Skip to content

Fortunas Masken

10.08.2015

Kleine philosophische Betrachtung der Ode I 35 des Horaz

Das Gedicht beginnt mit dem Anruf der Göttin, indes wird ihr Name hier und im Folgenden nicht genannt. Aber um wen es sich handelt, erschließt unmittelbar der Hinweis auf die Stadt Antium, in der Fortuna einen berühmten Tempel hatte. Es ist dies, scheint es, horazische Eigenart, die wesentlichen Bezüge indirekt über das Ins-Spiel-Bringen, das Mitschwingen oder das Echo des Konkreten und Lokalen, historischer und mythischer Realien aufzuspannen.

Wir haben vage Bilder oder Klischees, die uns beim Namen „Fortuna“ aufscheinen wie jene allegorischen Bilder der Dame mit dem Füllhorn, welche die Renaissance und das Barock liebten. Wir denken an die wildere Variante der grausamen Frau mit dem Rad, auf dem die Schicksale und Lebenslose der Menschen um- und umgedreht werden oder das anzeigt, wie alles Gefestigte an Rang und Namen von unten nach oben, von oben nach unten emporgerissen oder herabgestoßen wird, wie wir dies aus den mittelalterlichen Carmina Burana und ihrer bekannten und beliebten Vertonung durch Carl Orff kennen. Immerhin sind dies wenn auch etwas verblasste Wesenszüge der Göttin Fortuna, wie sie den antiken Quellen entsprungen sind und uns bei Horaz in prägnanter Form begegnen.

Indes, das Schicksal (oder wie wir herabgestimmter sagen: den Zufall), das den einen heute ins Rampenlicht stellt, den anderen morgen unter die Brücke bringt, das heute Throne aufrichtet und Siegessäulen und morgen dieselben niederreißt, das Reiche und Imperien gründet und sie mit einem Schicksalsschlag zu Boden stößt, irgend als göttliches Wesen zu betrachten und betrachten zu wollen, liegt uns fern. Wir pflegen, brave Schüler strenger nomologischer Wissenschaften oder bestallter Auguren der Statistik, in solchen Ereignissen keinen verborgenen oder offenbaren Willen göttlicher Providenz zu sehen, geschweige denn zu fürchten oder verehrend durch Opfer und Gebete uns geneigt machen zu wollen, sondern den ehernen Gang des Weltgeschehens gemäß schwer durchschaubarer Gesetzmäßigkeiten.

Doch sehen wir genauer hin. Liebende gedenken des Tages und der Stätte ihrer ersten Begegnung wie Fromme vielleicht des Tages und der Stätte ihrer Taufe, wie Adepten eines mystischen Kults oder Ordens des Tages und der Stätte ihrer Einweihung. Liebende scheint an diesem Tag, über diesem Ort gleichsam ein neuer Stern aufgegangen zu sein, Stern ihres Schicksals. Liebende verkörpern den Bund ihrer Liebe in einem kostbaren Etwas, einem Ring, einem Schmuckstück, einer Melodie. Das, was sie eint, nimmt Gestalt an vor ihnen und spricht zu ihnen mit einer Stimme, deren Dialekt vielleicht nur sie verstehen, den aber ein Dichter in die allgemeinverständliche Sprache der Dichtung zu übersetzen weiß.

Sehen wir genauer hin. Der Liebesbund ist wie der Bund der Freundschaft auf Treue gestellt. Deshalb sprechen wir vom Halten und Brechen des Liebesschwurs, von Hingabe und Abfall, von Verpflichtung und Verrat in allen intimen Beziehungen, die nicht auf Gewissheiten, sondern auf Vertrauen beruhen. Die zugesagte Treue lässt uns hoffen, auch wenn sich die Tage trüben und das Licht der ersten Begeisterung von den Schatten des Alltags heimgesucht wird, hoffen auf ein Bleibendes, hoffen auf Wiederkehr und Wiederbelebung.

Aber die Macht, die eint und einschließt, ist dieselbe Macht, die entzweit und ausschließt. Der unbelehrbare Delinquent und schamlose Schmarotzer wird aus der Gemeinschaft, die ihn einst aufgenommen, gehütet und genährt hat, ausgesperrt, der Verräter von Land und Ehre hat sein soziales Dasein dahin, der Untreue wird durch Liebesentzug gestraft.

Es scheint, dass wir unsere wesentlichen Lebensinteressen auf sprachlich fundierte institutionelle Bande und Bündnisse wie eben die Liebe und die Freundschaft gründen. Alles, was wir an Institutionen zur Bewältigung des Lebens errichten, nimmt objektive Gestalt uns gegenüber an, spricht zu uns mit eigener Sprache, nimmt uns in die Pflicht oder stößt uns wieder aus der Verbindung aus oder entlässt uns aus der Verpflichtung, weil wir gefehlt und uns des Bleibens nicht würdig erwiesen haben. Objektive Gestalten oder Lebensmächte der genannten Art sind nicht namenlos, anonym und gesichtslos, sondern werden mit ihrem einzigen Namen genannt, heben uns aus der Menge und zeigen uns ein Gesicht. Das Gesicht der Lebensmächte, die uns tragen und wieder fallen lassen können, die uns herausheben aus dem grauen Geschehen und uns wieder ins Namenlose verabschieden können, sind Embleme und Zeichen, Wappen und Sinnbilder, aber auch Geschichten, Mythen, Lieder, in denen sich der Gehalt unseres Lebens verdichtet. In der Antike, der frühen Quelle unserer Lebensschrift, sind es die Götter und ihre Zeichen, Insignien, Tempel und Mythen.

Wir sagen: Das Gesicht der Lebensmächte, die uns tragen und verwerfen, die sich uns zusagen und verweigern, sind die Masken der Fortuna. Fortuna ist die Macht der Mächte, welche die Masken aufsetzt und abnimmt, nach einer Richtschnur, die sich unserem Verstand entzieht und unsere Maßstäbe hintansetzt.

Horaz ruft in seiner Ode Necessitas, die Schicksalsnot, Spes, die Hoffnung, und Fides, die Treue, als Masken der Fortuna an, die gleichsam wie Dienerinnen ihr die Embleme und Attribute vorantragen oder hinter ihr führen, mit denen sich Grausamkeit und Not, Licht und Zuversicht in unsere Lebensbezüge einschreiben.

Horaz nennt aus der Fülle der Existenzen, mit denen Fortuna spielt, den armen Landmann, den Seefahrer, verschiedene Völker wie die Daker und Skythen, und rundet diese erste Aufzählung der Schicksalsbetroffenen ab in der Formel von den Städten und Stämmen, unter denen er den heimatlichen Latiums hervorhebt. Der Blick greift ins Weite aus zu den Barbaren und ins Hohe zur Sphäre der Herrschaft, ins Niedere zum aufrührerischen Pöbel. Im Herzstück der Ode finden wir die genannten allegorischen Masken der Fortuna. Dann rückt Roms Größe im Namen des Augustus in den Mittelpunkt und die imperialen Bestrebungen römischer Expansion, denen der Dichter ein gutes Schicksal wünscht. Der Ausklang hat eine typisch horazische Note, in der harte Gegensätze aufeinanderprallen: Auf die Erinnerung an die Schrecken des Bürgerkriegs in der Jugend des Gaius Octavius folgt der Wunsch nach Entsühnung und Erneuerung und die Hoffnung auf den Segen der Fortuna für künftige kriegerische Unternehmungen.

Wir fragen: Wenn der Dichter Fortuna anruft und um Segen für die römische Sache fleht, sollen wir folgern, dass unser Geschick nicht in der fatalen Konstellation der Sterne steht, sondern in Grenzen sich beeinflussen und modeln lässt? Oder wollen wir uns als heitere Fatalisten bekennen, weil auch das, was wir erhoffen, was wir erwarten können, uns schicksalhaft zugemessen ist? Wir schlagen hier hart an die Grenzen unseres Wissens, und auch der Dichter scheint sich hinter diesem letzten Rätsel zu verhüllen.

Wir bemerken, dass die Fremdheit der dichterischen Aussage daher rührt, dass wir in der Ode den Übergang vom Lebensbild zum Begriff lebendiger Zusammenhänge mehr ahnen als erfassen können – Übergang vom Bild zum Begriff, deren seltsamer Zwitter wir Allegorie zu nennen pflegen. Es wirkt auf uns wie Divinationen aus einem merkwürdigen Interregnum, wenn die Sprache zwischen der Faszination durch das mythische Bild, in dem ein Gott dämonisch hervortritt, und dem Begriff schwankt, in dem sich das Leben klaren und konsistenten Ausdruck verschafft.

Goethe hat in seinen Stanzen mit dem Titel „Urworte, orphisch“ unter den Masken der Fortuna, er nennt sie griechisch „Daimon“, „Eros“, „Ananke“, und „Elpis“, in den Figuren der Ananke und der Elpis ein Gegenbild zu den horazischen Gestalten der Necessitas und Spes (welch letztere Horaz wohlweislich in eine Reihe mit der Fides gerückt hat) entworfen, in dem das Rätselhafte unseres Lebens, in Zwänge verstrickt und doch von Segensmächten beglückt, von Ungereimtheiten verstört und doch von Gnaden erhört zu sein, dichterisch gültige Aussage gefunden hat:

 

Αναγκη, [Ananke] Nötigung

Da ist’s denn wieder, wie die Sterne wollten:
Bedingung und Gesetz; und aller Wille
Ist nur ein Wollen, weil wir eben sollten,
Und vor dem Willen schweigt die Willkür stille;
Das Liebste wird vom Herzen weggescholten,
Dem harten Muß bequemt sich Will und Grille.
So sind wir scheinfrei denn nach manchen Jahren
Nur enger dran, als wir am Anfang waren.

 

Ελπις, [Elpis] Hoffnung

Doch solcher Grenze, solcher ehrnen Mauer
Höchst widerwärt’ge Pforte wird entriegelt,
Sie stehe nur mit alter Felsendauer!
Ein Wesen regt sich leicht und ungezügelt:
Aus Wolkendecke, Nebel, Regenschauer
Erhebt sie uns, mit ihr, durch sie beflügelt,
Ihr kennt sie wohl, sie schwärmt nach allen Zonen;
Ein Flügelschlag – und hinter uns Äonen!

Comments are closed.

Top