Skip to content

Die ethische Ursituation

24.07.2019

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Noli me tangere – das wollen wir als urtümliche Forderung verstehen, aus der Recht und Moral entspringen.

Das animalische Verlangen nach der Unversehrtheit des Leibes und der Sicherung des primitiven Eigentums artikuliert und sedimentiert sich in Regeln, Vorschriften und Gebräuchen, die den sozialen Abstand regulieren und organisieren.

Soziale Nähe und Ferne sind habituell zu Haltungen geronnen, die wir Vertrauen und Mißtrauen nennen. Dem Freund reichen wir die Hand, dem Feind verschließen wir die Tür.

Vor der Differenz von Nähe und Ferne liegt die embryonale Situation des Eingetaucht- und Umhülltseins im mütterlichen Uterus. Die Mutter ist die Vertrauensinstanz, der wir blindlings, so sie uns wäscht und wickelt, säugt und wiegt, die Verfügungsgewalt über Leib und Leben anheimstellen.

Diese äußerste und gefahrvollste Form blinden Vertrauens und entäußerter Hingabe nährt unseren animalischen, wenn auch nicht sexuellen Begriff der Liebe.

Liebe kann man nicht vom Sexus her verstehen, aber gewiß nähren sich viele Formen gesunder und perverser Sexualität aus dem reinen oder vergifteten Brunnen der Liebe.

Das Maß des Vertrauens offenbart sich im Grad, in dem wir bereit und geneigt sind, uns von dem Vertrauten berühren lassen.

Die primitive Berührungsfurcht wird demnach nicht, wie Elias Canetti annahm, im paradoxen Sprung in die enthemmte Masse überwunden, sondern in dem durch Bräuche, Rituale und Gepflogenheiten abgedichteten Schutzraum sozialer Nahe- und Intimbeziehungen.

Vertrauen und Mißtrauen sind reziproke Begriffe, deren relationalen Sinn wir auf mannigfache Weise wiedergeben können, beispielweise wenn wir sagen, daß wir jemandem etwas anvertrauen können oder eben nicht anzuvertrauen wagen, etwa ein Geheimnis oder unser Haus, unseren Garten, unser Fahrrad, unser Kind.

Jemandem ein Gut anzuvertrauen impliziert das Versprechen und die Verpflichtung der Gegenseite, das anvertraute Gut unversehrt wieder auszuhändigen, auch wenn es nicht ausdrücklich in einem Sprechakt expliziert oder durch einen Vertrag festgesetzt worden ist. Hier fassen wir den noch informellen und vorinstitutionellen Grund der rechtlichen Obligation.

Die primitive Gestalt sozialer Nähe wird durch das Haus, das einmal eine Höhle oder Grotte war und auch ein Zelt, eine Baracke oder ein Container in Tokio sein kann, bezeichnet und symbolisiert. In der Behausung des Frühmenschen brennt ein Herdfeuer und sein Ein- und Ausgang wird von einem Hund bewacht oder vom Abwehrzauber von Schädeln und Fratzen. – Die Wärme des Feuers und seine gebändigte Gewalt, die das rohe Fleisch gar werden läßt, sind urtümlich und symbolisch mit der das Feuer hütenden Mutter und den über dem Herd ikonisch vergegenwärtigten Ahnengeistern verknüpft, die gefahrvolle Übergangszone der Schwelle mit der väterlichen Wachsamkeit und Gewalt.

Vater, der Mann, der zeugen und töten können muß.

Der Grund des Ethos liegt in der Natur des Menschen, insofern er in der frühesten Lebensphase auf Nahrung, Pflege und Schutz der Eltern angewiesen und von Kindesbeinen an Gefahren durch Übergriffe, Verletzungen und Irreführungen ausgesetzt ist.

Wenn wir nach den lautlichen und sprachlichen Urformen des menschlichen Ethos fragen, stoßen wir auf den Ausdruck des Dranges und Verlangens, der Bedürfnisse und Wünsche, die sich um Nahrung, Pflege und Schutz drehen; so hört die Mutter den Schrei des Kindes und versteht, daß es um Nahrung, Nähe, Trost bittet.

Der Ausdruck und die Sprache des natürlichen oder primitiven Ethos sind Bitten und Forderungen, Wünsche und Klagen, Ansprüche und Einsprüche. Das Kind meldet seine Forderungen dem Elternteil gegenüber an, von dem es ihre Erfüllung erwartet; oder besser gesagt, auf dessen Bereitschaft, seine Wünsche zu erfüllen, es vertraut.

Wird der Anspruch des Kindes nicht gehört, findet sein Hilfe-, Not- oder Klageruf kein Gehör oder wird die Verlautbarung seines Verlangens mißverstanden (weil die verwahrloste Mutter taub dagegen ist), wird sich eine Unsicherheit und ein Zwiespalt gegenüber seinen eigenen Wünschen und ihrer Artikulation im Kinde aufbauen, was im ungünstigen Fall sich pathologisch in Formen psychischer Unreife und Labilität oder gar einer dystonisch-schizothymen Persönlichkeitsentwicklung auswirken kann.

Das unreife Selbst ist unfähig, seine Wünsche in angemessener Form und gegenüber den ihm nahestehenden und zugeneigten Sozialpartnern zu äußern oder sie überhaupt deutlich zu verspüren und lebhaft und energisch zu vergegenwärtigen, sodaß sie sich diffus und bis zur Unkenntlichkeit mit Ängsten und Selbstzweifeln vermischen. Aber der durch frühe Kränkung seelisch Erkrankte zeigt auch Unreife, wenn er in unangemessenen Situationen und die nötige soziale Nähe und Intimität verweigernden Personen gegenüber in übermäßig drängendem, ja bisweilen schrillem und hysterischem Maße seine Wünsche und Ansprüche zur Geltung bringt, ausagiert und einklagt.

So erkennen wir in der angemessenen Erfüllung der berechtigten Forderungen der ethischen Ursituation die Voraussetzung einer gesunden seelischen Entwicklung. Die Einschränkungen durch die Kriterien der Angemessenheit und des berechtigten Anspruchs sind deshalb wesentlich, weil die Überfütterung, Verhätschelung und Verzärtelung des Kinds sowie die gluckende Indulgenz und Willfährigkeit gegen seine maßlosen Ansprüche nicht weniger verstörend und neurotisierend wirken können als die unverhältnismäßige Härte kränkender Versagung.

Ethisch nennen wir die frühkindliche Situation, weil die sie strukturierenden Wünsche und Erfüllungen, Ansprüche und Antworten zwar biologischen Ursprungs, aber keine animalischen Reiz-Reaktions-Mechanismen, sondern von Erwartung, Absicht und gegenseitiger Spiegelung geprägte Weisen des Verstehens darstellen. Die ethische Ursituation der frühen Kindheit birgt den semantischen Keim, der sich in der sprachlichen Vollform von wechselseitigen Aufforderungen und Erwiderungen, von Fragen und Antworten, Rede und Widerrede entfalten kann.

Die ambivalente Position des Vaters als Hüter der Schwelle zeigt sich im Janusköpfigen seines und allen männlichen Wesens, hinaus- und hereinzublicken, nach draußen in für das Kind unbegreifliche Fernen aufzubrechen und heimzukehren – im Glücksfalle mit Geschenken und Geschichten. Das erregend-exotische Fluidum, das den Vater umgibt, kann auf unheimliche Weise faszinieren.

Die häusliche Kultur, die das Kind formt, ist ein mehr oder weniger harmonisch verschmolzenes Amalgam zwischen der Gruppe, welcher der Vater, und jener, welcher die Mutter entstammt. Spannungen und Konflikte zwischen diesen Gruppen werden meist auf Kosten des Kindes ausgetragen.

Aus DEMSELBEN Grund, warum es nicht DEN Vogel gibt, sondern Hühner, Spatzen, Enten, Raben und Nachtigallen, gibt es nicht DIE Sprache, sondern Latein, Deutsch, Russisch, Japanisch und Suaheli. Wie Vögel der Schnabel wächst gemäß dem Futter, das sie picken, so wächst den Völkern und Ethnien der Schnabel gemäß dem natürlichen und kulturellen Lebensraum, in dem sie ums Überleben kämpfen.

Argwohn und Mißtrauen gegen alles Fremde oder Xenophobie ist eine angeborene Disposition, die der Sicherung der eigenen Lebensform und Identität dient. Dies zu leugnen, ist ein Zeichen von öfters leider akademisch ausgezeichneter Dummheit, es mit vollmundiger Humanitätsrhetorik beschönigend zu verwischen oder denjenigen, der die schlichte Wahrheit auszusprechen wagt, zu verketzern, ein Zeichen von verantwortungsloser und gefährlicher Heuchelei.

Gründe, weswegen wir fallen: Wir verstehen den Freund nicht, der uns den rechten Weg am Abgrund vorbei weist, oder wir können seine Zeichen nicht lesen; derjenige, der uns den rechten Weg weisen möchte, ist nicht in der Lage, dies mittels eindeutiger und uns verständlicher Zeichen und Winke zu vollbringen; derjenige, der vorgibt, uns den rechten Weg zu weisen, kennt ihn selber nicht und ist ein falscher Priester und Scharlatan; derjenige, der uns vorgeblich den rechten Weg zeigt, ist ein uns feindlich gesinnter Lügner und Betrüger, der uns schaden und zu Fall bringen will.

Pater semper incertus. Das kleine Kind weiß manchmal nicht, ob der Mann, der das Haus verließ, derselbe ist, der wieder nach Hause kommt.

Dem Kind ist das Bild vom Vater bisweilen in Zwielicht getaucht.

Je weniger Familienähnlichkeiten die Sprachen in Lautung und Syntax aufweisen, umso ferner stehen sie zueinander in Hinsicht auf das, was Humboldt ihre innere Form und Weltansicht nannte.

Was würde der Rabe hören, vermöchte er dem Gesang der Nachtigall zu lauschen?

Der Rabe findet Wohlgefallen an seinem Krächzen, wenn es uns auch garstig dünkt.

Die Familie oder die ethische Ursituation erhält ihren Sinn nur als Glied in der Kette der Generationen.

Zeugung und schöpferische Tat – der Rest ist stille Ergebung in das Unzulängliche oder Ödnis des Weiterlebenmüssens.

Die Familie ist die natürliche Lehrerin der Muttersprache und die wichtigste Übermittlerin der kulturellen Techniken und des primären Ethos, das die Bräuche und Sitten der Gruppe für die Nachkommen verbindlich macht.

Nach dem Grad der Verschiedenheit der Sprachen hinsichtlich ihrer inneren Form und Weltansicht bemißt sich die lokal und kulturell verteilte Variationsbreite des familialen Ethos.

Sowohl sehr entfernte als auch allzu nahe genetische Verwandtschaft der Elternteile führen zu ungünstigen oder minderwertigen Genmischungen bei der Nachkommenschaft. Deshalb hat das familiale Ethos auch die Selektion der generativen Partner mittels Steuerung von sozialer Nähe und Ferne zu bewältigen. Dabei muß der Degeneration aufgrund von Inzest nicht eigens durch Verinnerlichung eines Tabus vorgebeugt werden; die frisch aufkeimenden Neigungen und Leidenschaften klettern von sich aus gerne über den Gartenzaun und über Gräben und Mauern.

Ödipus und Elektra, Inzesttabu und Kastrationsangst – Schreckgesichter von Medusen und Megären, die durch das ornamentale Schlinggewächs des Wiener Jugendstils auf feine Damen im atemraubenden Korsett und eitle Snobs mit zartem Oberlippenbart in mit grünem Samt und Brokat ausgeschlagenen Salons starren.

Die Schwarze, die an blauen Fjorden friert und kein Wort für das Schneegestöber hat; der Eskimo, der im Schweiße seines Angesichts sein Iglu vergebens im Wüstensand zu fixieren versucht.

Jedes tragende Ethos ist lokal, provinziell und engstirnig; der Kopfjäger hat keine schlechteren Motive als der Vegetarier.

Gewiß finden wir in gewachsenen, hierarchischen, ausdifferenzierten Institutionen wie im Militärwesen, der Verwaltung, dem Großunternehmen jeweils adaptive und formalisierte Regelwerke und Kodizes des Verhaltens; doch ebenso wie in ihnen die Sprache gesprochen wird, die jeder im familiären Zusammenhang erlernt hat, nur mit einem erweiterten und ausgeklügelten Wortschatz, müssen ihre Angehörigen die Lehrjahre im Elternhaus erfolgreich absolviert haben, sollen sie in den offiziellen Kreisen nicht versagen.

Bei denen, die sich das Gesamtwohl der Menschheit angelegen sein lassen, verhungert während ihrer Vortragsreise zur Bekehrung der Ungläubigen der Kanarienvogel in der Küche.

Ein Wüstenprophet mit Sonnenstich verkündet die welterlösende Kraft des Rituals seines Waschzwangs.

Doch ein paar Philosophen aus der hessischen Provinz übertreffen ihn noch durch die hybride Annahme, ihr Dialekt-Kauderwelsch sei die moralische Lingua franca.

 

Comments are closed.

Top