Skip to content

Nasenstüber – Diurnum philosophicum IV

06.01.2023

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Wie ein Nasenstüber sei, was uns weckt und zu denken anregt.

Opposition und Widerspruchsgeist stabilisieren die Zustände.

Der Opponent ähnelt nach und nach dem, wogegen er anrennt.

Der Fromme gleicht mehr und mehr dem Unhold, den er bekämpft, in Grund und Boden predigt, mit Weihrauch zu ersticken sucht, vor dem er das Kreuz schlägt.

Ah, die Schlingen des Begriffs abwerfen, Subjekt und Objekt, Wesen und Erscheinung; doch selbst darin noch, im Abwerfen und Loswerden, welches Würgen, welches Röcheln.

„Der Schein trügt: Auch wenn er ein korrektes Deutsch spricht, von Haus aus ist er Engländer, und seine Muttersprache ist das Englische.“ Hier geht alles mit rechten Dingen zu, und was wir auf solche und ähnliche Art äußern, ist sinnvoll, wenn auch trivial.

Dagegen: „Du bist wohl ein Mensch, aber in Wahrheit bist du eine von einem genetischen Programm aufgebaute und von neuronalen Prozessen gesteuerte biologische Maschine.“ – Auf diese Weise können nur Philosophen die Sprache mißbrauchen.

Der Säugling schreit, sein Schreien, sagen wir, ist ein unmittelbarer und unwillkürlicher Ausdruck seiner Befindlichkeit, von Hunger, Durst, Unbehagen, Angst. – Die Mutter eilt herbei, um ihn zu stillen, zu säubern, zu wiegen, zu beruhigen. Dieser Vorgang wiederholt sich. Schließlich sind wir geneigt zu sagen: Der Säugling schreit nach seiner Mutter, er schreit, damit seine Mutter zu ihm komme.

Aber diese Deutung geht fehl, solange das Schreien des Säuglings das Verhalten der Mutter unwillkürlich und nicht durch eine willkürliche Signalisierung auslöst.

Wenn unsere Verlautbarungen und Sprechakte das Verhalten anderer willkürlich oder willentlich aufgrund ihrer zweckdienlichen Ausrichtung und Formung auslösen, treten wir in den semantisch-logischen Raum des sprachlichen Handelns, in dem gilt: Wir hätten auch schweigen können.

Wir können voraussagen, daß der Säugling, bedrängt vom Gefühl des Mangels, schreien wird; wir können nicht voraussagen, ob der Angeklagte vor Gericht reden oder schweigen wird.

Wenn der Angeklagte die Absicht hegt, vor Gericht zu schweigen, macht er keine Voraussage über den Eintritt eines mentalen Zustandes, der ihm die Rede verunmöglicht; denn nicht sprechen können heißt nicht schweigen.

Das Wörterbuch kann als Instrument der Verständigung, aber auch als Repräsentation des Sprachschatzes zweier natürlicher Sprachen betrachtet werden.

Die topographische Karte kann als Instrument und Mittel der Orientierung, aber auch als projektive Abbildung einer bestimmten geographischen Fläche betrachtet werden.

Das Gedicht kann als Mittel betrachtet und benutzt werden, den Hörer oder Leser in einen bestimmten mentalen Zustand, eine seelische Gestimmtheit, zu versetzen; aber unabhängig von jeder konkreten kommunikativen Situation betrachtet ist es ein Gewebe von mehr oder weniger ungewöhnlichen Wörtern und Wendungen, die in einen eigentümlichen Rhythmus eingebettet sind, der sich von Vers zu Vers und Strophe zu Strophe wiederholt.

„Ich bin hier“ ist die Grundaussage sprachlicher Pragmatik.

„Ich bin hier“ – töricht zu fragen, ob sich der Sprecher nicht vielleicht irre, sinnlos, Zeugen für das Gesagte ausfindig machen zu wollen.

„Ich war dort“ ist die Grundaussage sowohl des autobiographischen Berichts wie der erzählenden Prosa.

„Ich war dort“ – hier können wir, wenn es sich um einen autobiographischen Bericht handelt, nach den zeitlichen und räumlichen Koordinaten fragen, aber auch nach Zeugen, die eine solche deskriptive Aussage bestätigen oder nicht bestätigen.

„Auch ich war in Arkadien“ – hier erfassen wir den imaginären Charakter mythischer Raum-Zeit-Koordinaten und zugleich den fiktiven Charakter der Sprecherposition des Gedichts. Töricht, nachprüfen zu wollen, ob der Sprecher wirklich dort gewesen ist, wo niemand gewesen sein kann.

Wir können aus den Beschreibungen im sechsten Buch der Äneis eine Karte der mythischen Jenseitslandschaft mit ihren Wegen und Flüssen, Sümpfen, Hainen und Inseln der Seligen mit denselben Darstellungsmitteln entwerfen, die wir für die Erstellung einer topographischen Karte Irlands verwenden. Der Unterschied liegt in der Art ihrer Verwendung: Die Karte der mythischen Unterwelt dient uns zur Orientierung bei der Lektüre Vergils, die Karte Irlands der Orientierung bei unserer Wanderung von Dublin nach Connemara.

Ich glaubte, gestern auf der anderen Straßenseite Peter zu erkennen; doch wie sich herausstellte, war es sein Zwillingsbruder Paul. Dagegen ist es unsinnig sich vorzustellen, Odysseus sei bei den Phäaken nicht Nausikaa, sondern ihrer Zwillingsschwester begegnet.

Dem Astronomen hilft sein Wissen über den Mond keinen Deut, um Goethes Gedicht „An den Mond“ zu verstehen.

Der Physiologe, der den neuronalen Hintergrund der Bewegungen unserer Sprechwerkzeuge untersucht, und der Physiker, der die von ihnen hervorgebrachten Luftschwingungen und Klangfrequenzen analysiert, helfen uns keinen Deut bei der Erhellung unserer Fähigkeit, die Bedeutung des Verlautbarten zu verstehen.

Die Erklärung der Bedeutung von Aussagen durch ihre psychologische Funktion ist nicht falsch, sondern unsinnig und verfehlt.

Die Erklärung der Bedeutung eines Gedichts durch seine psychologische Funktion, etwa eine Stimmung, ein Gefühl, eine visuelle Vorstellung hervorzurufen, ist nicht falsch, sondern verfehlt.

Wäre sie falsch, könnte man an den Psychologen die unsinnige Erwartung richten, eine bessere Erklärung zu finden.

Das Auge ist ein Teil der Welt, die es sieht.

Was Augen sehen, das Ding, die Landschaft, das Bild, ist weder im Auge noch im Kopf. Es ist gleichsam nirgendwo.

Wo ist, was Ohren hören, der Klang, das Wort, der Satz? Nicht in den Schwingungen der Luft, nicht in den Schwingungen des Trommelfells, nicht im Feuern der Neuronen.

Wir bewohnen das Haus, aber nicht unseren Körper.

Nur kleine Kinder glauben, sie werden unsichtbar, wenn sie die Augen schließen.

Wir können nicht sagen, wir hören den Klang und das Wort, wir verstehen den Satz, ohne daß ein anderer sagen könnte, er hört den Klang und das Wort und versteht den Satz.

Wir können die Tatsache, daß es regnet, nicht verstehen, ohne den behauptenden Satz, daß es regnet, bilden zu können. Freilich, wir können die Hand zum Fenster hinausstrecken und Regentropfen auf ihr empfinden. Doch die Empfindung der Nässe auf der Hand ist nicht die Feststellung der Tatsache, daß es regnet.

Freilich gelangen wir ohne die Empfindung der Nässe oder die Wahrnehmung der fallenden Regentropfen nicht zur Feststellung der Tatsache, daß es regnet.

Tatsachen existieren nicht ohne das Korrelat der Sätze, die ihre Existenz aussagen. Freilich, ihre Bestandteile wie Regentropfen existieren unabhängig davon, ob wir sagen, daß es regnet.

Der Zusammenhang von Empfindung und Wahrnehmung mit der Bildung von Sätzen, die einen bestehenden oder nicht bestehenden Sachverhalt ausdrücken, ist nicht kausal – also nicht naturwissenschaftlich mittels kausaler Erklärung ableitbar.

Wir hören Tropfen rieseln und denken, daß es regnet; aber der Nachbar im ersten Stock gießt seine Blumen auf dem Balkon.

Wir stellen bedauernd fest, der Freund sei trotz seiner Zusage nicht zu unserer Verabredung gekommen. Was nicht eingetreten ist und nicht existiert, die Tatsache, daß der Freund nicht erschienen ist, kann keinen kausalen Einfluß auf das ausüben, was wir sagen.

Wären wir nichts als durch genetische Codes aufgebaute und von neuronalen Prozessen gesteuerte biologische Maschinen, müßte nicht nur die sprachliche Kompetenz überhaupt, sondern die aktuelle Bildung und Äußerung von Sätzen mit rein naturwissenschaftlichen Methoden erklärt werden können. Aber der Satz „Wir können die Bildung und das Verstehen von sprachlichen Bedeutungen mit naturwissenschaftlichen Methoden kausal erklären“ kann mittels einer naturwissenschaftlichen Methode nicht kausal erklärt werden. Daraus folgt, daß wir keine rein biologischen Maschinen sind.

Wir können Sätze bilden, die Sachverhalte, die nicht bestehen, als bestehend behaupten; solche Sätze sind entweder falsch oder weder wahr noch falsch, sondern Bestandteile von fiktionalen Texten wie Märchen und Fabeln, in denen Tiere sprechen, wie Mythen, in denen Götter mit Menschenfrauen Halbgötter zeugen, wie Legenden, in denen Tote lebendig werden, oder wie Gedichte, in denen Quellen klagen und Blumen seufzen.

Die Annahme, die Muse habe Homer inspiriert, ist keine erklärende Hypothese für die in der Ilias verwendeten Sätze, die weder wahr noch falsch sind, weil sie dem Bereich mythischer Rede angehören. In welchem Labor, mit welchem Experiment sollte sie erhärtet oder widerlegt werden?

Um zu verstehen, was ein Sprecher meint, wenn er sagt: „Vorsicht, Stufe“, müssen wir die Äußerung als Warnung interpretieren; wenn er sagt „Die Sonne scheint“, je nach Kontext als Einladung zu einem Spaziergang oder als Feststellung einer Tatsache auf dem Hintergrund beispielsweise jener Tatsache, daß es soeben noch geregnet hat.

Doch der begriffliche Rückgang auf die Sprecherintention ist kein Universalschlüssel für jede Art sprachlichen Verstehens. Mag der Freund, der uns darüber aufklärt, daß dieser Baum keine Fichte ist, wie von uns angenommen, sondern eine Tanne, die Absicht haben, uns zu belehren, wir verstehen, was er meint, auch ohne Rückgriff auf die Sprecherintention.

„Jeder Mensch ist ein Künstler.“ – „Das An sich wird zum Für sich.“ – „Alle Menschen werden Brüder.“ – „Die Zahl 1 ist definierbar als die Menge aller Mengen, die nur ein Element enthalten.“ – „Der sinnvolle Satz ist ein Bild eines möglichen Sachverhalts.“ Wir können die Falschheit oder Sinnlosigkeit von Sätzen verstehen, ohne die Intention dessen zu kennen, der sie äußert.

Das expressive und das appellative Moment unserer Verlautbarungen (das nach der Mutter schreiende Kind) haben wir mit den Tieren gemein.

Anzunehmen und zu versuchen, Natur, Geschichte und Kultur mittels einer universalen Methode zu Leibe zu rücken und zu erklären, führt zu einem Mißbrauch der Sprache, mag er auch die Errichtung eines grandiosen Kartenhauses inspirieren wie bei Hegel; ein Hauch von philosophischer Sprachkritik, und es fällt in sich zusammen.

Mag die Vermehrung und Ausbreitung von Pflanzen und Tieren mittels darwinscher Prinzipien der Fitnessoptimierung hinreichend erklärbar sein, die Tatsache, daß gewisse Menschengruppen auf dem Höhepunkt der Vorsorge und Lebenssicherung durch Wohlstand und Technik ihre Fortpflanzungsbereitschaft mehr und mehr einschränken, entzieht sich diesem Typ naturwissenschaftlicher Erklärung.

Es ist absurd und zeugt von begrifflicher Konfusion anzunehmen, daß die Entdeckung des zyklischen Umlaufs der Erde und der Planeten um das Zentralgestirn der Sonne, die kopernikanische Wende, einen kausalen oder internen Zusammenhang mit unseren Lebensfragen habe; denn ob nun die Sonne um die Erde oder die Erde um die Sonne kreist, Fragen wie die nach dem, was wir für gut, richtig und schön oder für das Gegenteil ansehen, werden davon nicht berührt.

Nicht die Sprache überhaupt, sondern die Fähigkeit, bestehende und nicht bestehende Sachverhalte oder ontologisch irrelevante logische Relationen und mythische Sphären sprachlich und symbolisch darzustellen, ist das spezifische Humanum.

Was wir mit „Denken“ meinen, kann weder psychologisch noch neurologisch erfaßt, geklärt und erklärt werden.

Überkommen mich Zweifel, heißt dies nicht, daß gewisse Neuronen schwächer feuern (vielleicht im Gegenteil).

Wenn ich an jemanden denke, ist die Wahrheit oder Falschheit meiner Erinnerungen an die Person unabhängig von dem Motiv, das mir die Erinnerung eingeflößt hat.

Gedanken sind keine unsichtbaren seelischen Vorkommnisse oder mentalen Entitäten, keine Modifikationen einer ätherischen Substanz in einer für andere unzugänglichen Innenwelt.

Wir können sehen, was einer denkt.

Jemand geht unruhig auf und ab, schaut immer wieder auf die Uhr, wirft einen nervösen Blick aus dem Fenster, setzt sich hin, blättert in einem Buch, läßt es rasch wieder fahren, geht erneut im Zimmer auf und ab. Wir sehen, daß er wartet, einen Besucher erwartet, und was immer ihm dieser mitbringen mag, es scheinen keine Blumen zu sein.

Der Säugling, der nach der Mutter schreit, wird als kleines Kind gelernt haben, seine Mutter zu rufen.

Der durch den Nasenstüber zum Denken Erwachte wird den Drang, nach jemandem zu rufen, hinunterschlucken, auch wenn er im Sterben liegt.

Über Nacht ist Schnee gefallen, die Stille, Weite, Frische des Eindrucks. Erlöst vom Zwang, etwas zu sagen, etwas zu verstehen. Dann gewahrst du die feinen Risse, die Mulden der ersten Tropfen, das aus dämmernder Tiefe glucksende Wasser.

 

Comments are closed.

Top