Skip to content

Philosophieren XXXIV

25.08.2013

Betrachten wir staunend die einzigartige Tatsache deiner Existenz. Diese einzigartige Tatsache wird weder mit einem Gattungsbegriff wie „Lebewesen“ noch einem Artbegriff wie „Homo sapiens“ erfasst: Auch wenn du ein eineiiges Zwillingsgeschwister hättest, wäre dein Dasein singulär, denn nur du wärest dir in diesem Falle deiner selbst bewusst, während dein Zwillingsgeschwister wiederum sich seiner selbst bewusst wäre, nicht aber deiner. Natürlich wäre es richtig zu sagen, du seiest als Lebewesen der Art Homo sapiens zugehörig. Doch die Vertreter der Spezies Homo sapiens sind in bestimmten Hinsichten füreinander einsetzbar und austauschbar: Deine Organe und insonderheit dein Gehirn funktionieren im Prinzip wie meine Organe und mein Gehirn, du wohnst wie ich in einer Straße, einer Stadt, einem Land, auf einem Kontinent, auf dem um die Sonne rotierenden Planeten Erde, der mit den anderen sieben Planeten um das Zentralgestirn namens Sonne kreist und mit diesen und anderen kosmischen Bestandteilen das Sonnensystem bildet, in der Galaxie namens Milchstraße, in der ungeheuren Ansammlung von Galaxien, die wir Kosmos oder Universum nennen. All dies ist erstaunlich genug, doch macht es nicht den Unterschied für die Einzigartigkeit unserer Existenz, die wir abkürzend mit der Bestimmung, einzeln oder Einzelne zu sein, erfassen können.

Die Tatsachen, dass du den Planeten Erde im Sonnensystem der Milchstraße bewohnst, männlichen oder weiblichen Geschlechts und mehr oder weniger schlau und pfiffig bist, dir ein ausgleichender oder zuspitzender, sanfter oder schroffer, schlaffer oder straffer, heiterer oder düsterer Charakter zu eigen ist, hier und zu jener Zeit und nicht woanders und zu einer anderen Zeit geboren worden bist und somit einer bestimmten Klimazone, einem bestimmten Land, einer bestimmten Nation und einer bestimmten Kultur und Gesellschaft mit ihrer Sprache und Überlieferung, ihren Bildungseinrichtungen, sozialen, ökonomischen und technologischen Daseinsbedingungen angehörst, all dies sind elementare Tatsachen, die deiner Willkür, Entscheidungsmacht und Verfügbarkeit ganz oder zum größten Teil entzogen sind. Deshalb tun wir gut daran, sie mit dem zu Unrecht in Verruf geratenen, grundlos außer Gebrauch gekommenen Begriff Schicksal zusammenzufassen.

Solcherart sind die Ringe des Schicksals, die sich um das Wachstum deines Lebens legen: Du bist von robuster oder schwächlicher Konstitution, strotzend vor Gesundheit oder kränklich, hast als Folge einer DNA-Schädigung, einer ansteckenden Krankheit deiner mit dir schwangeren Mutter oder einer Kinderkrankheit eine minder schwere oder schwere Behinderung wie Down-Syndrom, Bluterkrankheit, Anlage einer Psychose, Kinderlähmung, Stottern oder Leseschwäche. Du hast die schweren Kriegstraumata deiner Mutter im Luftschutzkeller oder auf der Flucht und deines Vaters an der Front und in russischer Kriegsgefangenschaft als Kind mit der Muttermilch aufgesogen, so dass du noch heute Albträume von schrecklichen Ereignissen hast, die du selbst nicht erlebtest. Du wurdest als Knabe seelisch überfordert und gequält, weil du die neurotischen Ängste deiner Mutter teilen oder die Abwesenheit des Vaters trotz hilfloser Ohnmacht ersetzen solltest. Du wurdest als Mädchen seelisch überfordert und gequält, weil du die Zurückweisungen und Enttäuschungen des Vaters in der Arbeit oder bei seiner Frau trotz hilfloser Ohnmacht ersetzen solltest.

Dass du als Junge auf die Welt kamst und das Tauziehen zwischen Kopf und Hoden über den Anteil an Lust und Angst, Siegen und Versagen, Wollen und Sich-Trollen unabgeschlossen-unabschließbar dir die Norne zugespult und zugewirkt hat – wie anders als Schicksal, Fatum, Aisa willst du es nennen? Oder weißt du, holder Knabe, ohne Schoß zu haben und zu sein, von den Wonnen und Verlorenheiten, dem Erfüllt- und Leersein, das Empfängnis oder Nicht-Empfängnis, Geburt oder Tot-Geburt, die Milch gebende oder versagende Brust gewähren und entziehen? Nie wirst du erfahren, wie es ist, eine Frucht im Leib heranwachsen zu fühlen, ein Kind auszutragen und in innigster physisch-psychischer Symbiose, die sich denken lässt, mit einem anderen Menschen in Verbindung zu stehen. Das hat dir das Schicksal verwehrt.

Du trägst nicht nur das individuelle Schicksal deines Körpers, deines Charakters, der Struktur und Kapazität deiner Aufmerksamkeit und Intelligenz, nicht nur das Schicksal deiner Familie und Herkunft ist dir aufgebürdet, auch das kollektive Schicksal des Landes, des Volkes, der Nation und des Staates, dem du angehörst, lastet auf dir: Die Verbrechen unserer Väter, Großväter und Urgroßväter im Zweiten Weltkrieg und bei der Ermordung der Juden sind deutsches Schicksal, dem du durch keine Verstellung oder rhetorischen Winkelzüge entkommst.

Dass du zu jener Stunde in guter Stimmung an der Feier teilgenommen hast und die Frau auf dich aufmerksam wurde, die heute an deiner Seite ist, Schicksalsfügung auch dies. Dass dir dein Lehrer durch das klare Profil seiner Persönlichkeit und die lebendige Anschauung seines Vortrags imponierte, hat dich innerlich dazu bestimmt, dieses und nicht ein anderes Fach zu studieren und also diesen und nicht einen anderen Berufsweg einzuschlagen. Gute Fügung, dass dir in deinem Professor an der Universität oder in deinem Meister in der Werkstatt ein Förderer und Fürsprecher begegnete, der deiner Karrierelaufbahn den Teppich ausgebreitet hat. Schlechte Fügung, dass du deiner angeborenen antisozialen Neigung willensmäßig nicht genügend Widerhalt entgegensetzen konntest und wegen Diebstahl, sexueller Belästigung oder schwerer Körperverletzung schon mehrfach Gefängnisstrafen auf dich nehmen und schließlich die Hoffnung auf ein normales Leben aufgeben musstest.

Sterben ist unser aller Teil, und doch bestehst nur du es als singuläres Erleben, weil du es wie alles bewusste Erleben als Einzelner auf dich zu nehmen hast. Wir haben nur Bilder vom Vorgang des Sterbens und beziehen den Vorgang auf das, was wir gegebenenfalls am Sterbeverhalten unserer Verwandten und Freunde bemerken und beobachten. Daraus können wir allerdings für das, was es heißt, selbst zu sterben, das Entscheidende nicht entnehmen. Wir können allerdings dem Sterbenden nahe sein, ihn trösten, ja manchmal noch erheitern. Auch können wir ihm diese oder jene Last von den Schultern nehmen, auf dass er leichter, versöhnter Abschied nehmen kann.

Aus dem Stotterer wurde am Ende noch ein berühmter Redner. Du hast deiner schwächlichen Veranlagung durch fleißiges Training und eiserne Disziplin ein Schnippchen geschlagen. Statt zu resignieren und dich deinem Schicksal zu fügen, hast du deine Querschnittslähmung als Herausforderung angenommen und spielst mittlerweile mit Gleichgesinnten erfolgreich im Handballverein. Du hast dich bemüht, die dir von den Eltern aufgebürdete traumatische Erblast nicht deinerseits an dein Kind weiterzugeben oder abzuladen, sondern sie durch regelmäßigen Austausch mit in gleicher Hinsicht Betroffenen in den Griff zu bekommen.

Keiner verlangt von dir im Hochsprung Glanzleistungen zu erbringen, wenn du nun einmal unter einer Kinderlähmung zu leiden hast. Doch kannst du Begabungen auf anderen Gebieten entdecken und als guter Handwerker, Techniker, Designer oder Computerspezialist ein beruflich erfolgreiches und einigermaßen zufriedenes Leben führen. Wenn du einfach nicht genügend Grips mitbringst, um die Weihen der Höheren Mathematik zu erlangen, wirst du dich nicht lächerlich machen und es trotzdem versuchen, sondern Vernunft walten lassen und dir ein Gebiet suchen, das deinen Begabungen entspricht.

Mit der Kraft der Vernunft und dem praktischen Urteilsvermögen, das uns zu vernünftigen Entscheidungen führen kann, sind wir in der Lage, die natürlichen Tatsachen zu verstehen, zu gewichten und Modelle und Methoden zu entwerfen, wie mit ihnen umzugehen, in welchem Ausmaße sie rückhaltlos anzunehmen und in welchem Ausmaße sie zu unseren Gunsten zu modifizieren seien. So lernen wir mittels klugen und umsichtigen Einsatzes von Techniken, wissenschaftlichen und technologischen Verfahren, Anwendungen und Mitteln aus den Bereichen Medizin, Pharmakologie, Chemie, Physik und Mechanik die natürlichen Tatsachen unseren Bedürfnissen so weit wie möglich anzupassen und auf diese Weise das Schicksal zu meistern.

Immer wird als letzte Bastion des Schicksals die Tatsache unserer singulären Existenz und unseres singulären bewussten Erlebens bleiben. Wir können sie nicht abtreten oder an andere delegieren, denn damit würde unser bewusstes Dasein ausgelöscht. Wir können uns nicht durch andere in den wesentlichen Lebensvollzügen unseres biologischen und sozialen Daseins vertreten lassen, denn du kannst nicht an meiner Statt essen und schlafen, reden und träumen, Freude und Trauer empfinden, arbeiten und faulenzen, lieben und heiraten, gesunden und sterben. Es ist dieses Schicksal, bewusst leben zu müssen in allen Situationen unseres Redens und Tuns, das uns zu hoher Aufmerksamkeit, sensibler Geistesgegenwart und verantwortlichem Umgang mit ihnen verpflichtet – auch wenn unsere leidenschaftliche Natur und die Verstrickungen in die großen und kleinen Dramen des menschlichen Lebens uns oft Vorwände liefern, die Zügel der Besonnenheit schleifen zu lassen und die Bürde der Verantwortung abzuschütteln.

Kommentar hinterlassen

Note: XHTML is allowed. Your email address will never be published.

Subscribe to this comment feed via RSS

Top