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Philosophieren IX

18.07.2013

Was tat (hat) wer wem (mit wem, für wen, gegen wen) wie wann und wo (getan)? Was tut wer jetzt (heute)? Was wird wer morgen (in der Zukunft) tun?

Den Orts- und Raumbezug, den wir zur Orientierung in der Welt, das heißt auf der Straße, unterwegs, in fremden Gebäuden, Städten und Landschaften, benötigen, stellen wir dadurch her, dass wir die räumlichen Entfernungen auf die Nullkoordinate der Position beziehen, die wir mit unserem Körper einnehmen. „Komm her zu mir!“ heißt: „Komm näher an den Ort, den ich mit meinem Körper einnehme!“

Du schaust von der Höhe des Bergs auf den tief im Tal fließenden Strom und rufst aus: „Wie klein die Schiffe und die Menschen sind!“ Freilich sind sie nicht wirklich klein, jedenfalls nicht kleiner als gewöhnlich – du nimmst sie allerdings aufgrund der Struktur deines Sehorgans in dieser Entfernung so und nicht anders wahr. Soll man also sagen: „Du täuschst dich, in Wahrheit sind die Dinge viel größer?“ Aber auch ganz in der Nähe betrachtet, sehen die Dinge und Menschen so groß oder klein aus, wie du sie aufgrund der Struktur deines Sehorgans nun einmal wahrnimmst.

Allerdings machen wir uns einen festen Maßstab wie das Metermaß, messen das Ding und den Menschen daran ab, und sagen: „Diese Frau misst genau 164 cm, egal aus welcher Entfernung du sie betrachtest.“ So fangen wir mit unseren Messkünsten und Messverfahren an und schreiten dann voran auf den Gebieten der Topographie, Geographie, Geodäsie und hören nicht auf, bis wir die Ausdehnung des Universums bestimmt haben.

Den Zeitbezug, den wir zur Orientierung in der Welt, das heißt zur Übersicht über die Einteilungen und die Dauer des Tags, der Woche, des Monats, des Jahrs, deiner und meiner Lebenszeit, der Lebensdauer unserer Wir-Gruppe in Gestalt der Familie, der Sippe, der Nation benötigen, stellen wir dadurch her, dass wir die zeitlichen Abstände mittels der kulturell erworbenen und erlernten Kalender- und Epochengliederungen auf die Nullposition unseres Gegenwartsbewusstseins beziehen, das heißt auf die Gegenwart deines Erlebens, in der du augenblicks handelst und sprichst und die du so durchgehend Augenblick für Augenblick als „jetzt“ ansprichst.

Einige haben angenommen, analog zum Sehorgan für die räumliche Orientierung von einem Zeitorgan für die zeitliche Orientierung sprechen zu können. Indes scheint der wache Sinn für den schmalen Horizont der Gegenwart und all das, was in ihm abläuft, vom Kurzzeitgedächtnis kontrolliert und abgebildet zu werden. Diese aktuelle Erlebniszeit begleitet die lange Zeit unseres Lebens und Erlebens, die vom Langzeitgedächtnis kontrolliert und abgebildet wird wie der Schatten den Körper oder wie der aktuell sich schreibende Algorithmus den Prozessor.

Dieses an das Kurzeitgedächtnis geknüpfte bewusste Zeiterleben ist der letzte Horizont unserer persönlichen Zeiterfahrungen und Zeitabschätzungen. Von diesem Nullpunkt des Zeitbezugs aus reden wir von gestern, heute und morgen, von unserer Kindheit oder der Zeit, die wir in dieser Stadt oder in jenem Land verlebten, von der vergehenden und der kommenden Zeit. Es ist dieses Gegenwartserleben, das sich mit den bekannten merkwürdigen oder außerordentlichen psychologischen Zuständen mischen und aufladen kann: die ewig sich in Erlebnisfülle und -dichte dahinziehenden Sommertage der Kindheit oder das Erlebnis des alternden Menschen, die Zeit verlaufe schneller und schneller, die Langeweile des allen sozialen Erwartungen und Beanspruchungen entlaufenen Bohemiens und Verbrechers, das Erlebnis des Kairos durch den historischen Menschen, der eine Zeitenschwelle überschreitet.

Als natürliche Wesen mit sich nur in Grenzen regenerierenden Organismen, anfällig für Krankheiten, Verletzungen und Unfällen ausgesetzt, gelangen wir unversehens vom Kindsein zum Jugendalter und blicken ungläubig von der hohen Warte des reifen Erwachsenen auf die ferne Ebene des Alters: Schicksalhaft dem Prozess des Alterns preisgegeben, sehen wir unserem endgültigen Verfall und Untergang entgegen. Das Wissen um dieses tödliche Faktum führt zwar bei schweren pathologischen Fällen zu Lähmungen der Antriebskraft und des Lebenselans – im Normalfall bleiben uns ein tragisches Lebensgefühl oder ein schwermütiges Starren aufs Grab (das berüchtigte Sein zum Tode) erfreulicherweise erspart. Jedenfalls hindert uns die Gewissheit unseres dermaleinstigen Hinschieds nicht daran, weiterhin unsere Absichten für die nähere oder fernere Zukunft zu hegen und mit den Menschen und Mitteln zu verfolgen, die wir dafür als geeignet ansehen.

Wir synchronisieren mein und dein Gegenwartserleben im Wir-Erleben kollektiver Gegenwart des Festes, des Wettkampfes, des Spiels, des Rituals, des Krieges. Löst sich die kollektive Umklammerung der einzelnen Erlebniszentren, fallen ich und du wieder in die Einzelrhythmen und Einzelzyklen unseres kleinen Dahinlebens zurück.

Auf dem historischen Hintergrund der großen Gründungen und Stiftungen unseres Kulturkreises säkularer und religiöser Art waren und sind unsere Erlebniszeiten eingebettet und synchronisiert in epochal ausstrahlende Epochen-, Monats- und Jahresregister, wie bei der Jahreszählung nach der Gründung Roms (ab urbe condita) und der Annuität der Senatorenfolge oder den Regierungszeiten der Kaiser sowie nach der jüdischen Offenbarung datierend von der Erschaffung der Welt oder nach der christlichen Offenbarung datierend von der Geburt Christi.

Erzählungen über Personen, die uns interessieren, knüpfen wir an Erzählungen über Ereignisse, in denen sie verstrickt waren, in denen sie sich zum Beispiel tapfer behaupteten und das Ihre verteidigten oder feige davonliefen und alles preisgaben. In solchen Geschichten treten ihre besonderen Begabungen, Persönlichkeitsmerkmale und Charaktereigenschaften zutage: Mut und Feigheit, Besonnenheit und Leichtsinn, Ausdauer und Schwäche, Klugheit und Torheit. Wir erzählen solche Anekdoten, Histörchen und Geschichten im narrativen Erzähltempus des Präteritums (Imperfekts). „Es war ein schöner Sommertag, er ging in der Lindenallee spazieren.“ Das Erzähltempus erlaubt uns, ohne genaue Angabe des Zeitpunkts auf Ereignisse und Zustände der Vergangenheit Bezug zu nehmen, die eine gewisse Dauer für sich beanspruchen.

„Nachdem er seinen Bruder Remus ermordet hatte, hat Romulus die Stadt Rom gegründet.“ Mit der Verwendung der vollendeten Gegenwart (Perfekt) nehmen wir auf ein reales oder fiktives Geschehen der Vergangenheit Bezug, dessen Auswirkungen und Konsequenzen für unsere Gegenwart beziehungsweise die Gegenwart des Sprechers Relevanz und Bedeutung haben oder zu haben beanspruchen.

„Ich werde dich morgen früh in der Lindenallee abholen.“ Wir sind handelnde Wesen, auf der hügeligen Vulkanlandschaft unserer gleichsam erloschenen, vergangenen Handlungen sind wir guter Dinge, weiterhin Absichten zur Ausführung zukünftiger Handlungen hegen zu dürfen. Um die zukünftige Aktion glücklich in den Hafen zu fahren, betasten wir fragend den Zukunftshorizont: „Wirst du morgen auch Zeit haben und rechtzeitig zur Stelle sein”? „Passt dir die Lindenallee oder sollen wir einen Treffpunkt wählen, der dir lieber ist?“ Wir klopfen mit Fragen und Wenn-dann-Behauptungen im futurischen Tempus die Vektoren und Faktoren, die als Bedingungen des Eintretens des gewünschten oder als Bedingungen der Vermeidung des unerwünschten und gefürchteten Ereignisses vorliegen, auf die Wahrscheinlichkeit eben dieses Eintretens ab. „Wenn du den Frühzug nimmst, kann du noch rechtzeitig zum Beginn der Veranstaltung da sein.“

“Wenn du das und das tätest, würdest du dadurch das und das erreichen.“ „Wenn du das und das getan hättest, hättest du das und das erreicht.“ Die konditionale Fügung im Möglichkeits- und Unmöglichkeitsmodus des Coniunctivus irrealis stellt uns Gedankenmodelle zur Verfügung, mit denen wir unseren Möglichkeitssinn auf die Probe stellen und mögliche Handlungen und Ereignisse auf die Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens oder Nichteintretens abtasten können: „Wenn du den Frühzug verpassen würdest, könntest du nicht rechtzeitig zum Beginn der Veranstaltung da sein.“ „Wenn du mehr Engagement zeigen würdest, könntest du bald beruflich aufsteigen.“

Der offene Horizont der Zukunft ist unser eigentlicher Lebensbezug – solange wir leben. Die Ereignisse der Vergangenheit, die wir mit anderen und andere neben und vor uns erlebt und in Gang gesetzt haben, beziehen wir über die Mündungsspitze unserer aktuellen Erlebnisgegenwart auf das mehr oder weniger offene Delta der Zukunft. Um die vergangenen Handlungen in das konditionale Satzgefüge einzupassen, das uns erlaubt, sie in Hinsicht auf zukünftige Möglichkeiten zu bewerten, bilden wir Wenn-dann-Sätze im Möglichkeits- und Unmöglichkeitsmodus des Coniunctivus irrealis: „Hättest du damals mehr Engagement gezeigt, wärest du bald beruflich aufgestiegen.“ Daraus leiten wir hoffnungsfroh und motivierend den Satz im realen Futur ab: „Wenn du mehr Engagement zeigen wirst, wirst du bald beruflich aufsteigen.“

Die Zukunft ist der mehr oder weniger weite Horizont all der Ereignisse, die wir erhoffen, die wir befürchten oder die uns gleichgültig sind. Was uns angeht und interessiert, unsere ureigenen Lebensinteressen berührt, sind nützliche, förderliche, segensreiche oder schädliche, hemmende, feindselige Dinge, Ereignisse und Personen. Was uns angeht, sind gute Erwartungen oder schlimme Drohungen, gute Ernten oder Parasitenbefall, Kindersegen oder Kindstod, glückliche Tage oder verweinte Nächte.

Das konditionale Satzgefüge bietet uns die sprachlichen Mittel und Techniken, Nutzen und Schaden, die Taxierung der Wahrscheinlichkeit des Eintritts von nützlichen oder verderblichen Ereignissen und die Taxierung der Wahrscheinlichkeit der Vergrößerung oder Minimierung von Risiken darzustellen: „Wenn wir die Filiale unseres Unternehmens in Flussnähe am Ober- oder Mittelrhein gründen würden, wären wir einem erhöhten Hochwasserrisiko ausgesetzt. Betriebsausfälle aufgrund von eingetretenen Hochwasserschäden könnten unseren Absatz vermindern und dem Ruf unseres Unternehmen schaden.“ „Wenn wir die riskanten und umstrittenen Zusatzstoffe dem neuentwickelten Medikament entzögen, könnten wir das Produkt besser vermarkten und unser Unternehmensimage aufpolieren.“

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