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Philosophie und Grammatik VIII

09.05.2019

accusativus cum infinitivo (a. c. i.)

1. Petrus vidit Carolum amicum suum in hortum venire.
2. Carolus audivit Petrum in choro cantare.
3. Carolus libenter audit luscinias canere.
4. Petrus non putavit Carolum in forum venisse.
5. Petrus negat Corinnam in hortos ambulare.
6. Carolus percipuit Camillam in popina laete cum Corinna fabulari.
7. Corinna suspicatur Carolum Romam fugisse.
8. Claudia sperat Petrum sibi adesse.
9. Camilla desiderat Corinnam secum Romam proficisci.
10. Corinna libenter meminit se cum Camilla Romam pervenisse.
11. Scio me nihil scire.
12. Sentio supra manum meam aquam fluere.

1. Peter sieht seinen Freund Karl kommen.
2. Karl hörte Peter im Chor singen.
3. Karl hört gern, wie die Nachtigallen singen.
4. Peter glaubte nicht, daß Karl zum Forum gekommen ist.
5. Peter bestreitet, daß Corinna im Park spazierengeht.
6. Karl hat genau bemerkt, daß sich Camilla in der Kneipe vergnügt mit Corinna unterhalten hat.
7. Corinna hat Karl im Verdacht, nach Rom geflohen zu sein.
8. Claudia hofft, Peter werde ihr helfen.
9. Camilla sehnt sich danach, daß Corinna mit ihr nach Rom reist.
10. Corinna erinnert sich gern daran, wie sie mit Camilla in Rom angekommen ist.
11. Ich weiß, daß ich nichts weiß.
12. Ich fühle Wasser über meine Hand rinnen.

Im Lateinischen kann nach einem Satz mit einem Prädikat der Wahrnehmung (sentire, audire, videre), des Wissens und Meinens (scire, cognoscere, cogitare, existimare, putare, suspicari), des Sagens (dicere, concedere, negare, fertur) oder der Gemütsbewegung (gaudere, laetari, queri, mirari, velle, nolle) der wahrgenommene, erkannte, ausgesagte oder emotional bewertete Sachverhalt durch einen accusativus cum infinitivo wiedergegeben werden. – Diese Ausdrucksmöglichkeiten finden wir wenngleich in eingeschränkter Form auch im Deutschen und Englischen sowie in allen vom Lateinischen als Muttersprache abstammenden Sprachen wie dem Französischen, Italienischen oder Spanischen.

Wenn wir sagen: „Peter sieht seinen Freund Karl kommen“, „Karl hörte Peter im Chor singen“ oder „Karl hört gern die Nachtigallen singen“, tun wir einen tieferen Blick in die Sinnschichten der Sätze, als wenn wir sagten: „Peter sieht, daß sein Freund Karl kommt“, „Karl hörte, wie Peter im Chor sang“ oder „Karl hört gern, wie die Nachtigallen singen.“ – Wenn Peter seinen Freund Karl kommen sieht, verstehen wir: Er sieht den Freund, und zwar als einen, der kommt; wenn wir sagen, daß Karl kommt, sei der Inhalt dessen, was Peter sieht, verstehen wir diesen Inhalt als eine Tatsache, die von der Wahrnehmung Peters unabhängig zu sein scheint. Wir sind geneigt zu meinen, diese Tatsache, daß Karl kommt, gelte so oder so, ob einer sie aufgrund einer Wahrnehmung feststellt oder nicht. Ja, wir meinen, es könnte sein, daß niemand diese Tatsache aufgrund von Wahrnehmungen feststellt, und dennoch sei es der Fall, daß sie gilt oder wahr ist. Doch das sagt der Satz nicht.

Diese semantische Eigenart und Doppelsinnigkeit wird klarer, wenn wir uns den Konstruktionen des a. c. i. nach verba cogitandi und verba dicendi zuwenden. „Petrus non putavit Carolum in forum venisse.“– Wir können den lateinischen Satz nur auf holprige Art wortgetreu wiedergeben, wenn wir etwa sagen: „Peter glaubte Karl nicht zum Forum gekommen zu sein“; wir übersetzen ihn aber gemäß den Gepflogenheiten der deutsche Grammatik so: „Peter glaubt nicht, daß Karl zum Forum gekommen ist.“ – Nun liegt es nahe, den Nebensatz so zu verstehen, als handele er von einem vergangenen Ereignis, nämlich, daß Karl zum Forum gekommen ist; jeder, der Augen hat zu sehen, hätte seine Wahrheit bestätigen können, nur Peter sträubt sich gegen diese offenkundige Tatsache und glaubt es nicht.

Doch das sagt der Satz nicht; vielmehr läßt er offen, ob Karl zum Forum gekommen ist oder nicht; er erwähnt nur die Tatsache, daß Peter es nicht glaubt, auch wenn Karl zum Forum gekommen sein sollte.

Eine ähnliche Bedeutungsambiguität finden wir bei dem Satz: „Petrus negat Corinnam in hortos ambulare.“ „Peter bestreitet, daß Corinna im Park spazierengeht.“ Wenn wir dem grammatischen Schein nachgeben und davon ausgehen, der Nebensatz handele von der Tatsache, daß Corinna im Park spazierengeht, sind wir versucht, eine semantische Paradoxie zu wittern, gleich der von George E. Moore in den Satz gemünzten: „Es regnet, aber ich glaube es nicht.“ – Doch der lateinische Satz läßt es offen, was sich im Park abspielt, und hält nur die Tatsache fest, daß Peter nicht glaubt, daß Corinna sich dort aufhält, gleichgültig ob sie sich tatsächlich im Park ergeht oder nicht.

Anders steht es mit dem Satz: „Carolus percipuit Camillam in popina laete cum Corinna fabulari.“ „Karl hat genau bemerkt, daß sich Camilla in der Kneipe vergnügt mit Corinna unterhalten hat.“ – Die lateinische Konstruktion des a. c. i. nach den verba sciendi als Prädikate des Hauptsatzes erlaubt und fordert sogar die sinngemäße Wiedergabe durch einen deutschen mit „daß“ eingeleiteten Nebensatz; denn solche Verben implizieren, daß es sich bei dem Inhalt des Erkannten und Gewußten um eine Tatsache handelt.

Wäre es nicht der Fall, daß sich Camilla in der Kneipe mit Corinna unterhalten hat, hätte Karl nur vorgeben können, es beobachtet zu haben, mit anderen Worten, er hätte lügen müssen. Und wenn er lügen würde, müßte er wissen, was zu wissen er abstreitet, nämlich, daß sich Camilla in der Kneipe mit Corinna unterhalten hat.

„Corinna suspicatur Carolum Romam fugisse.“ „Corinna hat Karl im Verdacht, nach Rom geflohen zu sein.“ – Der Satz sagt uns nichts über das tatsächliche Verhalten Karls, aber falls Corinnas Verdacht nicht unbegründet sein sollte, etwas über sein mögliches oder wahrscheinliches Verhalten und seine Einstellung zu ihr, mit der er vielleicht ein Liebesverhältnis hatte, dem er durch Flucht zu entkommen sucht. – Ein Verdacht ist eine Art Vermutung, die mehr oder weniger gut begründet sein kann; ist sie weit hergeholt, kommt sie dem Argwohn oder Mißtrauen gleich, das sich durch unscheinbare Indizien nur allzu leicht schüren läßt. Die Plausibilität der Vermutung bemißt sich an der Wahrscheinlichkeit des erwarteten Ereignisses: Je ferner die Provinz, in der Corinna lebt, von der Hauptstadt, als umso stärker müßte sie das Verlangen des enttäuschten Liebhabers veranschlagen, sie zu verlassen, falls sie annimmt, daß ihr Verdacht begründet ist.

Betrachten wir den Gebrauch des Reflexivpronomens im a. c. i.: „Claudia sperat Petrum sibi adesse.“ „Claudia hofft, Peter werde ihr helfen.“ – „Camilla desiderat Corinnam secum Romam proficisci.“ „Camilla sehnt sich danach, daß Corinna mit ihr nach Rom zu reist.“– „Corinna libenter meminit se cum Camilla Romam pervenisse.“ „Corinna erinnert sich gern daran, wie sie mit Camilla in Rom angekommen ist.“– Das Reflexivum vertritt das Subjekt des Hauptsatzes im a. c. i., doch es ist bemerkenswert, daß es durch das Subjekt nicht unmittelbar ersetzt werden kann, ohne daß dies zu Unklarheiten und Mißverständnissen führt. Denn wenn wir grammatisch korrekt formulieren: „Claudia hofft, daß Peter Claudia hilft“, könnte es sich bei der im Nebensatz genannten Claudia um eine andere Person als der im Hauptsatz genannten handeln. Diese Ambiguität kann nur durch den Gebrauch des Reflexivpronomens ausgeräumt werden. Analoges gilt auch von den anderen Beispielsätzen. Wir können Camillas Sehnsucht nach einer Romreise mit Corinna nur eindeutig wiedergeben, wenn sie selbst als Reisegefährtin ihrer Freundin genannt wird. Und ebenso können wir den Sachverhalt, daß sich Corinna an ihr eigenes Erlebnis erinnert, nur mit Hilfe des reflexiven Rückbezugs unmißverständlich zum Ausdruck bringen.

Wenn also Sokrates sagt: „Scio me nihil scire“ – „Ich weiß, daß ich nichts weiß“, könnten wir einwenden: Immerhin mußt du soviel wissen, daß du dich nicht mit einem anderen verwechselst, sondern von niemand anderem als von dir selbst sprichst. Und das ist mehr, als Sokrates anzunehmen gewillt ist, ja soviel mehr, daß er eigentlich nicht von sich behaupten könnte, nichts zu wissen; und wenn es nicht nichts ist, was er da an sich und bei sich selbst gefunden haben sollte, so müssen wir folgern, daß Sokrates sich widersprochen hat, wenn er von sich behauptete, nichts zu wissen.

Doch zu sagen, man wisse von einer Sache, ist etwas anderes, als zu sagen, daß man es wisse. In dem, was man von einer Sache zu wissen glaubt, kann man fehlgehen, nicht aber darin, es zu glauben oder zu sagen, man wisse es. ­Sokrates kann nicht darin irren, daß er von sich spricht, wenn er von sich spricht.

Diese philosophisch erhellende semantisch-grammatische Struktur können wir der korrekten Verwendung des Reflexivpronomens im lateinischen a. c. i. entnehmen.

„Sentio supra manum meam aquam fluere.“ „Ich fühle Wasser über meine Hand rinnen.“ Dies zu sagen ist etwas anderes als zu sagen: „Ich weiß, daß Wasser über meine Hand rinnt“; die grammatische Konstruktion mit dem a. c. i. bezieht mein Fühlen auf meine Hand, denn ich könnte auch sagen: „Ich fühle an der Hand das Wasser rinnen“; während die grammatische Konstruktion mit dem Nebensatz die Tatsache, daß Wasser über meine Hand fließt, auf mein Wissen bezieht.

Ich kann freilich nicht in dem Sinne wissen, daß Wasser über MEINE Hand fließt, wie ich wissen kann, daß Wasser über DEINE Hand fließt. Die Verwendung sowohl des Reflexivpronomens als auch des Possessivpronomens der 1. Person klären uns über den radikalen Bedeutungsunterschied in meiner Rede von meiner Hand und deiner Hand auf.

Denjenigen, der behauptet, etwas zu wissen, können wir fragen: „Weißt du es wirklich?“ Doch denjenigen, der behauptet, etwas zu fühlen, können wir nicht fragen: „Fühlst du es wirklich?“ – Etwas zu fühlen impliziert unmittelbar ein Selbstgefühl oder ein unmittelbares Selbstgefühl. Das Selbstgefühl oder die ursprüngliche Vertrautheit mit sich selbst oder mit der Tatsache, daß wir DA SIND, geht allen anderen Einstellungen in unserem Tun und Sagen voraus.

 

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