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Im Labyrinth des Denkens

28.03.2023

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Gehen ist ein Kampf mit der Schwerkraft.

Denken ist ein Kampf mit einer Schwerkraft anderer Art.

Gehen wird nicht anders als Fahrradfahren zu einer Art von Automatismus, und diese physische und mentale Mechanik ist streckenweise ja durchaus nützlich.

Dichten ist ein beschwingtes, heiter und gelöst wirkendes Balancieren auf einem dünnen Seil der Sprache, wobei die ihm zugrundeliegende Spannung von der Anmut der Bewegungen, dem Schwung der Pirouetten und dem Übermut des Salto mortale des Seiltänzers verhüllt wird; doch das Gefühl des Schwindels und die Furcht vor dem Sturz in die dunkle Tiefe sind stets gegenwärtig.

Wir plaudern unbefangen drauflos und scheuen dabei auch vor dem Gebrauch trivialer Wendungen und sprachlicher Stereotypen nicht zurück.

Anders die Stereotypen, Automatismen und Mechanismen, die ins Denken Einzug halten, beispielsweise kraft des trügerischen, aber auch faszinierenden Spiels von bildhaften Assoziationen oder logischen Fehlschlüssen; sie bezeugen, wie gern und leicht wir dem Zug der mentalen Schwerkraft nachgeben.

Die sprachlichen Gewohnheiten. die abgegriffenen Wendungen und verblaßten Metaphern, die unsere Plaudereien so gewandt und redselig machen, sind das Faulbett, auf dem sich das Denken liebend gerne ausstreckt.

Wir reden gedankenlos von Denkmaschinen oder dem Archiv des Gedächtnisses, obwohl wir wissen könnten, daß Gedanken kein Output von maschinellen oder algorithmischen Verfahren und Erinnerungen keine Bilder in der privaten Galerie unseres Geistes sein können. – Wir sagen gedankenlos von einem, er sei guter Dinge, weil er lächelt, obwohl wir wissen könnten, daß jemand trotz innerer Qual oder auch aus bloßer Verlegenheit lächeln kann.

Was wir Intuition nennen, ist eine Form des nichtanalytischen Denkens, die frei von den Automatismen der Gewohnheit ist, ja diese geradezu durchbricht. – Ähnlich dem Dichter, der nicht von der Überschwemmung redet, sondern davon, daß der braune Gott des Stromes sein schlammiges Haupt aus dem Uferschilf hebt.

Wie der Flügel eine Form der Projektion der Luftströmung darstellt, so das Auge nach Goethe eine Art Projektion der Lichtstrahlen.

Das Fundament des Denkens schwebt in der Luft. Das Haus des Denkens steht, wie es Wittgenstein sah, auf dem Kopf.

Das Gedachte ist wohl der sinnvolle Satz. Doch dieser Satz ist kein Satz einer idealen Sprache, sondern ein Satz, der einen Knoten oder eine Verbindung im Netz eines bestimmten Sprachspiels darstellt. „Ja“ oder „Das stimmt“ ist ein Knoten, „Daraus folgt“ eine Verbindung, das eine beispielsweise in einem Gespräch, das andere in einem logischen Kalkül.

Jeder Satz ist Teil eines Zusammenhangs von Sätzen; kein Satz ist, wie der Autor des Tractatus logico-philosophicus glaubte, atomar, als ob er einen atomaren Sachverhalt darstellen würde. Der Satz „Dieser Fleck ist rot“ ist nicht atomar, weil er, wie Wittgenstein konzedierte, den Satz „Dieser Fleck ist nicht grün“ impliziert.

Wir können kategorial unterschiedliche Satzzusammenhänge bilden; Legenden und historische Berichte; Traumerzählungen, Sagen und Mythen und Analysen von Träumen, Sagen und Mythen oder Axiome und logische Folgerungen sind solche Zusammenhänge.

Bildet die Tatsache, daß ein jeder Satz etwas über etwas sagt, die allgemeinste semantische Form?

Aber sprachliche Ausdrücke wie „Guten Morgen!“, „Warte hier eine Weile!“, „Gehet hin in Frieden!“ oder auch „4 x 2 = 8“ haben nicht diese Form.

Das Sehfeld wird durch etwas begrenzt, was wir nicht sehen; lenken wir den Blick auf das bisher Unsichtbare, tritt das bislang Sichtbare aus dem Blick.

Wir können die Weltausschnitte, die wir sehen oder sichten, nicht zu einem einheitlichen Weltbild addieren; wir können die Sätze, die sie beschreiben, nicht logisch zu einem einheitlichen System summieren.

Der Handschlag zweier Freunde, die sich verabschieden, unterscheidet sich kategorial vom Handschlag zweier Vertragspartner. – Es könnten dieselben Individuen sein, die heute dies, morgen jenes tun; oder sogar dieselben Individuen, die jetzt beides in einer Geste vollziehen. – Wir könnten den Unterschied nicht durch einfache phänomenologische Beschreibung erfassen.

Der Ausruf „Da hast du dich selbst übertroffen“ kann je nach Sprecher und Situation ein höchstes Lob und ein scharfer Tadel sein (wenn er ironisch gemeint ist).

In einer nicht zumindest relativ starren Umwelt könnten wir keinen starren Maßstab anlegen.

Relativ starre oder stereotype sprachliche Formen identifizieren wir leicht als beispielsweise Fragen, Aufforderungen oder Bitten.

Wir können keine höhere philosophische oder moralische Warte einnehmen, die uns erlaubte, bestimmte stereotype Formen oder begriffliche Schemata zu diskreditieren oder auszusondern. – Wir können nur ihre kategorial fehlerhaften Verwendungen verurteilen; beispielsweise die Anwendung des begrifflichen Schemas der Wahrnehmung auf den Vorgang der Erinnerung (als nähmen wir ein Bild im Archiv des Gedächtnisses wahr).

Wir verfügen über keinen Ariadnefaden, anhand dessen wir das Labyrinth des Denkens genau an der Stelle verlassen könnten, an der wir in es eingetreten sind.

Wir können das Labyrinth nicht in der Absicht verlassen, seinen Umfang und seine Verzweigungen aus der Vogelperspektive zu betrachten.

Die Idee des göttlichen Blicks, der sich eine allumfassende Übersicht verschaffen könnte, beruht auf einem kategorial verfehlten Begriff des Wissens. – Denn jede Form des Wissens impliziert ein Nicht-Wissen. – Ich kann im System der ganzen Zahlen die Kreiszahl pi nicht darstellen. – Wir können nicht mit Gewißheit angeben, ob einer, dem wir die Folge der natürlichen Zahlen mittels + 1 beigebracht haben, die Reihe von 0 bis 100 richtig aufzählt, dann aber mit 99, 98, 97 usw. fortsetzt.

Das Geheimnis, könnte man sagen, hat einen Doppelgänger, der sich ohne Scheu der Öffentlichkeit präsentiert, dem alle Schranzen, Snobs und Gesellschaftsmenschen nachlaufen, ihn photographieren und interviewen, wobei er nur die allseits bekannten Geschichten und Sottisen vom Luxusleben des erwählten Menschen der Elite zum besten gibt, während das Original, die vergoldete Mumie des Pharaos, hinter den labyrinthischen Gängen der Pyramide in einer unzugänglichen Kammer verborgen ist.

Wir können die unerwarteten Abzweigungen und Weggabelungen des Denkens nicht voraussehen. Gehen wir an der Kreuzung nach rechts, gelangen wir in ein anderes kategoriales Feld, als wenn wir die andere Richtung eingeschlagen hätten.

Nach dem mühsamen Anstieg genießen wir den Fernblick; der Enzian, den wir eben noch nahe vor Augen hatten, ist nun in einem verschwommenen Flecken aus Schnee, Moos und Granit untergegangen.

Wir können nicht beides haben, vollständige Transparenz und begriffliche Übersicht.

Nicht unsere Unfähigkeiten, sondern unsere sprachlichen Fähigkeiten halten uns im Labyrinth des Denkens gefangen.

Der Jahreszyklus mit seinen Jahreszeiten ist die Chiffre des Lebens. – Die Metamorphosen von Licht und Schatten des Tages sind die Chiffre des Jahres- und Lebenszyklus. – Chiffren solch elementarer Natur stehen am Beginn und im Zentrum der Dichtung.

Horaz, Baumeister von Zyklen und Maler von Miniaturen.

Durch die Maschen der Zäune, die unsre sorgfältig gejäteten Gartenwege und die Beete mit den Rosen und Orchideen einschließen, treibt der Flugsamen wilder Kräuter.

Der Ableger der Sukkulente treibt eine Sukkulente hervor, aber der Ableger unserer Gedanken treibt eine Chimäre hervor.

Der komplexe Sachverhalt, den wir beispielsweise in einer zweistelligen Relation ausdrücken, ist bisweilen leichter zu verstehen als der in einer einstelligen Relation ausgedrückte einfache Sachverhalt: „Karl lief schneller als Peter“ – der Satz ist wahr, wenn er durch unsere Beobachtung bestätigt wird, daß Peter von Karl überholt wurde. „Karl lief schnell“ – der Satz kann nicht durch einfache Beobachtung bestätigt werden, es sei denn, wir ziehen andere Sätze hinzu, die von Maßstäben und der Messung von Geschwindigkeiten handeln.

Karl mußte im Falle, daß er Peter überholt hat, nicht schnell im Sinne des Satzes „Karl lief schnell“ gelaufen sein; er konnte bloß weniger langsam als Peter gelaufen sein.

pi = 3.14159265359 … Drei Punkte stürzen uns in geistige Verwirrung.

Die Idee des Unendlichen – das Labyrinth des philosophischen Denkens tut sich auf.

Auch wenn wir wissen, daß die Reihe der Dezimalstellen der Kreiszahl pi nicht abbricht, können wir nicht ohne geistige Verwirrung annehmen, daß die unendliche Reihe der Dezimalzahlen in welcher imaginären Welt auch immer vollständig gegeben sei.

Auch wenn wir wissen, daß die Reihe der Dezimalstellen der Kreiszahl pi nicht abbricht, können wir der Versuchung nicht widerstehen, sie in den Horizont dessen einzuschließen, was man verräterischerweise das aktual Unendliche genannt hat.

Das aktual Unendliche ist eine Chimäre des mentaler Schwerkraft nachgebenden Denkens.

Die Beifügung des Prädikats „unendlich“ zu den göttlichen Eigenschaften der Macht, des Wissens und der Güte hat die christliche Theologie und die von ihr inspirierte Philosophie in die Höhen transzendenter Spekulation gehoben und in die Tiefen geistiger Verwirrung gestürzt. – Die windigen und bodenlosen Systeme des deutschen Idealismus zeugen davon.

Wir können die semantische Struktur der Sprache gleichsam als unendlichen Bruch angeben oder als unerschöpfliche Möglichkeit, Sätze in neue Sätze zu teilen.

Doch wir stürzen in geistige Verwirrung, wenn wir hoffen, diese sprachliche Erweiterung durch Reflexion oder metasprachliche Beschreibung zu finden, indem wir beispielsweise sagen: „Der Satz ‚Karl läuft schneller als Peter‘ ist eine zweistellige Relation“, um dann zu konstatieren, daß dieser Satz keine zweistellige Relation, sondern ein Pseudo-Satz ist, der die einfache relationale Struktur verdeckt, die sichtbar wird, wenn wir schreiben: a R b.

Glücklich (oder zumindest nicht unglücklich), wer die Obsession, glücklich zu sein, überwunden hat.

Unglücklich, wer der Welt vorwirft, nicht seinen Maßstäben zu entsprechen.

Aberglaube und weltanschaulicher Wahn, Neurose und Psychose sind untaugliche Methoden, den Weltlauf den eigenen Phantasmen gemäß verändern zu wollen oder den eigenen Wünschen gemäß eingerichtet zu sehen.

Der Wahn, von höherer Warte gesehen, gewürdigt, erwählt zu sein.

Besser, sagt die Psychose, von feindlichen Mächten verfolgt, beäugt, verspottet zu werden, als gänzlich verlassen zu sein.

Nicht esse est percipi, sondern: Die Welt, in der wir leben, enthüllt sich nicht ohne die Wahrheiten, die uns die Sprache darzustellen erlaubt.

Freilich, die Rückseite des Mondes existiert, ob wir oder Gott sie in Augenschein nehmen. Aber der wahre Satz, daß alle von uns wahrgenommenen und nicht wahrgenommenen Dinge ein Rückseite haben, ist eine Implikation unseres Begriffs von materiellen Gegenständen.

Den Faden, anhand dessen Theseus nach seiner Erlegung des Untiers wieder aus dem Labyrinth gefunden hat, hatte Liebe gesponnen.

Den Faden, der uns aus dem Irrgarten kindlicher Wünsche und überspannter Erwartungen ans Licht der reinen Gegenwart führt, hat Weisheit gesponnen.

Die Blume des Worts, der reinen Gegenwart der Sonne aufgeschlossen, genügt; was sollen uns die kümmerlichen Triebe der Kartoffeln, die im Dunkel des Kellerlochs sprießen.

„Kosmologische Feinabstimmung?“ – Ach nein, Gott hat Anselm nicht damit beauftragt, seine Existenz zu beweisen.

Esse est percipi – also wäre Gott ein Wesen, das sich in Ewigkeit selbst bespiegelt.

Tötungswunsch und Zeugungstrieb – unser animalischer Keim bringt im dunklen Verlies des Schuldgefühls bizarre Sprossen hervor, die nur zu einer blassen Scheinblüte taugen, jener Moral, die keine fruchtbaren Pollen auszustreuen bestimmt ist.

Wir haben das Labyrinth verlassen, sobald wir mit Heidegger Denken mit Danken übersetzen.

Wir danken für das erhaltene Geschenk; das Mißliche am Geschenk aber ist, daß es uns zum Dank verpflichtet.

Reines, gleichsam unschuldiges Danken widmen wir dem, was sich selber gibt, und indem es sich gibt, in der Gabe zugleich sich entzieht. Heidegger nennt dies das Ereignis.

Das gleichsam anonyme Gedicht, das wie von einem Namenlosen für die Namenlosen geschriebene, nicht ein solches, das mit dem Namen oder der Unterschrift des Autors prunkt, können wir als ein solches Ereignis betrachten, ihm können wir als eine Gabe danken; das einzige, zu dem es uns verpflichtet: seinem Gruß die Antwort nicht zu verweigern.

Wir sagen, er hatte gute Gründe, ihr ein kostbares Geschenk zu machen, beispielsweise die Tatsache zu vertuschen, daß er ihr untreu gewesen ist; was da kostbar scheint an dem Geschenk, wird solcherart verdunkelt und geschmälert.

Wir sagen, sie hatte gute Gründe, seinen Gruß nicht zu erwidern, beispielsweise, weil ihr zu Ohren gekommen ist, daß er sie vor anderen herabgesetzt hat. – Der Umstand, daß sie seinen Gruß nicht mehr erwidert, gibt ihm wiederum den guten Grund, sie weiterhin und noch ärger zu verlästern.

All diese guten Gründe und Gegengründe sind wie Abzweigungen im Labyrinth unseres Tuns und Redens, die uns immer tiefer in Zweideutigkeiten verstricken und ins Dunkel locken.

Geben wir die Gründe auf, wie Wittgenstein, der sagt, man muß zu einem Ende kommen, oder werden sie uns von einem schicksalhaften Ereignis entrissen, wie bei Heideggers Epiphanie des Seinsgeschicks, scheinen wir den Halt am Gelände des gewohnten Sagens zu verlieren und in einen Abgrund zu fallen; doch könnte sich dieses Fallen – zumindest für Augenblicke – in ein Schweben verwandeln.

Die Taube fliegt durch den Abgrund des Himmels, doch hält sie das Gelände der Luft. – Der freie Denker und Dichter tänzeln ohne Halt auf dem Hochseil der Sprache, doch balancieren sie mit der Balancierstange der Grammatik und Rhetorik das Gleichgewicht immer wieder aus.

Der lange Irrweg des Denkens im Labyrinth der abendländischen Theologie, aus dessen Dunkel das Feuer Pascals den Ausweg zeigte.

Sisyphos wälzt den Stein aufs neue, auch wenn er weiß, daß er von dem Hügel wieder herabrollen wird. – Wir haben die Kerze zum Angedenken auf dem Grabe angezündet, auch wenn wir wissen, daß sie nur kurze Zeit in der Dämmerung scheinen wird.

 

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