Skip to content

Flatus vocis

19.09.2016

Kurze Betrachtung des philosophischen Nominalismus

Wenn alle wie von einem zur Totalerschlaffung führenden Virus befallen zu Hause blieben – vom Pförtner und Hausmeister über die Angestellten bis zu den Chefs – und das ganze Bürogebäude gähnte vor Leere: Dann ist das Unternehmen, das es beherbergt, lahmgelegt und wenn dieser Zustand andauert, dem Untergange geweiht.

Wenn die Mitglieder eines Chores oder Orchesters, eines Schachclubs oder Schützenvereins ihre gemeinsame Betätigung satthaben und nicht mehr zu ihren regelmäßigen Treffen erscheinen, löst sich der Chor, das Orchester, der Schachclub und der Schützenverein mit einem Schlage auf. Es hilft nichts, darauf zu verweisen, daß es ja da noch den amtlichen Eintrag im Ordnungsamt gebe.

Wenn der Freund den Freund nicht mehr Freund nennt, sondern beginnt ihn wie Hinz und Kunz oder gar als Feind zu betrachten, ist die Freundschaft am Ende. Es hilft nichts, auf jenes sentimentale Dokument eines Freundschaftbundes zu verweisen, das die Freunde in glorreichen Tagen gemeinsamen Sinnens, Unternehmens und Kämpfens untereinander abgeschlossen hatten. Das Papier ist tot und null und nichtig, wenn der lebendige Atem der Freundschaft verweht ist.

Wenn die Frau den Mann, der Mann die Frau betrogen hat, ist es aus mit der Ehe, es nützt wenig, auf beider Ringe hinzuweisen: Sie sind nur noch Metall, keine echten Symbole des Ehebundes mehr.

Morgen überkommt die Deutschen die unbezwingliche Nostalgie nach der alten Währung Deutsche Mark: Keiner rührte mehr den Euro an, keiner achtete mehr einen Cent als werthaltige Münze – sofort verlöre der Euro seinen Wert als Zahlungsmittel, und jeder Hinweis auf die ungeheuren Mengen Geldes, die in dieser Währung in den Kassen der Geschäfte, Banken und Börsen gehortet oder notiert sind, wäre nutzlos, wenn alle der Währung ihre Anerkennung als gültiges Zahlungsmittel verweigerten.

Wir bemerken: Unser kulturelles Leben oder der Sinn unseres Erdenwallens wird gerahmt und gefaßt von institutionellen Begriffen und Konzepten wie Liebe, Freundschaft, Ehe, Geld, Unternehmen, Vereine und viele andere – nur haben diese kein autonomes Dasein unabhängig von den Intentionen und Willensbekundungen derjenigen, die sie tragen und mit Leben erfüllen.

Doch zu sagen, es widerspreche der Vernunft, wenn wir einen Sachverhalt wie daß 3 x 3 = 9 oder ein Apfel vom Baum auf den Boden und nicht in den Himmel fällt als bestehend und gültig bestimmen und zugleich sein Bestehen und seine Geltung bestreiten, weist dies nicht auf die von unseren Intentionen und Willensbekundungen unabhängige Existenz der Vernunft hin?

In der Tat, wir wollen eine Unabhängigkeit DER Vernunft oder der VERNUNFT in diesem Sinne bestreiten. Zu sagen, es sei unvernünftig, p und nicht-p zu behaupten, heißt nicht mehr und nicht weniger, als daß wir dem Sinn unseres Redens den Boden abgraben, wenn wir widersprüchliche Sätze aufstellen. Wenn du wüßtest, daß ich so unvernünftig wäre, p und nicht-p zu behaupten, würdest du mir kein Wort glauben, kein Versprechen abnehmen, keine Verabredung mit mir treffen und jede von mir erhaltene Auskunft mit einem Fragezeichen versehen. Und wenn wir davon ausgehen müßten, daß über Nacht alle Redeteilnehmer verrückt geworden sind und mit dem Widerspruch liebäugelten, würde über kurz oder lang nicht nur alle Rede auf dem Erdkreis verstummen, sondern alles soziale Leben hienieden zusammenbrechen. Die Vermeidung von logischen Inkonsistenzen und dialogischen Widersprüchen ist aber kein Gesetz wie das mathematische Gesetz des Erhalts der numerischen Identität bei den rechnerischen Verfahren oder das physikalische Gesetz des Energieerhalts oder der Gravitation. Denn was wir Vernunft nennen, ist die normative Kraft, mit der wir unserer Rede Leben, Sinn und Geltung einhauchen, und ganz unähnlich der physischen Kraft, gemäß der ein Apfel zu Boden fällt.

Wer sich weigert, für seine Annahme, er könne ein perpetuum mobile entwickeln, Argumente anzugeben, kann es entweder nicht (und in der Tat hat bislang keiner ein Argument für diese Annahme finden können) und hat damit in dem (fiktiven) Dialog mit allen, die seine Behauptung bestreiten, schon verloren oder will es nicht, und ist damit erst gar nicht in einen Dialog eingetreten. Wir sagen dazu, es sei unvernünftig, in eine Argumentation mit leeren Taschen einzutreten, und es sei ebenso unvernünftig, sich jeder Auseinandersetzung zu verweigern. Wir meinen aber mit dem Hinweis auf die Unvernunft eines solchen Handelns, daß es unfruchtbar, eitel oder sinnlos sei – und mehr können wir nicht meinen.

Was wir anhand der Betrachtung unseres Sprachgebrauchs über den Begriff der Vernunft sagen können, ist also dies: Wir nennen Vernunft die unbestimmte Menge aller möglichen Sprechakte des Aufforderns, Ratens und Empfehlens und des Warnens, Abratens und Mißbilligens, mit denen wir unser Reden und Tun unter Angabe mehr oder weniger plausibler Gründe normativ einschränken. Vernunft ist demnach ein Sammelbegriff für unsere sprachlichen Äußerungen, mit denen wir das Tun und Lassen, das Reden und Schweigen loben oder tadeln, insofern wir unser Lob und unseren Tadel auf gute Gründe stützen können oder stützen zu können vermeinen.

Insofern die Vernunft unser argumentativ gebändigtes Reden lenkt, ist sie eine Form oder ein institutionelles Konzept des sozialen Lebens und wie alle institutionellen Begriffe ohne die normative und intentionale Kraft, die wir ihnen durch unsere Intentionen und Willensbekundungen einhauchen, nicht vorstellbar.

Was sollen wir von Aussagen halten, die sehr komplexen Gebilden wie der Wirtschaft, dem Recht, der Wissenschaft oder der Politik eine je eigentümliche Vernunft, vulgo Rationalität, zusprechen? Liegt dann nicht der klare Sachverhalt zutage, daß es sich dabei um autonome Strukturen oder Systeme handelt, die nach spezifischen Regeln des rationalen und irrationalen Handelns funktionieren?

Recht, um nur dies als Exempel zu betrachten, nennen wir den Bereich menschlichen Redens und Tuns, in dem menschliche Handlungen nach Maßstäben des Richtigen und Falschen, des Normgemäßen und von der Norm Abweichenden gemessen, beurteilt und sanktioniert werden. Wenn wir kulturell erlahmt und der sozialen Selbstbehauptung nicht mehr mächtig das Strafrecht nicht mehr anwenden und den Dieb, den Räuber, den Mörder ungeschoren davonkommen lassen, bleibt der Hinweis auf das Strafgesetzbuch, die Strafrichter und die Gerichte fruchtlos: Wir haben das Recht der normativen Kraft, mit dem wir ihm Leben einhauchen, beraubt.

Doch, wird der Strukturalist sich aufbäumend fragen, was ist mit den syntaktischen Strukturen der Sprache, sind sie nicht vom Tun und Lassen der Sprecher unabhängig, insofern ihr Reden immer an die Beachtung und Verwirklichung dieser vorgegebenen Strukturen bei Strafe des Versinkens in sprachlichen Unsinn oder Sprachlosigkeit gebunden ist?

Nehmen wir an, eine Sprachgemeinschaft verordne sich die völlige Abstinenz von der Sprachhandlung des Fragens (oder werde von einem mächtigen Tyrannen dazu verdonnert), dann bricht über kurz oder lang das soziale Leben zusammen, denn der Arzt könnte den Patienten nicht mehr fragen, wo es weh tut, der Lehrer nicht mehr den Schüler, wie die Lösung der Aufgabe lautet, der Passant nicht mehr den Polizisten, wo das Rathaus ist, der Standesbeamte nicht mehr die Verlobten, ob sie sich das Ja-Wort geben. Das soziale Leben bricht infolge eines generellen Frageverbotes deshalb zusammen, weil das Fragen gleichsam ein soziales Existential darstellt, ohne das wir unser Dasein nicht orientieren und gestalten können.

Die Frageform hat in unserem Sprachkreis die syntaktische Form der Umstellung des Prädikatsausdrucks (Du gibst mir das Buch. Gibst du mir das Buch?), in der mündlichen Äußerung heben wir den Ton gegen das Satzende an, in der schriftlichen Form verwenden wir ein Fragezeichen am Satzende. Das könnten wir anders regeln, indem wir beispielsweise vor und nach dem Sprechakt einen Sonderlaut einfügten oder sonstwie. Die Intention zu fragen geht also der grammatischen Funktion voraus und ist von ihrer syntaktischen Ausgestaltung gänzlich unabhängig.

Ebensowenig wie es DIE Vernunft oder die VERNUNFT als autonome Größe gibt, können wir von DER Sprache oder der SPRACHE reden: Wenn wir nicht reden, ist die Sprache tot, denn sie ist nichts als ein Sammelbegriff für die unbestimmte Menge aller möglichen Sprechakte, mit denen wir uns verständigen oder auf die Nerven gehen.

Wir kommen immerhin bei diesen bisweilen enttäuschenden Betrachtungen zu einem positiven Schluß: Was die Menschen bewegt und antreibt, am Leben hält oder am Leben verzweifeln läßt, ist wie die Quelle all unserer wesentlichen institutionellen Begriffe und Konzepte wie die Liebe, die Freundschaft, die Ehe, das Recht oder die Kunst in sich weder vernünftig noch unvernünftig, weder rational noch irrational, sondern steht außerhalb der Dimension der Vernunft – es ist das Leben selbst und die Intentionen und Willensbekundungen, mit denen wir ihm in seinen Ausdrucksgestalten Sinn verleihen (oder ihm den Sinn verwehren). Indes, um unser Leben auf geordneten Bahnen führen zu können, müssen wir unser Reden und Tun normativ einschränken – das nennen wir vernünftig oder unvernünftig reden und handeln. Aber wir leben um keines höheren oder autonomen Zweckes willen, auch nicht unter dem Geheiß einer moralisch erregten Vernunft, denn das Leben ist sich genug (auch wenn es keine Genüge finden oder fühlen mag).

Vielleicht wird der Gläubige einwenden: Die Kirche existiert unabhängig von den Intentionen und Willensbekundungen ihrer Mitglieder; auch wenn morgen keiner mehr die heiligen Handlungen ihres sakramentalen Lebens wie die Taufe, die Buße oder die Eucharistie, weder Priester noch Gläubige, vollzöge, wäre die Kirche kraft ihrer transzendenten Stiftung nicht tot.

Hier können wir nur sagen, der Geist weht, wo er will – und wenn er aufgehört hat zu wehen, führt der Organismus, der unter seinem Anhauch lebte, das Dasein eines Gespenstes. Der Geist ist also auf transzendenter Ebene, was die normative und intentionale Kraft auf jener Ebene ist, auf der wir unserem Reden und Tun durch unsere Absichten und Willensbekundungen Leben einhauchen.

Kommentar hinterlassen

Note: XHTML is allowed. Your email address will never be published.

Subscribe to this comment feed via RSS

Top