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Klarheit, Bestimmtheit, Vollständigkeit

12.11.2015

Leistungen und Grenzen des Verstehens

 

Wenn wir alles erklären könnten, würden wir nichts mehr verstehen.

Würden wir alles erklären, wären wir bedeutungsblind.

 

Erklären nennen wir das Ableiten einer Aussage mit einem empirischen Inhalt aus einer gültigen All-Aussage oder einer gültigen allgemeinen Gesetzesaussage.

Der Satz „A ist identisch mit B“ oder der Satz „Der Abendstern ist der Morgenstern“ kann aus dem folgenden All-Satz abgeleitet werden: „Wenn alle wahren Aussagen über A auch wahre Aussagen über B sind, sind A und B derselbe Gegenstand“, denn zu diesen Aussagen gehören auch die Aussagen über die Raum-Zeit-Koordinaten.

Die wahre Aussage „Der Apfel fällt zu Boden“ kann aus dem Newtonischen Gesetz der Schwerkraft abgeleitet werden, das besagt, daß alle Körper sich in einem Maße anziehen, das dem Produkt ihrer Massen entspricht und umgekehrt proportional zum Quadrat ihrer Abstände ist.

Erklärende Aussagen gelten nicht von Gegenständen an sich, sondern von Gegenständen, auf die wir im Rahmen unserer Erfahrungen und der Sprache mit dem Referenten „Gegenstand“ oder „Körper“ Bezug nehmen. Was es heißen würde, daß es Körper ohne Bezug auf eine mögliche Erfahrung von Körpern oder ohne Bezug auf eine Sprache mit dem Referenten „Körper“ geben könnte, verstehen wir nicht. An diesem entscheidenden Knotenpunkt sind unsere Konzepte des Erklärens und Verstehens unentwirrbar verknüpft. Das macht unsere Erklärungen nicht bodenlos oder bezuglos, im Gegenteil, es verschafft ihnen den epistemischen Rahmen, in dem sie Geltung beanspruchen können.

Verstehen nennen wir im Folgenden das Lesen der Gedanken unserer Mitmenschen, die sie uns mittels Kundgabe von Zeichen aller Art mitteilen. Du verstehst, was ich im Sinn habe oder meine, wenn ich vor unserem geplanten Spaziergang nach einem Regenschirm greife, in der Regel so, daß ich dir anhand dieser beobachtbaren Handlung meine Überzeugung nach Analogie einer Griceschen Implikatur übermittele, daß es Regen gibt.

Einfühlung ist ein etwas mißverständlicher Begriff für den Vorgang des Verstehens. Denn es ist keine reine Gefühlssache, andere zu verstehen, sondern beruht auf einem rationalen Vermögen, das ohne sprachliches Können nur sehr dürftige Erfolge verspräche. Freilich muß ich, um zu verstehen, was dein Lächeln bedeutet oder verursacht hat oder worauf es sich bezieht (zum Beispiel mein komisches Verhalten), die Fähigkeit zu lächeln mitbringen und schon selbst dann und wann bei famosen Gelegenheiten gelacht haben. Der Ausdruck macht uns aber darauf aufmerksam, daß wir uns prinzipiell in die Lage dessen versetzen können müssen, dessen Äußerungen oder Handlungen wir verstehen wollen. Wenn du an meiner Stelle dann zum Regenschirm griffest, weil du die Überzeugung hättest, daß es Regen gebe, wirst du mir diese Überzeugung zusprechen, wenn ich unter denselben Umständen nach dem Schirm greife.

Für den Vorgang des Verstehens gilt: non humanum alienum mihi est. Um zu verstehen, daß Verbrecher ihre üblen Taten aufgrund bestimmter Überzeugungen und Motive ausführen, muß ich diese Überzeugungen und Motive nicht teilen, sondern nur nachvollziehen oder als Hypothesen in die Begründung einsetzen. Wir verstehen den Mord der RAF an an Hanns Martin Schleyer, Siegfried Buback oder Jürgen Ponto aus dem Motiv, aufgrund ihrer Überzeugung von der Todeswürdigkeit aller führenden Repräsentanten des verhaßten Systems zu liquidieren, auch wenn wir weit entfernt sind, eine solche Überzeugung zu teilen oder uns in die Motivlage der Verbrecher einfühlen zu wollen.

Wenn die Türken glaubten, daß die Angehörigen des armenischen Volkes auf ihrem Territorium während des Ersten Weltkrieges mit den verfeindeten britischen Alliierten verbündet waren und deshalb in ihren Augen Staatsfeinde darstellten, ergibt sich aus dieser Überzeugung das Motiv, sie aus ihrem Hoheitsgebiet zu vertreiben. Würde ich mich aus moralischen Gründen sträuben, diese Überzeugung und dieses Motiv nachzuvollziehen, könnte ich nicht verstehen, was damals geschah, gleichgültig, ob wir diese Überzeugung und dieses Motiv heute teilen oder nicht teilen, wie wir es heute moralisch einschätzen und etikettieren. Wenn sich nachträglich aufgrund verifizierter Dokumente belegen ließe, daß die Armenier mit den Alliierten nicht verbündet waren und deshalb von den regierenden Jungtürken zu Unrecht als Staatsfeinde angesehen worden wären, mindert oder modifiziert diese Tatsache nicht das Verstehen des damaligen Geschehens, weder im faktischen noch im moralischen Sinne. Denn eine irrtümliche Überzeugung macht das Handeln genauso plausibel wie eine wahre Überzeugung. Wenn sich aber aufgrund von Dokumenten erweisen ließe, daß die Türken über die Tatsache, daß die Armenier nicht mit den Alliierten verbündet waren, sehr wohl im Bilde gewesen sind, wird ihre anderslautende Überzeugung als Vorwand oder Schutzbehauptung entlarvt und es wäre an uns, die wahren ihr Handeln leitenden Überzeugungen herauszufinden.

Da die Falschheit des mentalen oder intentionalen Inhalts einer Überzeugung die Faktizität dieser Überzeugung nicht falsifiziert, können wir den Vorgang des Verstehens ungeachtet einer speziellen Wahrheitstheorie für Überzeugungen erhellen. Offenkundig lagen die Mitglieder der RAF in der Einschätzung ihrer Opfer als liquidationswürdiger Repräsentanten des Systems daneben, doch hindert uns das nicht daran, ihre Motive sei es auch aus falschen Überzeugungen abzuleiten. Wenn sich indes aufgrund verifizierter Dokumente herausstellen sollte, daß die Mitglieder der RAF nicht glaubten, was sie zu glauben vorgaben oder schienen, sondern ihre Gefangenen in Wahrheit nicht für lebensunwürdige Mitgeschöpfe hielten, wären wir gehalten, nach anderen Überzeugungen zu suchen, die ihre Taten in Wahrheit motiviert haben, auch wenn diese Überzeugungen ebenfalls falsch sein könnten.

Verstehen bezieht sich auf alle sogenannten propositionalen Einstellungen wie Hoffen, Befürchten oder Erwarten, deren Basis oder epistemische Voraussetzung das Glauben, Dafürhalten oder Überzeugtsein ist, denn wenn du erwartest, daß ich nach dem Regenschirm greife, heißt dies: Du glaubst, daß ich nach dem Regenschirm greife und diese Handlung in nächster Zukunft vollziehen werde. Propositionale Einstellungen sind durch den jeweiligen mentalen oder intentionalen Inhalt der Überzeugung definiert, die sie ausdrücken. Wenn du glaubst, daß ich glaube, daß es Regen gibt, ist der mentale Inhalt deines Glaubens mein Glaube oder der intentionale Gehalt meiner Überzeugung, daß es regnen wird.

Wir können nur das Verständliche oder mentale Inhalte verstehen, nichtmentale Inhalte können wir bestenfalls erklären und wenn wir vorgeben, sie zu verstehen, gebrauchen wir den Begriff des Verstehens in analoger Weise oder metaphorisch. Die alten Römer glaubten zu verstehen, warum es regnet, denn sie huldigten der Annahme oder zitierten einen alten Mythos, wonach meteorologische Phänomene wie Regen, Blitz und Donner eine Kundgabe oder Manifestation ihres höchsten Gottes Jupiter seien. Wenn wir angesichts strahlenden Sonnenscheins sagen, Petrus meine es gut mit uns, gebrauchen wir die Äußerung metaphorisch, denn wir kennen die naturwissenschaftliche Erklärung für die Entstehung des Regens.

Das Unverständliche ist ein Grenzbegriff im Horizont dessen, was wir verstehen können. So erscheint es dir vielleicht unverständlich, daß ich nach dem Regenschirm greife, obwohl es Petrus augenscheinlich gut mit uns meint. Wenn ich dir erkläre, daß ich den Regenschirm immer mitnehme, wenn ich nach draußen gehe, weil mir dies ein Gefühl der Sicherheit vermittle, löst sich dein Unverständnis in Wohlgefallen auf.

Unterscheiden zu können, was wir verstehen und nicht verstehen, was wir verstehen und nicht erklären oder was wir nicht verstehen und erklären können, ist eine Leistung der Vernunft. Die alten Römer glaubten zu verstehen, warum es regnet, wir nicht, denn wir können nur konstatieren, daß es regnet und kausale Hypothesen ansetzen, um das Phänomen zu erklären. Du kannst verstehen, welche Überzeugung ich haben muß, um nach dem Regenschirm zu greifen, aber erklären kannst du es nicht, denn es gibt keine kausale oder neurowissenschaftliche Hypothese, die das Phänomen meines Überzeugtseins vom bevorstehenden Regen erklärt. Wir könnten verstehen, warum es die Welt gibt, wenn wir sie als Produkt des freien Willens des Schöpfergottes ansehen. Aber wir können nur erklären, daß es die Welt gibt, weil wir mit der kausalen Hypothese arbeiten, daß der Entstehung des Universums eine kosmische Singularität im Sinne der Quantentheorie zugrundeliegt.

Es scheint, daß Klarheit bei der Darstellung der Vorgänge des Sinnverstehens unser Ziel sein muß, das wir mittels Bestimmtheit oder Genauigkeit und Vollständigkeit bei der Beschreibung aller relevanten Aspekte erreichen sollten. Wie sich allerdings zeigen wird, können wir dieses Ziel nur in seltenen Fällen erreichen, zumeist wird die Darstellung umso unklarer, je vollständiger sie sein soll, und umso unvollständiger, je klarer sie zu sein scheint.

Die Bestimmtheit und Genauigkeit unserer Darstellung findet ihr Maß darin, daß wir nicht nur die Anfangs- und Schlußglieder der Mitteilung, sondern sämtliche auch unausgesprochenen, aber implizierten oder im Griceschen Sinne implikierten Zwischenglieder analysieren und aufzeichnen. Die Vollständigkeit der Darstellung messen wir daran, daß wir alternative Modelle des Sinnverstehens entwerfen und am gegebenen Material erproben. Wir sollten dann zu einer rationalen Entscheidung darüber kommen, welches Modell wahr oder zumindest wahrscheinlicher ist. Können wir nicht zu einer rationalen Entscheidung kommen, erreichen wir auch nicht die erwünschte Klarheit der Darstellung.

Im Beispielfalle kannst du anhand meiner Handlung, vor unserem Spaziergang nach dem Regenschirm zu greifen, folgende Schlußfolgerung aufstellen:

A (P greift nach dem Regenschirm)
B (P glaubt, daß es regnen wird)

Wenn B, dann A
A
Also B

Es sieht so aus, als wären wir damit dem Ideal jeder semantischen Analyse, Eindeutigkeit in der Identifizierung von Überzeugungen zu gewinnen, ganz nahe. Wir weisen aber darauf hin, daß die genannte Folgerung unvollständig ist. Denn es könnte durchaus sein, daß ich meinen Schirm gewohnheitsmäßig mitnehme, ob es nun regnet oder die Sonne scheint, um sicherzugehen, daß ich im Falle des Falles gegen Regen gewappnet bin, und also auch dann mitnehme, wenn ich nicht die Überzeugung habe, es werde regnen, oder daß ich gedankenlos oder in der Absicht nach dem Ding gegriffen habe, um irgendetwas beim Spaziergang in der Hand zu halten. Wir könnten demnach unseren Schluß folgendermaßen vervollständigen:

A (P greift nach dem Regenschirm)
B oder C oder D oder E oder F
Wenn A,
dann B oder C oder D oder E oder F

A
Also B oder C oder D oder E oder F

wobei
B (P glaubt, daß es Regen gibt)
C (P greift gewohnheitsmäßig nach dem Schirm, wenn er nach draußen geht)
E (P greift gedankenlos nach dem Schirm)
F (P greift in der Absicht nach dem Schirm, unterwegs etwas in der Hand zu halten)

Wir sehen, daß wir die Alternativen beliebig fortsetzen können. Ja, wir können annehmen, daß sich gewisse Alternativen überlagern können oder nicht ausschließen müssen: Ich kann gewohnheitsmäßig oder gedankenlos nach dem Schirm greifen und gleichzeitig die Überzeugung hegen, daß es Regen gibt.

Wir müssen demnach unser Schlußschema korrigieren, denn wie sich zeigt, kannst du aufgrund der beobachtbaren Daten beides vermuten, das Vorhandensein meiner Überzeugung, es werde regnen, und das Nichtvorhandensein dieser Überzeugung, also:

A (P greift nach dem Regenschirm)
B oder C oder D oder E oder F

Wenn A
dann B oder Nicht-B

Daraus ergibt sich, daß wir aus dem beobachteten Verhalten einer Person in manchen Fällen nicht auf ihre Überzeugungen oder Gedanken schließen können, weil der Grad der Bestimmtheit, der eine Entscheidung für eine spezifische Überzeugung möglich machte, nicht immer erreicht wird. Trotz der Vollständigkeit der Darstellung kommen wir nicht zur Klarheit über die Eindeutigkeit der Zuschreibung von Gedanken.

Wenn ich aber nach dem Schirm greife und sage: „Ich glaube, es gibt Regen“, scheinst du größere Klarheit über meine Überzeugungen gewinnen zu können, denn dann gehst du wohl davon aus, daß ich tue, was ich tue, weil ich glaube, was ich glaube oder zu glauben vorgebe. In solchen Fällen verknüpfen wir den Inhalt des im Sprechakt geäußerten Gedankens, daß es Regen gibt, mit der beobachtbaren Handlung, den Schirm zu ergreifen, und schreiben ihm die Kraft zu, als Grund der Handlung wirksam zu werden.

Haben wir damit eine klare Darstellung durch vollständige Bestimmtheit des Dargestellten gewonnen?

Sagen, daß man etwas glaube oder denke, ist kein Kriterium für das Vorhandensein der geäußerten Überzeugung. Wir können durch unser Tun und Sagen vorgeben, eine bestimmte Überzeugung zu haben, obwohl wir sie nicht haben oder ihr Gegenteil annehmen. Leider können wir nicht in jedem Falle die Echtheit einer geäußerten Überzeugung von einer Lüge unterscheiden.

Dir kommen Zweifel, wenn ich trotz herrlichen Wetters nach meinem handlichen Taschenschirm greife und diese Handlung mit der Äußerung über meine Überzeugung begründe, daß es Regen geben wird. Ich könnte ein ängstlicher oder feiger oder schwächlicher Mensch sein, ich könnte jemand sein, der von depressiven Selbstzweifeln geplagt wird, einer, der diese Befindlichkeiten aus Scham vor anderen, ja vielleicht sogar vor sich selbst tunlichst verhehlt und verbirgt, und nehme deshalb stets einen Regenschirm zur Hand, wenn ich nach draußen gehe, um mich mit einer Art Waffe zu versorgen, die ich freilich niemals gegen angebliche oder tatsächliche Angreifer eingesetzt habe oder wahrscheinlich niemals einsetzen werde. Wenn es sich um einen Stockschirm handelt, könnte ich ihn aus den genannten Gründen mitnehmen, aber auch aus dem Grund, um mich damit abzustützen oder die Unsicherheit meines Ganges zu verbergen.

Wie verhält es sich mit der seltsamen Annahme, ich könne Überzeugungen hegen, von denen ich nichts weiß, sodaß ich nach dem Regenschirm greife und vorgebe, ihn mitzunehmen, weil ich befürchte, daß es Regen gebe, in Wahrheit aber, wie die Psychoanalyse annehmen zu können glaubt, weiß ich nicht, daß ich den Schirm wegen meiner unbewußten Kastrationsangst stets mit mir tragen muß, und die Tatsache, daß ich dies nicht weiß, stelle eben den Grund für meine Handlung dar? Wir können hier nur die Vermutung aufstellen, daß die Annahme, wir könnten Überzeugungen haben, von denen wir nichts wissen und wissen können, inkonsistent ist, denn es gehört zu unserem Begriff einer Überzeugung, daß wir wissen, was wir glauben und meinen, wenn wir etwas glauben und meinen.

Wir scheinen aber mit unserem semantischen Latein am Ende zu sein, wenn es sich um konditionale Satzgefüge handelt, denn aus diesen vermögen wir nicht auf die Bestimmtheit einer Überzeugung zu schließen. Du könntest dir sagen: „Obwohl die Sonne scheint, nimmt er seinen Schirm mit“ oder um den kontrafaktischen Fall allgemein auszudrücken: „Auch wenn es nicht geregnet hätte, hätte er seinen Schirm mitgenommen“, und wärest um keinen Deut schlauer, was die Tatsächlichkeit meiner Überzeugung angeht.

Wir bemerken, daß wir auf das Lesen von Gedanken oder das Folgern auf die Überzeugungen anderer aus ihren Handlungen, Sprechhandlungen eingeschlossen, zwar unbedingt angewiesen sind, um unsere Kommunikation und unser eigenes Verhalten mit ihnen abzustimmen und zu koordinieren, aber in manchen Fällen das Ziel verfehlen, Klarheit über die Eindeutigkeit ihrer Überzeugungen zu gewinnen, weil die Situation mangels Bestimmtheit der Darstellung zweideutig bleibt. Dies gilt manchmal auch für die günstigen Fälle, in denen wir das beobachtete Verhalten anhand der geäußerten Sprechakte mit Motiven und Handlungsgründen verknüpfen können.

Im Gegensatz zu den bisher betrachteten opaken Handlungskontexten und intensionalen Sprechakten des Glaubens scheinen extensionale Kontexte transparent und eindeutig bestimmbar zu sein.

Doch schauen wir uns den bekannten Fehlschluß an:

A: Die Straße ist naß.
B: Immer wenn es geregnet hat, ist die Straße naß.
C: Also hat es geregnet.

Der Fehlschluß auf C verweist uns auf die Unvollständigkeit der Kondition B. Diese können wir leicht ergänzen, indem wir etwa sagen:

A: Die Straße ist naß.
B: Immer wenn es geregnet hat oder die Straße künstlich befeuchtet wurde, ist sie naß.
C: Es hat geregnet oder die Straße wurde künstlich befeuchtet.

Diese Vollständigkeit und Klarheit der Darstellung scheint uns in Fällen von Handlungskontexten und intensionalen Sprechakten nicht erreichbar zu sein.

Je mehr wir uns von intensionalen Kontexten zu extensionalen Kontexten hinwenden, umso mehr scheinen wir an Klarheit der Darstellung zu gewinnen, auch wenn die Zahl der Theorien zunimmt. Denn wenn wir an der Konstanz der Bedeutung und Referenz der natürlichen Termini festhalten und nur die Bedeutung der theoretischen Termini variieren, können wir unsere Theorien konvergieren lassen. Nehmen wir die Erklärung des Phänomens der relativen Bewegung von Massepunkten oder Körpern, so können wir folgende Liste aufstellen:

A: Der Apfel fällt zu Boden.
T1: Aristoteles (die Körper bewegen sich zu ihrem natürlichen Ort, der Erde)
T2: Newton (die Körper bewegen sich gemäß dem Gesetz der Schwerkraft)
T3: Einstein (die Körper bewegen sich entlang ihren Raum-Zeit-Linien)

Wir gehen von der Konvergenz der drei Theorien aus, wenn wir an der Konstanz der Referenz des natürlichen Terminus „Körper“ festhalten und die Varianz der Erklärungen in der Verwendung der theoretischen Termini „natürlicher Ort“, „Schwerkraft“ und „Raum-Zeit-Linie“ ansetzen.

Der teleologische Begriff der Bewegung zu einem natürlichen Ort bei Aristoteles vermittelt uns einen Schein des natürlichen Verstehens, wie wir es bei intensionalen Handlungskontexten kennengelernt haben. Dieser Schein ist in den Theorien von Newton und Einstein aufgehoben.

Der Unterschied der Theorien läßt sich in ihrem Allgemeinheitsgrad angeben: Die antike Hypothese gilt für die Erde, Newtons Gesetz für alle massereichen Punkte, Einsteins Theorie für alle Weltsysteme, auch für die Bewegungen von masselosen „Punkten“ wie der Photonen.

Wir kommen zu dem Ergebnis: Je mehr wir an Klarheit der erklärenden Darstellung durch minutiöse Bestimmtheit und erschöpfende Vollständigkeit gewinnen, umso weniger verstehen wir (im Sinne des Verstehens von Gedanken).

Wenn die Welt aus der zivilisierten Zone unserer intensionalen Handlungskontexte, Sprachhandlungen inbegriffen, kurz der Kultur, und der natürlichen Welt besteht, die uns durch extensionale Welterklärungen zugänglich ist, müssen wir dann so weit gehen und die Welt unseres Sinnverstehens als Funktion der augenscheinlich sinnfreien Welt der Natur begreifen? Das scheint unmöglich zu sein, weil wir auch in den abstraktesten Theorien den letzten Bezug zu unserer Welt nicht loswerden können, denn wir können die Welt nicht beschreiben ohne Sprache, unsere Sprache.

Andererseits können wir auch nicht hoffen, die natürliche Welt als Funktion einer letzten menschlichen oder übermenschlichen Sinngebung konsistent ableiten zu können, ein transzendentaler Traum, den wir an den Residuen magischen Denkens wie der Astrologie oder esoterischen Annahmen über die „Mutter Erde“ oder die „Mutter Natur“ oder den sektiererischen Annahmen über Endzeit und Apokalypse wahrnehmen.

Wir bleiben anfechtbar und verletzlich, aber auch wachsam und mutig auf unserem Wachtposten auf dem Schiff namens Forschung oder Theorie, das bekanntlich nicht nur unvorhersehbaren Stürmen oder Windstillen ausgesetzt ist, sondern auch bei voller Fahrt repariert werden muß.

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