom, der die Religionskriege bis hin zum Dreißigjährigen Krieg zur Folge hatte, ist ins kulturelle Unbewußte der europäischen Geschichte aufgrund der kontingenten Tatsache eingeschrieben, daß Rom und die Cäsaren jene Gebiete Europas kolonisierten, in denen die Weintraube gedieh wie Iberien, Gallien und das südliche Germanien, das durch den Limes von der unbeherrschbaren Wildnis der nördlichen Stämme und Wälder eingehegt war. Als die Bischöfe die zugleich geistliche und weltliche Herrschaft auszuüben begannen, blieben diese Regionen gleichsam die Kronlande des Heiligen Stuhls.

Die alte Bruchlinie des Limes konfrontierte aufs Neue Preußen und Habsburg.

Das individuelle Bewußtsein schwimmt wie eine Schaumkrone auf der unbewußten Woge der Sprache.

Daß wir den anderen sowohl auf Augenhöhe begegnen als auch in der Distanz mehr oder weniger kühler Beobachtung, ist ein Reflex der grammatischen Struktur indogermanischer Sprachen, ihn mit „du“ anreden und mit „er“ und „sie“ beschreiben zu können.

Der auf dem schmalsten Grat sich tänzerisch bewegende Somnambule stürzt ab, wenn er erwacht und in den Abgrund blickt.

Der ganz ins Bewußtsein erhobene schöpferische Prozeß versiegt.

Das kulturelle Unbewußte kann als das Weltbild und die es tragende Ontologie zutage treten, das von bestimmten rätselhaften Äußerungen vorausgesetzt werden; so sagt das kleine Mädchen, es wolle nicht mehr in seinem Bett schlafen, weil in seinem Zimmer die Träume wohnen, die es erschrecken; oder der kleine Junge sagt, Gott müsse existieren, er habe ja einen Namen. Das kindliche Weltbild, das wir anhand solcher Äußerungen rekonstruieren können (wie es unter anderen Jean Piaget und Karl Bühler getan haben), geht von einer Art mythischer Personalität der Träume aus, wie wir sie auch im antiken Mythos finden; desgleichen von der Annahme, allem, was einen Namen habe, müsse eo ipso auch Existenz zugesprochen werden.

Der sich als harmloser Friedensstifter maskierende Dämon der uniformen Weltzivilisation ist angetreten, das kulturelle Unbewußte der Völker und Sprachen dem grellen, zerstörerischen Licht der Aufklärung, der technischen Verwaltung und globalen Überwachung auszusetzen.

Sprachen sind Organismen, denen man nicht ungestraft lebenswichtige Organe amputieren und sie durch künstliche ersetzen kann.

Wer alle Sprachen beherrschte, würde nichts mehr verstehen.

Die unvergleichlich verschiedenartige Metaphorik in den Redewendungen und Bildern der einzelnen Sprachen verbindet die Sprecher mit subkutanen Erregungsleitungen, die zwischen unbewußten kulturellen Zentren und Epizentren verlaufen, wie der Linie zwischen Moskau und Byzanz, Warschau und Paris, Wien und Venedig, Berlin und Königsberg, Belgrad und dem Amselfeld.

Das Nächste, das unseren Weg kreuzt, das Ähnliche und Verwandte, das uns verzerrt spiegelt, weckt unser Mißtrauen, unser Unbehagen, unseren Haß, nicht das Exotische, Fremde, uns ganz Unähnliche; Kain und Abel.

Die in ihren Metaphern und Bildern sedimentierte Mythologie der Sprache, die das Denken sowohl durch Trugbilder und Phantasmen verhexen als auch durch sinnvolle Wegmarken auf die Spur bringen kann.

Sprache ist wie die Gesellschaft eine Struktur und kann nicht von einem Zentrum aus gesteuert werden.

Die Idiolekte und Semantiken der verschiedenen sozialen Gruppen können nicht in eine ideale Metasprache übersetzt werden, auch wenn Medien und Politik dies für sich beanspruchen oder vortäuschen, alle Äußerungen durch das Stahlbad einer einheitlichen Hypermoral sich ineinander spiegeln zu lassen.

Wolke und Kristall – Extreme dichterischen Ausdrucks.

Die Ordnung der chemischen Elemente, die Kombinatorik der Atome und Moleküle, die Taxonomie der pflanzlichen und tierischen Organismen: die Taxonomie der grammatischen Strukturen der natürlichen Sprachen.

„Hier bin ich“ – der Kern der sprachlichen Pragmatik; „Dort geht er“ – der Kern der beschreibenden Rede; „Dort ging er“ – der Kern der historischen Darstellung (und der fiktiven Prosa).

„Hier bin ich“ – diese Äußerung bezeugt sich selbst, sie bedarf keiner Bestätigung und keines Beweises. „Dort geht er“, „Dort ging er“ – diese Äußerungen bedürfen, wenn sie sich auf eine bestimmte Person beziehen, der Bezeugung und Bestätigung.

Je verdichteter, konziser, kristalliner der dichterische Ausdruck, umso rätselhafter und erregender, je minutiöser, ausführlicher, redundanter, umso langatmiger und fader.

Wenn die Person, die sich an einem bestimmten Datum zu einer bestimmten Uhrzeit an einem bestimmten Ort aufhält, Peter heißt, können wir den Namen Peter durch die Formel P (l, t) (wobei t und l die spezifischen Zeit- und Ortsangaben angeben) ersetzen. Dagegen können wir den Ausdruck „Ich“, wenn die Person namens Peter von sich spricht, durch die genannte Formel nicht ersetzen.

Eine Äußerung in der ersten Person ist unter normalen Äußerungsbedingungen ein eindeutiger Indikator oder ein Kriterium für das Dasein einer ihrer selbst bewußten Person.

Allerdings ist die Äußerung des Kleinkindes Peter „Peter Schoß“ nur scheinbar eine Äußerung in der dritten Person, meint aber: „Ich will auf dem Schoß sitzen.“

Die personale Ordnung ist sphärisch: Wir lokalisieren und temporalisieren uns in der Mitte einer ontologischen und epistemologischen Kugel. Objekte und Ereignisse in der Nähe des Zentrums nennen wir unser eigen, wie die Leib- und Sinnesempfindungen, die Wahrnehmungseindrücke und die Erinnerungen oder Träume, die fernsten, die wir nur vom Hörensagen oder aus dritter Hand kennen, die japanischen Inseln oder Hannibals Zug über die Alpen, umkreisen uns wie die Planeten das Zentralgestirn.

Der ontologische Druck der Ereignisreihen, der Strukturierung der Handlungsfolgen: wie wir uns anziehen, die Schnürsenkel binden, einen Brief lesen, einen Brief schreiben.

Der ontologische Druck der Schwerkraft auf unsere Aktivitäten und Gebilde: Stehen, Gehen, Tanzen; Bauen, Konstruieren, Figurieren.

Kunst als scheinbare Überwindung der Schwerkraft: das Gewölbe, die Kuppel, Apsis und Fenster der gotischen Kathedrale; der schwingende Rhythmus des Verses und die Flügel- und Wolkenmetapher des Gedichts.

Die Vergöttlichung der Sonne und die Verehrung des Lichts in den semitischen und indogermanischen Hochkulturen von Indien bis Israel, von Persien bis Griechenland und Rom verstehen wir angesichts der Tatsache, daß einzig die Lichtstrahlung unseres Zentralgestirns – das Zweite Gesetz der Thermodynamik in der Gnadenfrist seines Bestehens aushebelnd – zur Entstehung des Lebens auf der Erde und der immer feineren, das Phantastische streifenden Differenzierung der Organismus verholfen hat.

Auch die Sprache kann als Organismus betrachtet werden, der sich mittels Aufrechterhaltung seiner semantisch-grammatischen Homöostase im System der Umwelt stabilisiert und durch Differenzierung seiner Organe weiterentwickelt. Die Verschiedenheit der sprachlichen Differenzierung entspricht den unterschiedlichen Umweltbedingungen; daher die ungeheure Vielfalt menschlicher Sprachen.

Der Untergang der solaren Herrschaft, wie wir sie vom Imperium der Cäsaren, dem Sonnenkönigtum der Bourbonen oder dem römisch-deutschen Kaisertum kennen, deutet, wie es jedenfalls Spengler sah, auf den Einbruch einer Weltnacht oder eines Zwielichts, dem man das Bestreben nach Auflösung der Staaten und Nationen, der Sprachen und Kulturen im Schmelztiegel der homogenen Weltzivilisation zuordnen kann, in der nur noch die hochgezüchtete Technik in der Verwaltung und Überwachung der Metropolen ein höheres Maß an Differenzierung des Denkens und der Kommunikation gewährleistet.

Der Sonnen- und Lichtgott ist keine Erfindung, sondern ein Symbol, das spontan aus dem fruchtbaren Humus des kulturellen Unbewußten entsprossen ist.

Wir bilden einen Satz auf dem Hintergrund der zahllosen Sätze, die nicht oder niemals ins Bewußtsein treten.

Die Äußerung „Ich habe mich vorgestern mit Peter im Park verabredet“ impliziert alle möglichen Sätze über eine Person namens Peter, über die Zeit, die Zeiteinteilung und den Kalender, die Natur eines Parks als Kulturform gegenüber den Naturformen von Wildnis und Wüste, die Institution der Übereinkunft oder der Zusage mittels performativer Sprechakte. Aber auch die zahllosen Negationen wie „Peter ist nicht der Peter, den du kennst“, „Der Park liegt im Westen, nicht im Norden“, „Vorgestern, nicht gestern“ werden von der Äußerung impliziert.

Jede Äußerung bildet einen Kreuzungspunkt von Sätzen, die der logischen Ordnung von Kohärenz und Konsistenz unterstehen.

Intuitionen, aus denen Sätze und Wendungen aufsteigen wie „Und Gott sah, daß alles gut war“, „Wer von diesem Wasser trinkt, den wird nimmermehr dürsten“, „Die Rose Schönheit soll nicht sterben“, „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn/Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn“, sind wie Blitze am nächtlichen Himmel, die für einen Augenblick des Schreckens oder Erschauerns eine nie gesehene Landschaft enthüllen.

Betrachten wir einmal den Lebenskeim, den Faden der DNA und die von ihm ausgelösten Proteinsynthesen, als einen seiner Gestaltungsmacht nicht bewußten Autor phantastischer Erzählungen, tragischer und komischer Geschichten.

Die Mythologie der Hellenen oder der Indianer ist ein Gewächs oder eine Wucherung am Stamm der Sprache, ähnlich den Pilzen, Misteln, Efeuranken am Stamm und Wurzelgeflecht der Eiche.

Anders als die griechische steht die germanische Mythologie unter dem Bann des drohenden Zusammenbruchs der kosmischen und sittlichen Ordnung.

Es ist die gleiche Amsel, die im Garten eines Keats oder Goethe sang, und heute singt in deinem.

Die gleiche Not, den gleichen Schmerz beim Zerreißen des Geflechts verschlungener Minnen, wie Goethe es empfand, können wir in der gleichen Lage aufgrund ihrer Beschwörung durch seine Marienbader Elegie nachempfinden.

Aber wir können es auch, wenn wir frohen Sinnes oder frisch verliebt die Elegie lesen. Hier tritt die lyrische Substanz der Empfindung in der Maske des schönen Singens und Sagens entgegen, ohne ihr Echtheitssiegel einzubüßen.

Seltsam ist, daß wir durch den Anblick fiktiver Schrecken und imaginärer Umarmungen zu echten Tränen gerührt werden können.

Der romantische Mond eines Eichendorff, Brentano oder Novalis spiegelt sich in einem fahlen, gespenstischen Lichtstreif auf dem dunklen Wasser unserer Seele, auch wenn wir ihre Gedichte im heiteren Licht eines Sommertages lesen.

Das Zeitbewußtsein Gottes wäre wie das der Eintagsfliege, die vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang den einen Weltentag erlebt.

Der unbewußte klimatische Horizont oder Index der Sprachen und Kulturen; die poetischen Deklinationen von „Schnee“ und „Eis“ bei den Bewohnern der Polarregionen, die poetischen Deklinationen von „Licht“ und „Sand“ bei den Wüstenbewohnern.

Hätten die Griechen die Perser bei Marathon und Plataiai, Octavian Antonius und Kleopatra bei Actium nicht besiegt, ginge Europa verschleiert im orientalischen Gewande einher.

Sind historische Ereignisse wie die genannten mehr oder weniger wahrscheinlich und kontingent, können wir den Aufbau und Wandel der Kulturen nicht vollständig auf allgemeingültige Gesetze einer geschichtlichen Morphologie zurückführen, wie es Spengler intendiert hat.

Ähnlichkeiten führen uns oft in die Irre: Das Selbstbildnis van Goghs sieht van Gogh ähnlich, aber diese Art der Ähnlichkeit ist nicht, was den Sinn des Selbstbildnisses ausmacht. Das Bild van Goghs „Weizenfeld mit Raben“ ist dem Foto eines Weizenfeldes, aus dem eine Schar Raben auffliegt, eher unähnlich, ja aufgrund der von den stürmischen und ekstatischen Pinselstrichen hervorgerufenen visionären Kraft gänzlich verschieden.

Der Kult der Juden um das Heilige Buch sieht der Verehrung der Heiligen Schrift durch die Christen wohl ähnlich, doch ist er durch den Glauben an die Autorschaft Gottes und seinen Gegensatz zur Lehre von der Inspiration gänzlich unterschieden.

Geflügelte Wesen kennt auch der griechische Mythos, beispielsweise Pegasus und die Eroten; aber sie mit den Engeln der Ikonen vergleichen zu wollen wäre töricht.

Per analogiam ihrer scheinbar sinnvollen und zielgerichteten Bewegung haben die antiken Kosmologen den Planeten fälschlicherweise Willensimpulse zugeschrieben, die alten Christen ließen sie gar von Engeln bewegen.

Es sieht so aus, als würde sich der Pawlowsche Hund daran erinnern, daß es Futter gibt, wenn kurz vor der Fütterung ein Licht- oder Schallsignal ausgegeben wird, so daß er nach wenigen Wiederholungen der Versuchsanordnung schon speichelt, wenn er nur das Licht sieht oder das Signal hört; doch sieht dieses Verhalten dem, was wir Erinnerung nennen, wohl ähnlich, ist aber in Wahrheit als eine Form des bedingten Reflexes gänzlich von ihm verschieden.

Nimmt man Formen der Rationalisierung und Perfektionierung von Techniken und Verfahren zum Modell, erliegt man gern der Illusion, die neuere Geschichte der Menschheit könne im Sinne eines fortschreitenden Prozesses der Zivilisation gedeutet werden. Aber Äußerungen wie „Die Menschheit wird sich in einer friedlichen Weltzivilisation von den barbarischen Relikten der Vorgeschichte wie Nationen, Kriegen zwischen Nationalstaaten, sozialen und rassistischen Vorurteilen befreien“ oder „Der Weg von der Freiheit weniger zur Freiheit aller und die Errichtung einer gerechten und egalitären Gesellschaft unter Anleitung eines herrschaftsfreien Diskurses“ sind impotente Reflexe einer dekadenten Elite und Residuen eines Weltbildes, das dem kulturellen Unbewußten entstammt, welches man mit Oswald Spengler und Max Weber ausschließlich der faustischen Kultur und der abendländischen Rationalität zuordnen kann, einer Kultur, die, aufgrund ihr innewohnender destruktiver Impulse und des Ausgreifens außereuropäischer Mächte geschwächt, dazu verurteilt scheint, allmählich in Bedeutungslosigkeit zu versinken; vor allem, wenn das imperiale Amerika daran scheitert, seine Einflußzone bis zur Ukraine auszudehnen, und schließlich, von den Herausforderungen im pazifischen Raum bedrängt, Europa sich selbst überläßt.

 

Comments are closed.

Top