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Kleine semantische Grenzgänge

10.08.2021

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Ein Bild für die Sprache und das Bewußtsein ist das je eigene Gesichtsfeld, in dem wir nicht gleichzeitig alle Örter, Winkel und Aspekte scharf stellen können.

Ein anderes Bild für die Sprache und das Bewußtsein ist die Landschaft, die wir durch Anwendung projektiver Methoden und mittels Verwendung von ikonischen Zeichen für Bäume, Quellen, Flüsse, Denkmäler und Ortschaften auf einer topographischen Karte darstellen; wir müssen den Ausschnitt und die maßstäbliche Größenordnung nach pragmatischen Gesichtspunkten vorab auswählen und können nicht gleichzeitig alle möglichen Abbildungsvarianten wiedergeben.

Die Verwendung unserer Farbskala läßt nicht zu, einen Ort im Gesichtsfeld gleichzeitig als grün und rot zu definieren.

Die Verwendung unserer grammatischen und logischen Syntax läßt nicht zu, daß wir einer Entität gleichzeitig die Eigenschaft P und Nicht-P zusprechen oder denselben Gegenstand sowohl als A als auch als Nicht-A bezeichnen.

Die Sprache kann sich nicht vollständig auf sich selbst abbilden, das Bewußtsein kann sich nicht selbst vollständig erfassen.

Bewußtsein und seiner bewußtes Leben erfassen und begreifen wir gemäß demjenigen, was einer von sich selbst sagt; dabei ist, was er sagen kann, durch das Wörterbuch und die Grammatik seiner Sprache begrenzt.

Hätten wir nur die Geschmacksnoten „süß“ und „sauer“ zur Auswahl, könnten wir jemandem, was wir beim Hopfentrunk schmecken, nicht als bitter beschreiben.

Nur weil unsere Grammatik die Verwendung von Zeitstufen des Verbs erlaubt, können wir uns für das gestrige Zuspätkommen entschuldigen und uns für morgen verabreden.

Jede Realität birgt unendlich viele Virtualitäten; jeder Augenblick bewußten Lebens ist ein Spiegel eines Spiegels.

Haben wir den Abschnitt der Novelle gestern oder vorgestern gelesen? Aber wir könnten ihn an beiden Tagen gelesen haben; oft haben wir keine Möglichkeit, unsere Erinnerungen kalendarisch zu ordnen.

Jede Form der Abbildung wie die Projektion der dreidimensionalen Landschaft auf die zweidimensionale topographische Karte impliziert eine unbegrenzte Anzahl von Varianten.

Sprache ist eine Form der Abbildung des Bewußtseins mit einer unbegrenzten Anzahl von Varianten.

Was wir von uns selber sagen, unterscheidet sich bisweilen grundlegend von dem, was andere von uns sagen. Beides kann aufschlußreiche Varianten bieten, ohne einander ausschließende Alternativen darzustellen.

Bei einer Wanderung sind wir, ohne es zu merken, an denselben Ort gelangt; wir haben ihn aus einer anderen Richtung passiert. So auch mit unseren Erinnerungen.

Es besteht ein wesentlicher Unterschied darin zu wissen, daß es sich bei dieser Person um Peter und bei diesem Ort um Berlin handelt, und zu wissen, daß wir Personen und Orte mit Eigennamen wie Peter oder Berlin bezeichnen. Im letzteren Fall handelt es sich um grammatisch-logisches und kategoriales Wissen.

Die Annahme, Peter habe sich vorige Woche in Berlin aufgehalten, kann wahr oder falsch sein; aber die Verwendung der Kategorie des Namens für eine Person und einen Ort sowie die Kategorie der Zuordnung (Attribution) einer temporalen Bestimmung konstituieren eine gültige Aussageform für eine wahre oder falsche und also für jede in einer solchen Sprache mögliche Aussage.

Die Verwendung von grammatisch-logischen Kategorien wie Namen und Attributen definiert den Kontext des Sagbaren und die Grenzen des sprachlich erfaßbaren Sinns.

Die Annahme, Peter sei nicht der Sohn von Helga, sondern von Hanna, stellt einen empirischen Fehler dar (wenn Helga Peters Mutter ist); aber die Annahme, Helga sei jünger als Peter (wenn Helga Peters Mutter ist), stellt einen kategorialen Fehler in der Verwendung der Relation der Verwandtschaft zwischen Kind und Eltern und ihrer zeitlichen Implikationen dar.

Die Annahme, Peter sei älter als Helga (wenn Helga Peters Mutter ist), ist nicht falsch, sondern sinnlos.

Hans muß sich beeilen, um rechtzeitig zu der Verabredung zu kommen. Peter muß später zu der Verabredung gekommen sein, wenn Hans früher erschienen ist.

„Nicht können“ und „können“ sowie „müssen“ haben jeweils entweder einen kategorialen oder empirischen Sinn, und also einen gänzlich verschiedenen Sinn.

Sinnlose Aussagen beruhen auf Fehlern in der Verwendung der grammatisch-logischen Kategorien von Namen und Attributen; anders als falsche Aussagen stellen sie keine möglichen Wahrheiten dar.

Die Angabe der Höhe einer Erhebung oder des Abstands zwischen Orten auf der topographischen Karte bleibt gleich, auch wenn wir die Projektionsmethode verändern und einen anderen Maßstab verwenden.

Die Angabe des zeitlichen Abstands zwischen der Geburt der Mutter und der Geburt ihres Sohnes in Jahren, Stunden oder Minuten hat keinen Einfluß auf unser Urteil, daß der Sohn jünger als seine Mutter sein muß.

Die allgemeine Struktur der Aussage zeigt sich darin, daß wir etwas über etwas sagen: „Helga ist Mutter“ (Fa) oder „Helga ist Peters Mutter“ (aRb).

Die Grenze des sinnvoll Sagbaren ist durch das kategoriale Netzwerk definiert, das der von uns verwendeten Sprache eigentümlich ist. Die Grenzen verschieben und erweitern sich, wenn wir das Netzwerk der Kategorien erweitern; räumliche, zeitliche und kausale Kategorien erweitern das elementare kategoriale Netzwerk aus Namen und Relationen (Eigenschaften).

„Peter ist jünger als Helga, weil Helga seine Mutter ist.“ – Wir können den kausalen Satzsinn allerdings durch folgendes Wenn-dann-Argument ersetzen. Wenn immer wer Sohn einer Mutter ist, ist er jünger als diese.

Dies gilt auch für Dispositionsbegriffe wie zerbrechlich oder aufbrausend, indem wir diese Begriffe durch Wenn-dann-Hypothesen eliminieren. Statt zu sagen: „Weil Glas zerbrechlich ist, zerfiel die herabstürzende Vase in tausend Stücke“, sagen wir: „Immer wenn Glas großem Druck ausgesetzt wird, zerbricht es“; und statt zu sagen: „Weil er jähzornig ist, fährt er bei der kleinsten Mißachtung aus dem Häuschen“, sagen wir: „Immer wenn er sich übergangen oder mißachtet fühlt, bekommt er einen Tobsuchtsanfall.“

Natürlich müssen wir bei der Zuschreibung von Empfindungen, Gefühlen oder Absichten an andere oder uns selbst das Faktum des bewußten Lebens oder der Subjektivität voraussetzen; denn von einem Farbeindruck, einer Gefühlsaufwallung oder der Absicht, eine Reise zu machen, können wir nur reden, wenn wir sie jemandem zusprechen, dem sie mehr oder weniger bewußt sind.

Farben, Gefühle und Absichten sind nicht objektive Gebilde wie die Rose, die wir rot nennen, der steile Berggrat, auf dem zu wandern uns schwindeln macht, oder der Meeresstrand im Süden, zu dem wir aufbrechen wollen. Doch diese subjektiven oder mentalen Tatsachen sind gleichwohl objektivierbar, denn sollten wir die rote Ampel einfach ignorieren, sind wir entweder farbenblind oder tollkühn und laufen Gefahr, überfahren zu werden; wenn uns auf ebener Erde schwindelt, leiden wir unter Kreislaufschwäche, und wenn wir von der Verschmutzung des Strands in Kenntnis gesetzt werden, stornieren wir die Buchung der Reise.

Aber selbst der scheinbar subjektlose Kontext objektiver Aussagen wie der Aussage, daß Wasser bei 100 Grad Celsius verdampft oder sich das Weltall mit immer höherer Geschwindigkeit ausdehnt, kommt ohne eine von der wissenschaftlichen Gemeinschaft entwickelte Metrik und ohne messende Beobachtung nicht aus; denn wir sind es, die Temperaturskalen entwickeln und anlegen, wir sind es, die mittels raffinierter Meßinstrumente und fotochemischer Analysen die Rotverschiebung sich entfernender Galaxien aufzeichnen und die kosmische Hintergrundstrahlung abbilden.

Wir könnten vom Ursprung des Sonnensystems oder des Universums, also Ereignissen der Weltzeit, nicht reden, hätten wir dank unserer Lebenszeit in den Kategorien von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht einen letzten Fluchtpunkt und eine äußerste Sinngrenze unserer wissenschaftlichen Theorien und Aussagen.

Wir können als gleichsam sprachtheoretisch primordiale Unterscheidung den Unterschied von dem, worüber wir reden, und dem, was wir von ihm sagen, annehmen; doch können wir Art und Zahl der von uns anwendbaren und sinnvoll möglichen grammatisch-logischen Kategorien nicht, wie Aristoteles und Kant meinten, ein für allemal festlegen oder aus höheren logischen Regeln ableiten.

Nicht jeder Sprecher kann alles sagen und alles für alle oder im Namen aller sagen, sondern nur, was das kategoriale Netzwerk der von ihm verwendeten Sprache und der soziale Kontext seiner Äußerung hergeben.

Mit der altgriechischen Sprache konnten die sublimsten Formen der Dichtkunst ausgebildet werden; aber mit ihrem auf Buchstaben beschränkten Zahlsystem keine höhere Mathematik, keine Relativitäts- und Quantentheorie.

„Hans meinte, Peter habe sich wohl aufgrund des hohen Verkehrsaufkommens verspätet, er werde gewiß noch kommen.“ – „Wäre Peter im Wissen um das hohe Verkehrsaufkommen früher losgefahren, hätte er pünktlich sein können.“ Ohne die Grammatik des Konjunktivs könnten wir keine Vermutungen, Hypothesen und Wahrscheinlichkeitsaussagen, ohne die Grammatik des irrealen Konditionalsatzes keine kontrafaktischen Aussagen bilden.

Der Roboter kann die Kategorien der Person, der Absicht, der Handlung nicht erfassen und sinnvoll verwenden; er kann sich nicht wie eine Person als Teilnehmer und Mitglied einer Gruppe, einer Institution oder eines sozialen Systems verstehen, in deren Kontext wir ihr absichtsvolle Handlungen zusprechen. Die Teilnahme an einer institutionellen Praxis ist durch die Erfüllung oder Nichterfüllung von Teilnahmebedingungen definiert und limitiert; der Chorleiter muß eine entsprechende musikalische Ausbildung absolviert haben, der gute Wille des Sängers, es auch einmal zu versuchen, reicht nicht aus. Solche sozialen Inklusions- und Exklusionsbedingungen sind auf Roboter nicht anwendbar; die Sänger verstehen die Anweisungen des Chorleiters, die dem Roboter erteilten Programmbefehle kann er weder verstehen noch in Frage stellen. Der Roboter funktioniert diesseits der Grenze des Sinns und Unsinns, die den Teilnehmern sozialer Systeme durch die adäquate Verwendung der grammatisch-logischen Kategorien ihrer Sprache vorgegeben sind.

Der Roboter unterliegt keinem Zwang, wenn er seine Befehle ausführt; anders Sprecher einer Sprache, die vor dem Überschreiten des Sinns durch den systematischen Druck der zulässigen grammatischen und logischen Kategorien auf das Feld des sinnvoll Sagbaren zurückgelenkt werden; die Behauptung, der Mörder habe heimtückisch gehandelt, sei aber mangels freier Willensentscheidung freizusprechen, wird vom Unsinn durch Negation befreit, wenn wir entweder sagen, der Mörder habe nicht heimtückisch gehandelt, weil er geisteskrank ist, oder sagen, der Mörder habe heimtückisch gehandelt, weil seine Willensentscheidung bei der Tatvorbereitung und im Moment der Tat nicht eingeschränkt war.

Der angemessene Gebrauch der Negation belehrt uns über die Grenze des sinnvollen und sinnlosen Redens.

Der ausgediente Roboter läßt sich durch einen neuen ersetzen. Die Eltern dieser ihrer Kinder nicht, auch wenn sie tun, was alle Eltern tun, auch wenn das kategoriale Netzwerk unserer Sprache zu ihrer Beschreibung nur jene Allgemeinbegriffe und Eigenschaften wie liebevoll, fürsorglich und vorausschauend hergibt, die wir auch bei der Beschreibung anderer Elternpaare verwenden könnten.

 

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