Der Augenblick des Gedichts
Sentenzen und Aphorismen zur Ästhetik des lyrischen Gedichts
Gedichte haben den Werkcharakter, den Gewerke und vollendete Objekte im Kunsthandwerk und der bildenden Kunst haben, wie Glasfenster mit ihrer spannungsreichen Anordnung von Farben und Motiven, das ornamentale Flechtwerk von schmiedeeisernen Gittern und Toren, die Gestaltung eines Parks nach Blickschneisen, Zentren ästhetischer und seelischer Verdichtung durch Wasserspiele, Fontänen und Skulpturen sowie Ruhezonen eines üppigen oder ornamentalen Bewuchses von Schilf, Beeten, Büschen, die Anordnung und Anmutung von Tuscheflecken und Linien als Ergebnis spontaner Handbewegungen der Zen-Kunst.
Viele sind der irrigen Ansicht, ihre mehr oder weniger gute Beherrschung der deutschen Sprache befähige sie, ohne weiteres Gedichte von Goethe, Rilke oder George zu verstehen.
Die lyrische Sprache aber sollte erlernt werden, ganz in dem Sinne wie wir eine fremde Sprache lernen. Wir müssen dazu bekanntlich nicht jahrelang Grammatik pauken, sondern können uns der Sprache im allmählich sich erweiternden und vertiefenden unmittelbaren Gebrauch nähern und ihr so auf die Schliche kommen.
Fatal allerdings ist der Irrtum und die eitle Selbsttäuschung von Leuten, die wähnen, Gedichte schreiben zu können und zu schreiben, deren Bezug zur Dichtung als Kunst und Gewerke der Lage von Komponisten ähnelt, die weder Noten lesen können noch die Lehre von den kanonischen Formen und Sätzen wie Sonatensatz, Kanon oder Fuge absolviert haben.
Der Maurer sucht sich den Stein nach seiner Eignung wie Tragfähigkeit, Belastbarkeit, Haltbarkeit aus; der Bildhauer nach dem ästhetischen Ausdruckswert, der auf die formale Aussage der entstehenden Figur abzweckt, wie Farbe, Maserung, haptische Qualität.
Wie der Stein des Bildhauers, so das Wort des Dichters.
Worte haben einen bestimmten Farbwert, der in ihrem hellen oder dunklen, transparenten oder opaken, irisierenden oder abgeblendeten Klang zum Ausdruck kommt.
„Gemalte Fensterscheiben“ nach dem bedeutsamen Wort Goethes: Die handwerkliche Kunst liegt in der nuancierten, differenzierten, harmonisch ausgewogenen Verteilung der Farb- und Klangwerte. Eine Massierung heller, offener, spitzer Töne wirkt grell und blendet, ein diffuser Schlamm verlaufener Farben und Klänge ausdruckslos.
Eine Springflut oder ein Feuerspeien von Schreien, Seufzern, Flüchen, Kakophonien als Ausdruck der gequälten Kreatur verhallt und verdampft, wenn die Ejakulation nicht in ein Becken sich rundender Wellenkreise und Echos geleitet, auf einen atmosphärischen Hintergrund aufgetragen wird, der weiterstrahlt, auch wenn die Schreie verstummt sind.
Geschmack ist eine Frage der Bildung. Er hat eine natürliche Anlage in der Feinheit der ausgeprägten nervlichen Sensorik für das Hören von Klangwerten, das Empfinden rhythmischer Muster und das Sehen passender oder divergierender Baustücke, in der Gestalt- und Ähnlichkeitswahrnehmung. Die Bildung vollzieht sich in der Erfahrung des lauten Lesens und Rezitierens, des Singens oder Psalmodierens. Ein starker Faktor der Bildung des Geschmacks für lyrische Schwingungen ist das Übersetzen von fremdsprachlicher Dichtung.
Kinder, die kleine farbige Holzstückchen oder Glasperlen auf einer Schnur reihen.
Kinder, die mit Hohlformen Figuren aus Lehm und Sand bilden und in eine gewisse Anordnung bringen.
Der Kunstglaser braucht Jahre disziplinierter Arbeit, bis er buntes Glas anhand seiner Skizze freihändig in Kurven und Kreise zerschneiden kann.
Manche Naturgenies des Wohlklangs wie Goethe, Brentano oder Verlaine schütteln die Reime aus dem Ärmel.
Andere wie Trakl oder Mallarmé beschränken sich auf ein überschaubares Repertoire von Reimen oft bedeutungsschwerer Wörter.
Narren, die nie die Last einer schweren syntaktischen Bauform wie das Sonett getragen haben, rühmen sich, die Fessel der lästigen Formen abgeschüttelt zu haben.
Die Schönheit des wiegenden Ganges dunkler Frauen, die gewohnt waren, schwere Lasten auf dem Kopf zu balancieren.
Die Geschmeidigkeit der Gliedmaßen und die tänzerische Leichtigkeit der Bewegungen der Trapezkünstler, die ihre Kunst zum Gipfel des Salto mortale führt.
Durch das bunte Glasfenster der Kapelle sehen wir die Welt in dem Licht, das vom Heiligtum ausstrahlt.
Durch das bunte Glasfenster des Gedichts sehen wir die Welt in dem Licht, das vom geheimen Sinn der Welt ausstrahlt.
Der Sinn der Welt liegt in der Tatsache der Subjektivität des Lebens beschlossen.
Statt Subjektivität können wir auch Innerlichkeit sagen.
Wir sehen durch das Fenster des Gedichts nach innen.
Oder wir sehen die Welt als ein Außen des Innen, ähnlich der Mandelbrot-Spirale, die sich unendlich in sich selber spiegelt.
Oder wir sehen in das Gedicht wie in den Spiegel, in dem wir uns von innen betrachten.
Die Sprache des Gedichts ist das Außen des Innen, wie das Lächeln nicht das Gesicht ist, sondern sich auf dem Gesicht spiegelt.
Das Lächeln mag kurz aufleuchten, es kann aber lange nachwirken.
Wir finden neben dem ästhetischen Ausdruckswert der Wörter die Zeit als wesentlichen Werkstoff der lyrischen Dichtung: Ein Sonett, ein Lied, ein Handvoll Terzinen sind im Vortrag nach ein, zwei Minuten verklungen; die Kunst besteht darin, im Innern des Gedichts die Zeit in der gestuften, überlagerten, gegenläufigen Form des Rhythmus zu dehnen, zu weiten, zu vertiefen, sodaß jene Illusion des Zeiterlebens entsteht, die wir von Sommertagen der Kindheit kennen, die sich wie das Blau des Himmels ins Grenzenlose auszudehnen scheinen.
Das Medium der Subjektivität, die sich im Gedicht gleichsam selbst berührt, ist die Zeit. Die Zeit der Subjektivität ist die Verinnerlichung, die sich dem Ewigen öffnet.
Alles, was das Gedicht aussagt, bezieht sich auf das Ereignis des dunklen Augenblicks, das sich im Wort inkarniert.
Ein Lächeln, das im Schatten kurz aufblüht und wieder verlischt.
Eine Blüte, die im Dunkeln kurz aufleuchtet und wieder verlischt.
Wir sind dieses Aufleuchten, wir das Dunkel, in dem es geschieht.
Wem gilt das Lächeln?
Wir sagen, wir schenken ein Lächeln, ein Lächeln wurde uns zuteil.
Doch im reinen, gelösten, von innen aufstrahlenden Lächeln hat der dunkle Augenblick des Daseins sich selbst gelichtet.
Wenn es vollkommen ist oder schön, bleibt das Licht des Lächelns wie der Glanz der Blüte bei sich selbst.
Das Lächeln des Buddha.
Plötzlich wie nach langem Schlaf öffnen sich die Augen. Da ist nur ihr dunkler Glanz. In der Stille, die wächst, je länger und dunkler sie glänzen.
Wozu haben sie sich geöffnet?
Wozu hat sich die Blüte geöffnet?
Gewiß, die Sonne zu sehen.
Doch hier, im Gedicht, ist das Licht die Wirklichkeit und Wahrheit des Worts.
Das Licht ist ja im Leben der Subjektivität nichts, wenn es nicht gesehen wird und ihre Welt beleuchtet.
Augen, die sich für ihren Augenblick öffnen, das Ereignis des Daseins.
Blume, die sich am Rand der Nacht öffnet und wieder schließt.
Für wen blüht sie, die Blume?