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Philosophieren XXVIII

13.08.2013

Wertvoll scheinen dir die Stoffe und Dinge, die dein Leben erhalten. Wenn du nach Wasser lechzt, bedarfst du keines Champagners der Luxusklasse. Wenn du aber die Freunde aus eurem Musikclub zum monatlichen musikalischen Stammtisch einlädst, geht es mehr als um die Befriedigung von natürlichen Bedürfnissen wie Hunger und Durst: Du hast über den Tisch eine bestickte Tischdecke geworfen und darauf einen hübschen Strauß Blumen in einer gläsernen Vase gestellt. Ihr labt euren Gaumen an einem edlen Tropfen, während ihr euch ausgewählte Stücke eurer Lieblingskomponisten auf der digitalen Audioanlage zu Gemüte führt. Ihr hört Stücke von Bach, Mozart und Beethoven nicht zur Zerstreuung, und während ihr hört, ist allen dareinzureden untersagt. Ja, einige von euch sind fachlich so ausgebildet, dass sie die Partituren einsehen, während die Musik erklingt. Ihr fachsimpelt auch über Rang und Qualität der unterschiedlichen Interpretationen ein- und desselben Stücks durch verschiedene Solisten, Orchester und Dirigenten.

Du würdest sagen, dass dir eure regelmäßigen Zusammenkünfte wertvoll erscheinen und du manches zu tun bereit wärest, diese schöne Tradition und diese schöne Institution zu erhalten. Neben natürlichen Werten stoßen wir demzufolge auf kulturelle Werte, die sich in Gepflogenheiten und Institutionen verkörpern und deren Pflege und Weitergabe von Woche zu Woche, Monat zu Monat, Jahr zu Jahr und von Generation zu Generation durch auf diese Pflege und Weitergabe verpflichtete Mitglieder einer Gruppe oder Gemeinschaft wir Tradition nennen.

Werte erhalten ihre Bedeutsamkeit und Relevanz, weil sie in der Form von Gütern, Dienstleistungen und Institutionen wie Nahrung, Geld, Unternehmen oder Kulten den biologisch erzeugten oder kulturell hervorgebrachten Bedarf von Individuen und Gruppen befriedigen. Dabei spielt es keine Rolle, ob die in Gütern, Diensten und Institutionen verkörperten Werte mehr oder weniger große fiktive Momente und Anteile wie Mythen, Legenden, Erzählungen, Bilder, Klänge, Tänze oder Zeremonien mit sich führen.

Elementarwerte oder natürliche Werte sind Stoffe und Gebrauchsgüter, welche die physischen Bedürfnisse von Menschen befriedigen wie Esswaren, Heizungs- und Brennstoffe, Kleiderstoffe und daraus gefertigte Kleidungsstücke, Baustoffe und damit errichtete Wohnhäuser, Speicher oder Ställe, Abwehrmittel wie Feuer gegen wilde Tiere, Wasser zum Löschen von Bränden, Waffen zur Abwehr von Feinden und Medikamente zur Abwehr von Bakterien und Viren.

Gebrauchsstoffe und Gebrauchsgüter, welche die natürlichen Bedürfnisse befriedigen, genießen eine hervorragende Wertschätzung, weil sie für die Lebenserhaltung unentbehrlich sind und ihre Auffindung, ihre Herstellung und ihr Konsum die Voraussetzung für die Herstellung und den Konsum der kulturellen Güter darstellen. Gegenstände und Einrichtungen, die nicht denselben Grad der Dringlichkeit bei der Lebensfristung aufweisen wie die natürlichen Werte, aber dennoch hochgeschätzt werden können, sind Luxusgüter und Einrichtungen des gehobenen Lebensstils wie Dekorationen, Gemälde, Wandbehänge, Plastiken, Zierpflanzen, Ornamente oder Vasen mit Blumen, die das Haus oder die Wohnung schmücken.

Der Unterschied zwischen Gütern und Einrichtungen mit keinem oder geringerem Anteil an Fiktion und Gütern und Einrichtungen mit höherem Anteil markiert keinen Unterschied in der Dringlichkeit bei der Bedarfsdeckung: Kulte, Gebete, Musik können denselben Grad an Nutzen und Wert erlangen wie Wasser und Brot. Nur mittels der Pflege und Weitergabe der Tradition eures Musikclubs, der wiederum die ungeheuer reiche und vielfältige Tradition der deutschen klassischen Musik zur Voraussetzung hat, existiert eure schöne Institution. Sie zu missen und auf den Austausch mit deinen Freunden in heiterer geselliger Runde verzichten zu müssen, würde dich hart angehen.

Um dich in den Besitz von materiellen Werten zu bringen, die deiner Lebenserhaltung diesen, oder dich mit kulturellen Werten umgeben zu können, die zur Hebung deines Lebensstils und der Verfeinerung deines Komforts beitragen wie eine digitale Audioanlage, musst du Leistungen erbringen, die dir in der Form von Optionen auf den Kauf von Waren wie in Form von Geld entgolten werden.

Du gelangst in den Genuss kultureller Güter und kannst dich der Pflege und Weitergabe kultureller Einrichtungen widmen, wenn du als Kind durch Geburt und Verfügung deiner Eltern oder als Erwachsener Mitglied einer kulturellen Gemeinschaft geworden bist. Für diese Form des Gebrauchs und der Pflege kultureller Werte musst du meist eher geringfügige Kosten in Form von Beiträgen und Steuern zahlen. Wesentlicher für den Erhalt und die Weitergabe der kulturellen Werte ist deine Verpflichtung auf die Erfüllung und Einhaltung der dir von der Gemeinschaft auferlegten formalen und informellen Regeln, Vorschriften, Gebote und Verbote, die in Listen, Mitgliederbestimmungen, Registern oder Beichtspiegeln aufgezeichnet werden.

Wenn du die monatliche Tagung eures Musikclubs wieder und wieder verschwitzt oder dich trotz wiederholter Aufforderung schon wieder nicht oder nur ungenügend durch Lektüre der Partitur darauf vorbereitet hast, wenn du gegen Mitglieder des Clubs lästerst und Verleumdungen in die Welt setzt, die jeder Grundlage entbehren, läufst du Gefahr, mit Sanktionen der Clubmitglieder gegen deine Person bis hin zur schärfsten Sanktion, dem Ausschluss, rechnen zu müssen.

Außerdem solltest du beherzigen, dass viele Mitgliedschaften in kulturellen Gruppen und Gemeinschaften in der Regel exkludierenden Charakter haben: Sicher kannst du zugleich Mitglied in eurem Musikclub und darüber hinaus Mitglied im Handballverein sein. Doch kannst du nicht gleichzeitig Mitglied der römisch-katholischen und der evangelisch-lutherischen Kirche sein. Ebenso wenig kannst du zugleich Mitglied der römisch-katholischen Kirche und der Synagogengemeinde deines Stadtteils sein. Noch weniger darfst du zugleich Mitglied der römisch-katholischen Kirche und der kriminellen Gang deines Stadtviertels sein. Solltest du die elementaren Werte, die dir von deiner Gemeinschaft mitgegeben und mitgeteilt wurden, nicht mehr mittragen und mitteilen, solltest du gröblich gegen die Sitten und Bräuche deiner Gruppe verstoßen, musst du darauf gefasst sein, mittels formaler oder informeller Verfahren rechtens aus der Gemeinschaft und der Gruppe ausgeschlossen zu werden. So geschieht es auf religiösem Gebiet den Abtrünnigen und Häretikern.

Der Gebrauch bestimmter kultureller Güter und die Nutzung bestimmter kultureller Einrichtungen definieren, wer und was du bist: Ist für dich der wertvollste Kult die Heilige Eucharistie, bist du Katholik, ist es die Vorlesung aus der Thora, bist du Jude. Die kulturellen Werte, die du mit allen Mitgliedern deiner Gemeinschaft zu teilen aufgegeben ist, wurden dir mittels Unterricht, Nachahmung oder Katechese, meist von Kindesbeinen an von den Eltern und Verwandten, mitgegeben und mitgeteilt.

Dein vernunftbezogenes Leben besteht darin, deine alltäglichen Absichten im Lichte von natürlichen und kulturellen Werten zu betrachten, ihren aktuellen Nutzen und ihre weitergehende Bedeutsamkeit abzuwägen und vernünftig zu gewichten, um zu Entscheidungen für dein Tun und Lassen zu kommen, die dir ein Licht aufstecken, dich im Gleichgewicht halten und deinen Lebensweg einigermaßen gut ausrichten und orientieren können. Wenn du als Katholik den Wert des Sakraments der Ehe oder als gläubiger Jude den Wert der monogamen Ehe hochschätzt, solltest du den natürlichen Wünsch nach billiger Zerstreuung und flüchtiger sexueller Befriedigung, die dir ein loses Abenteuer gewähren könnte, gegen den höheren Wert deines seelischen Gleichgewichts oder „Seelenheils“ abwägen und dich für die keusche Variante entscheiden. Wenn dir eine auf geteiltem Fühlen und geteilten Werten beständig aufruhende und harmonisch wachsende Gemeinschaft mit deiner Freundin oder Frau wertvoller ist als folgen- und belanglose Zerstreuung bei flüchtigen Genüssen in knapper Freizeit, solltest du dich von dieser Frau, der eher an Letzterem gelegen ist als an Ersterem, fernhalten.

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