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Philosophieren XXVI

11.08.2013

Wir besteigen nicht das Hochgebirge der Philosophie, da uns die dünne Luft da oben nicht bekommt und wir den Sonderlingseinfällen und Delirien des einsamen Höhenwanderes misstrauen. Schlendern wir also wie immer gemütlich, aber wachen Sinnes über die weite Ebene des Tuns und der Tätigkeit, die wir gar nicht unbescheiden Philosophieren nennen. Du musst also nicht am Schreibtisch hocken und verzagt auf die weiße Fläche der Word-Datei starren. Machen wir wie immer unsere kleinen Exkursionen und halten die Augen auf, was auf der Straße, im Kaufhaus, bei der Arbeit im Büro alles so passiert, spitzen wir die Ohren, wenn merkwürdige oder kauzige, durchschnittliche oder distinguierte Zeitgenossen am Nachbartisch des Cafés plaudern und diskurrieren. Du hast ja stets dein kleines schwarzes Schreibheft dabei und kannst die frischen Impressionen rasch, bedenkenlos, hemmungslos zu Papier bringen. Zu Hause streichst du den rohen Klumpen aus Sense Data und Gedankenfetzen glatt, schneidest ihn in feine dünne Scheiben und hältst das Mikroskop der grammatischen Analyse darüber. So machst du es gut, wenn du die feineren Distinktionen und begrifflichen Tüpfelchen beim Übertrag auf den PC nachholst.

So hast du schon manches erfahren und erschlossen: dass wir herauskriegen, wer und was wir sind und wie es hierzulande und hienieden zugeht, wenn wir fragen, wer was wem wie sagt oder wer was wem (mit wem, gegen wen) wie wo und wann tut. Wir waren so frei, den Redesinn als höherstufigen Sinn in die Reihe der Sinne aufzunehmen, und haben gesehen, dass allererst die adverbiellen Bestimmungen der Elementarausdrücke für unser sinnfälliges Tun und Lassen wie sehen und hören, stehen und gehen, reden und schweigen uns die Welt, in der wir tatsächlich leben, zugänglich und verständlich machen.

Du blickst etwas skeptisch und gibst zu bedenken, dass wir uns doch all den Vordenkern und all dem Vorgedachten gegenüber dankbar zu erweisen haben und erst dankbar erwiesen, wenn wir uns sagen wir mal Platons Schrift über den Staat, die Politeia, vorknöpften und zu Gemüte führten – immerhin ist auch zu dir das Gerücht gedrungen, alles, was post festum zu akademischen Würden aufgestiegen ist, könne als Fußnote zu jenem Meisterwerk angesehen werden. Warum also nicht unsererseits noch ein kleines, bescheidenes Fußnötchen hinzufügen und dann zufrieden in Urlaub fahren oder die Rente beantragen?

Platons Werk gehört eigentlich zum Genre der „Philosophical Fiction“, ist es doch die dialogisch zerklüftete Planskizze einer übersichtlichen Organisation des urbanen Lebens und einer rigiden Ordnung der generierbaren und konsumablen Dinge, wobei zu letzteren neben Sklaven auch Frauen und Kinder gehören. In diesem wenig idyllischen Städtchen passen platonisch dressierte Gedankenpolizisten auf, dass der Bauer nur isst, was er kennt, der halsstarrige und stolze Adel sich unter den Rohrstock des Schulmeisters duckt, Künstler ihre Werke mit dem Gelbstich puren Moralins verdüstern und versäuern und ihre Medien mit schwarzen Propagandafetzen stopfen, während in die verquatschte und entscheidungslos bleibende Ratssitzung der Philosoph nach Einnahme einer Droge namens Theorie mit dem Hammer dreinschlägt und verkündet, was Sache ist – kurz ein utopischer Ort, wo alles blitzblank, ordentlich und hochgeschlossen zugeht und wir nicht leben möchten.

Wir aber, meine Liebe, verschmähen die Fiktion und halten uns lieber an das, was es gibt – und davon gibt es ja bekanntlich reichlich. Ich schlage also vor, anstatt dich in die fiktive WAHRstadt Platons zu flüchten mit mir ein wenig durch die wirklichen Straßen dieser wirklichen Stadt zu flanieren und uns beim Warenhaus KARstadt einzufinden, um die Ordnung der Dinge, die Ordnung unserer Dinge, unsere Ordnung der Dinge, hierzulande und hienieden, kennenzulernen und zu ergründen.

Verwenden wir wieder einmal die uns schon geläufige konditionale Fügung mit dem Irrealis des Verbs, um an einem Teilbereich ein Gegenmodell mit umgekehrten Vorzeichen aufzustellen, dessen Negation uns Sinn und Bedeutung dieses Teils der realen Konsum- und Warenstadt ermessen lässt: Wenn alle bei Karstadt feilgebotenen Kleidungsstücke, sowohl die für Männer und Frauen als auch die für Kinder, ungeordnet in einem riesigen chaotische Haufen und Knäuel durcheinandergeworfen und aufgehäuft wären, du aber heute an keinem anderen Gegenstand als einem Damenschlafanzug mit kleinem Blumenmuster Interesse hegtest, könntest du auch nach tagelangem Suchen das Gewünschte in dem ungeheuren Durcheinander nicht finden. Damit dein Wunsch baldmöglichst in Erfüllung geht, sind alle im Kaufhaus angebotenen Kleidungsstücke geordnet und sortiert, nach den Zugehörigkeiten zu Geschlechtern (Mann, Frau) und Altersstufen (Kinder, Young Fashion), nach Themenbereichen wie Tag- und Nachtwäsche, Bademode, Freizeit oder Sport und last but not least nach Marken, Größen und Farben passend zusammengestellt.

Wenn du das Kaufhaus Karstadt auf der Zeil in Frankfurt (oder einer anderen deutschen Stadt) betrittst, vermittelt dir ein großer Etagenplan im Eingangsbereich oder jeweils an der Rolltreppe die Übersicht über alle auf sieben Etagen verteilten Waren- und Serviceangebote. Der Etagenplan von Karstadt gibt uns unmittelbar Einblick in die wesentlichen Belange und Lebens-, Handlungs- und Funktionsräume, um die und in denen sich hierzulande und hienieden alles dreht.

Die vorwaltenden Ordnungsschemata, denen gemäß wir die Dinge aufreihen und sortieren, einordnen und klassifizieren, sind keineswegs willkürlich gewählt, sind keineswegs ins Belieben einer ohne Bodenkontakt vagierenden Imagination gestellt und ebenso wenig von kulturspezisch-lokalen Vorlieben determiniert: Die Einteilung nach den Geschlechtern Mann und Frau beziehungsweise Altersstufen wie Erwachsenen und Kindern sind allen Unkenrufen zum Trotz hienieden allenthalben der biologisch gezeugte und erzeugte Normal- und Regelfall, und da der Planet Erde sich während seiner Jahresreise um die Sonne im 24-Stunden-Tag-und-Nacht-Rhythmus um die eigene Achse dreht, bedürfen wir der Kleidung für den Tag wie der Kleidung für die Nacht, in der wir uns in der wohlig-weichen und bunt gemusterten, frisch duftenden Bettwäsche räkeln und schlafen, die wir jüngst in der dritten Etage erstanden haben.

Unseren Wach- und Schlafrhythmus, dem wir als natürliche Wesen zwangsläufig unterliegen, passen wir tunlichst dem Tag- und Nachtrhythmus da draußen an. Denn am Tage gehen wir hoffentlich seriösen Beschäftigungen nach und erbringen im Büro, an der Werkbank, hinter dem Katheder Leistungen, deren Nutzen mit dem entsprechenden Entgelt quittiert wird. Am Abend und im Urlaub, den wir zwecks Regeneration unserer Kräfte nötig haben und mit wohltuendem Nichtstun oder unterhaltsamen Sport- und anderen Spielen oder beim Wandern, Golfen, Skaten oder Bergsteigen verbringen, tragen wir die bunte und funktionale Sport-, Urlaubs- und Freizeitkleidung und benutzen die Fitness- und Sportgeräte, die wir bei Karstadt gefunden und gekauft haben.

Wir sind keine Barbaren und schlingen die uns nötigen Speisen nicht roh hinab. Mit den Tischsitten, die uns Karstadt dank feinster Tischdecken und Servietten, erlesenen Ess-, Kaffee- und Teerservice aus bemaltem, vergoldetem, figürlich gebranntem Porzellan nebst silbernem Besteck für alle Gelegenheiten vom Braten bis zur Torte, von der Geburtstags- bis zur Hochzeitsfeier ermöglicht, steigen wir auf den Gipfel der Zivilisation und genießen bei gefälliger Tafelmusik aus der digitalen Musikanlage unter dem jüngst von dir an der Wand befestigten leuchtenden Deko-Stoff aus der Abteilung Heimtextilien unser Mittagsmahl, plaudernd und leise-vornehm mit den Gabeln und Löffeln klappernd.

So finden wir im Kaufhaus nicht nur uns nützliche oder unterhaltende Dinge, sondern die Stoffe und Utensilien zu unserem sozialen Umgang und geselligen Leben. Wenn du deine Frau zum Hochzeitstag mit einem Geschenk beglücken willst, schau dich in der Schmuckabteilung um. Wenn du deinen Mann zum Geburtstag überraschen willst, nichts wie hin in die Abteilungen Herrenbekleidung, DVDs, Radsport oder Golf. Wenn du deinen Freund mit einem verführerischen Duft bezaubern oder die Blicke des attraktiven neuen Kollegen mittels einer schicken neuen Frisur oder einem erfrischten und gestrafften Teint auf dich ziehen möchtest, wirst du in der Parfümerie, beim Friseur und in der Beauty-Lounge des Kaufhauses ausgezeichnet bedient.

Es erscheint bemerkenswert, dass gewisse Lebens-, Handlungs- und Funktionsbereiche von der Klassifikation und Einteilung der Dinge im großen Warenhaus ausgeklammert werden: Särge und einen Bestattungsservice findest du hier beispielsweise nicht, obwohl das Sterben und der Tod zu den nicht gerade unbedeutenden Themen des Lebens gehören. Der Gepflogenheit gemäß, den Leichnam zu verbrennen oder mit Erde und einem schweren Stein zu bedecken, nicht nur, um das Leben vor Fäulnis und üblen Dünsten zu bewahren, sondern vor allem auch, um dem Verstorbenen die Würde des Hinscheidens und uns den für den Abschied und das Weiterleben nötigen Abstand zu verschaffen, wird der Bestattungsservice diskret von den anderen Lebensdimensionen abgeschirmt. Wir wollen in der Parfümerie nicht an Fäulnisgerüche denken, wenn in der Nachbarabteilung Särge feilgeboten würden. Das Leben, solange wir leben, von unnötig bedrückenden, hemmenden und verdüsternden Gedanken wie den Gedanken an den Tod frei zu halten, sei uns vergönnt. Die Lebensfreude und der Wunsch nach Erheiterung unseres so fragilen und leicht niederzuziehenden Lebens, auch sie sind in der Ordnung der Dinge, wie sie Karstadt offenlegt, einbeschrieben.

Das Entgelt für unsere Leistungen und nutzbringenden Tätigkeiten am Arbeitsplatz ist das Geld, das wir für die Bezahlung des Preises der im Kaufhaus ausgesuchten Waren benötigen und an der Kasse mittels Bargeld oder Scannen der EC- oder Kreditkarte einlösen. Dass du für dein verwöhntes Dasein auch noch zahlen sollst, ist ja allerhand! Doch wir philosophieren ja und bleiben also ruhig. Gewinnen wir wieder einmal mittels Verwendung des konditionalen Satzgefüges im Irrealis ein Gegenmodell zur leider vorhandenen kostspieligen und schweißtreibenden Arbeits- und Warenpreiswelt und schauen, was uns da blüht: Endlich, die Philosophen oder die Kinder (der Unterschied verschwimmt bei solchen Sachlagen und Engagements) haben die Macht errungen und per Erlass die Abschaffung des Geldes und der ärgerlichen Preise von Waren und Dienstleistungen deklariert. Jetzt aber nichts wie hin zu Karstadt! Was geschähe, würden die bei Karstadt gelagerten, hübsch aufgereihten und sortierten Waren plötzlich kostenlos von der Stange und aus dem Regal geholt und nach Hause getragen werden können? Würden die Waren verschenkt, würden die Hersteller und Lieferanten der Waren für ihre Leistungen kein Entgelt erhalten und ihre Angestellten und Arbeiter kein Gehalt und keinen Lohn ausbezahlt bekommen. Würden die Hersteller und Lieferanten kein Entgelt für ihre Leistungen erhalten, würden sie die Produktion der Güter und Dienstleistungen sofort einstellen – denn welchen Anreiz hätten sie noch, in Leistung und Mühewaltung dieser Art zu investieren?

Wenn nichts etwas kostete, dann erhieltest du auch kein Entgelt für deine Arbeitsleistung. Erhieltest du kein Entgelt für deine Arbeitsleistung, gingest du erst gar nicht mehr zur Arbeit, denn welchen Anreiz hättest du, früh dich aus dem warmen Bett zu schälen und den lieben Kollegen acht Stunden mit deinem Pokergesicht Paroli zu bieten? Gingest du und alle anderen nicht mehr zur Arbeit, würden binnen Kurzem die Wirtschaft, der Verkehr, die Versorgung des Landes, kurz das ganze zivile Leben, zusammenbrechen – und aus wärʼs mit dem schönen Warenangebot von Karstadt für dein bequemes Leben.

Die Preise unterliegen in der Regel (wenn nicht per Preisabsprache gemogelt wird) dem Kreislauf von Angebot und Nachfrage: Steigt die Nachfrage, steigt der Preis entsprechend, was auf Hersteller dieser Produkte den Reiz erhöht, in die Produktion gerade dieser lohnenden Güter zu investieren. Dadurch werden mehr Güter und Waren der Sorte auf den Markt geschwemmt und bald übersteigt das Angebot die Nachfrage. Infolgedessen sinkt der Preis in entsprechendem Maße und die Hersteller passen die Menge der produzierten Waren dem tatsächlichen Nachfrageniveau an. Der Preis pendelt sich auf das alte Niveau ein oder liegt leicht darunter.

Die Preisbildung richtet sich in der Regel (wenn auch hier nicht gemogelt wird) nach dem Wert der Ware, die auf den Markt gelangt, das heißt nach der Summe aller Investitionen, die zu ihrer Auffindung oder Entwicklung, ihrer Testung und Erprobung, ihrer Freigabe und Lizensierung, ihrer Herstellung und Lieferung, schließlich ihrer Wartung und Versicherung erforderlich sind. Nur die erfolgreichen und gelungenen Investments können sich am Markt amortisieren. Würde ein Pharmahersteller bei der Entwicklung oder der kontrollierten Testung eines neuen Medikamentes schlampen und sich ein paar millionenschwere Investitionen „sparen“, schlüge sich das in der minderen Qualität des Produkts nieder. Geringere Qualität ist ein Absatzhemmnis, folglich wären die Verordnung und der Abverkauf des Medikamentes geringer als erwartet und kalkuliert, jedenfalls aber geringer als die in die Entwicklung und Herstellung des Produkts investierten Summen: Das Unternehmen schriebe Verluste und wäre gezwungen, das neue Medikament schleunigst vom Markt zu nehmen – falls die „Schlamperei“ nicht längst von einem Mitbewerber mit der Gabe scharfer Beobachtung entdeckt und bei den gerichtlichen Instanzen angezeigt worden wäre.

Hast du bemerkt, dass Karstadt ein Netzwerk und Kreuzungspunkt vieler Kulturen ist? Bei etlichen Branchen wie Mode, Schmuck und Parfums findest du Angebote von Markenherstellern, die in den großen urbanen Zentren und Metropolen der USA, Europas und Japans beheimnatet sind. Das bedeutet, auch wir, die wir uns gerne des reichen Angebots so vieler Länder bedienen, demonstrieren mit dem Konsum dieser Produkte das hohe zivilisatorische Niveau einer weltweit sich behauptenden und vergrößernden, mehr oder weniger gebildeten, mehr oder weniger wohlhabenden Mittelschicht.

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