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Knäuel, Schlaufen, Maschen

17.07.2019

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

„Kritik“ ist die Ausrede des faulen und unproduktiven Geistes.

Kundgaben des Mißfallens, und seien sie berechtigt, zählen nicht in der Bilanz des schöpferischen Lebens.

Auch der Mißgünstige erkennt oder ahnt den Wert, doch nur der an ihm teilhat oder sich in ihm wiedererkennt, wird ihn preisen.

Das Grauen breitet sich unter uns aus, doch sollen wir kein Aufhebens davon machen; so schimmert und schweigt die Seerose über der dunklen Tiefe voller Trübsal und Schlamm.

Die Idolatrie des Außenseiters, der leidenden und gequälten Kreatur, des Kranken und Verrückten ist ein Symptom absteigender Kulturen.

Die falsche Verklärung der Armut im Dunstkreis eines falschen Christentums zeugt von vulgärem Geschmack.

Die großen Gauner und Halunken, die Verführer und Betrüger verfügen zumeist über ein hohes Maß an Intelligenz, wenn sich diese auch vorzüglich in Schlauheit und Gerissenheit Bahn bricht; das ist ein sicheres Anzeichen dafür, daß es keine einhellige Korrelation von Intelligenz und edlem Charakter gibt.

Wesentliche Züge wie Intelligenz und Charakter sind angeboren, einatmen kann man sie schließlich nicht; aber kaum, was man daraus macht.

Worte, deren Sinn man zu lange prüft, zerfallen auf der Zunge.

Wenn wir vom Anblick eines Gesichts abziehen, was wir an seinem Lächeln empfunden haben, bleibt eine hohle Maske.

Worte, die gleich getrockneten Blüten in einem Album ihren Duft verloren haben.

Der Künstler, der nichts zu sagen hat, wird laut.

Dem Kult des Fremden verfällt am ehesten, wer nichts sein eigen nennen kann.

Dem Idol des Unverständlichen, Bizarren, Rätselhaften opfern am meisten, die sich selbst nicht verstehen.

Es gibt keine adäquaten Übersetzungen, sondern nur Transpositionen in die eigene Sprache, die umso gelungener sind, je mehr sie diese um neue Ausdruckswerte, farbige Schatten und Nuancen des Je ne sais quoi bereichern.

Intellektuelle sind blutdurstige Opfer- und Hohepriester des abstrakten Ideals, während Dichter sich vor dem grellen Licht des Allgemeinen in den Schatten der konkreten Anschauung und Empfindung flüchten.

Erotische Metaphern – Goldkettchen, Armreife, Amulette auf der nackten Haut der Geliebten, die der Dichter der Römischen Elegien gerne abstreifen möchte.

Die Täuschung des Satzes ist bisweilen der Punkt.

Es gibt die Erfahrung des eigenen Lebens und die Gesetze der Physik; aber es gibt keine übergeordneten Gesetze, mit deren Hilfe sich diese Erfahrung auf die Gesetze der Physik abbilden läßt.

Wir sehen nicht die Farben Newtons.

Die Grammatik der Gene bestimmt die gesetzesartigen chemischen Umwandlungen, die sich in der Biologie unseres Körpers niederschlagen; aber es gibt keine übergeordneten Gesetze, mit deren Hilfe sich die Grammatik unserer Sprache und unseres Denkens auf die Grammatik der Gene abbilden ließe.

Sprachliche Bedeutungen sind durch Konventionen bestimmt; nicht so die Bedeutungen der physikalischen und chemischen Gesetze.

Der Tod ist nicht der Punkt hinter dem Satz unseres Lebens.

Die einschneidenden Widerfahrnisse des Lebens wechseln ihre Farbe im wechselnden Licht der Erinnerung.

Während Sigmund Freud den Traum im Licht einer Handvoll abstrakter Symbolismen zu dechiffrieren glaubte, hat sie der Dichter des Traums, Hugo von Hofmannsthal, in die Wildnis undeutbarer Zeichen heimgeholt.

Der Künstler schlägt moralisch höchste Töne an, das heißt, seine produktive Ader ist verstopft.

Die apriorischen Wahrheiten, die Philosophen verkünden, sind rhetorische Schleifen um tautologische Trivialitäten. Sie blenden allerdings mit dem Schimmer der Täuschung, als handelten sie von Tatsachen der Welt, wie der Tatsache, daß uns alles, was wir erleben und kennen und als Tatsache erfassen, nur im Zeit-Raum der Erfahrung begegnen könne; doch augenscheinlich erhebt sich dieser apriorische Satz in das Nirgendwo jenseits der Raum-Zeit und kann daher keine Tatsache meinen. Er ist wie die rhetorische Schleife um den Satz p, wenn wir sagen: Es ist wahr, daß p.

Immer wieder einmal gerät man ins Staunen, wenn man den Mond groß aufgehen sieht und die ungeheure Masse der dunklen Erde unter sich fühlt, und man denkt an das Alter der Erde und die vergleichsweise winzige Zeitspanne, die man auf ihr verbringt.

Dem Wollknäuel, der nach und nach abgewickelt wird und dessen Faden über eine Schlinge oder Schleife in eine Strickmasche geschlagen wird, sieht man nicht das Strickmuster an, das sich am Ende ergibt. Und es gibt nicht nur ein Muster, sondern beliebig viele. – Nimm den Wortschatz für das Knäuel, die Grammatik für die Schlinge und Metrik und Metaphorik für die Maschen – so erhält man ein Bild für die Unwahrscheinlichkeit, ja Unableitbarkeit lyrischer Gedichte.

Nimm für das Wollknäuel die Nukleinsäuren und für Grammatik und Maschen die Struktur der DNS; daß daraus unter anderem nicht nur Rosen, Schlangen und Elefanten hervorgehen, sondern auch ein Lebewesen, das die Struktur der eigenen DNS auffädelt und dechiffriert, ist nicht minder unwahrscheinlich.

Es ist umgekehrt ein Leichtes, die Maschen und Strickmuster aufzulösen und den Faden wieder aufzuwickeln. Aber wenn wir die Struktur der DNS oder sprachlicher Gebilde auflösen, erhalten wir ein wirres Knäuel von Nukleinsäuren oder unartikulierter Laute, das uns nichts mehr sagt.

Die Transformation des Wollknäuels zum Strickmuster vollzieht sich in einer geordneten Reihe ineinandergreifender und hierarchisch koordinierter Bewegungen der Finger und Hände (kurz Handlungen), die aus dem Faden zunächst eine Schlaufe und sodann mittels der Stricknadeln Maschen bilden.

Diese Form des gestuften und geordneten Verlaufs von Finger- und Handbewegungen diene als Bild oder Modell für die sprachliche Bedeutung: Die sprachlichen Maschen wären dann die mittels grammatischer Funktionen systematisch geordneten Ketten von Lauten.

Die Umwandlung des Wollknäuels in die Mannigfaltigkeit von Strickmustern folgt keinem kausalen Ablauf: Die Maschen sind das Ergebnis zweckgerichteter, sinnvoll aufeinander abgestimmter Fingerbewegungen.

Und doch: Wie träumerisch-versunken nesteln und schlingen sich die Finger der erfahrenen Strickerin um Nadeln und Faden, und unter ihren sinnenden Händen breiten herrliche Muster sich aus, während sie vor sich hin summend an Sommertage ihrer Kindheit denkt.

Die Koralle, die Blüte, die Iris des Auges wachsen nach je eigentümlichen Gesetzmäßigkeiten; nicht so das Gedicht, auch wenn das symbolistische eines Mallarmé ihnen ähneln möchte.

Die Gesetzmäßigkeiten, nach denen wir das natürliche Lautmaterial zu geordneten Reihen und Texturen des sprachlichen Sinns verketten und verweben, sind nur scheinbar denjenigen ähnlich, nach denen Korallen, Blüten, Pupillen ihre spezifischen Geometrien ausformen.

Die in Not geratene, hilflos und ohnmächtig den Naturlaut der Klage oder Angst ausstoßende Kreatur ist ungleich dem Menschen, der um Hilfe ruft: Im Hilferuf ist im Unterschied zum Naturlaut die ganze Sprache im Muster des Ausdrucks und der Aufforderung schon da.

Wir können das Knäuel wirr umsponnener Fäden aber auch als Symbol der vorbegrifflichen oder Traumdimension des menschlichen Daseins nehmen und es den Symbolen von Koralle, Blüte und Pupille als Muster geordneten, vollkommenen sprachlichen Ausdrucks entgegenstellen. Solch ein Knäuel bildet sich allererst infolge der unwillkürlichen Auflösung der Maschen und Muster der konventionellen Sprache in einer Erfahrung dessen, was Hölderlin die aller poetischen Produktion vorausliegende Totalempfindung nennt oder Hofmannsthal im Brief des Lord Chandos als Inspiration des heraklitischen hen kai pan im Angesicht der stummen Dinge beschreibt. Die Totalempfindung drückt sich nicht im Naturlaut der Klage oder des Angstschreis aus, sondern ist wie der zweideutig über der Asche schwebende Rauch, Asche der von der Glut des Herzens verzehrten sprachlichen Muster.

 

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