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Philosophieren XXXIX

05.09.2013

Deine Freundin führt deine Hand, mit der du sie innig gestreichelt hast, an ihren Mund und schaut dir zärtlich in die Augen. – Das Kind wirft wütend den Stuhl um, an dem es sich gestoßen hat. – Sein Leichnam wurde in der Leichenhalle aufgebahrt. – Wir haben ihn gestern beerdigt. – Der Arzt diagnostiziert in deinem Knie einen Bänderriss. – Der Demente erkannte sich im Spiegel nicht wieder.

Deine Freundin küsst wohl deine Hand, aber sie schaut nicht deine Hand dankbar an, sondern dir zärtlich in die Augen. – Das Kind handelt so, als sei der Stuhl ein lebendiges Wesen, dem man Absichten und gerade auch böse Absichten zu unterstellen pflegt – es handelt im Prinzip richtig, nur en detail falsch. – Wir zögern beim pietätvollen Umgang mit den Toten, an welcher Stelle wir sie gleichsam im Persönlichen festhalten oder ins Unpersönliche abgleiten lassen wollen. – Der Arzt weist uns auf das Verständnis unseres verkörperten Seins hin, indem er nicht sagt: „Ihr Knie ist krank“, sondern etwa: „Sie sind am Knie erkrankt“ oder schlicht „Sie leiden an einem Bänderriss am Knie.“ Der Arzt sagt nicht: „Ich werde ihren Magen operieren“, sondern „Ich werde Sie am Magen operieren.“ – Der Demente erkennt seinen Körper im Spiegel nicht mehr als seinen Körper, weil er seinen Körper nicht mehr als den seinen wahrnimmt.

Dein Bekannter hält dich am Ärmel fest, zeigt mit der Hand auf die andere Straßenseite und sagt: „Schau mal, ist dies nicht Frau P.?“ Zeigt er dabei auf die Stelle, die mit der Verwendung des Demonstrativums „dies“ bedeutet und gemeint ist? Welche Stelle könnte das sein? Ist es die Raumstelle, die von dem Körper der Frau P. vollständig ausgefüllt wird? Aber dann könnte man die Ausdrücke „dies“ und „dieser Körper“ schlicht gegeneinander austauschen und dein Bekannter könnte genauso gut sagen: „Schau mal, ist dies nicht der Körper der Frau P.?“

Warum klingt diese Frage so merkwürdig, bizarr und ungelenk in unseren Ohren? Warum finden wir auf Anhieb keine rechte Normalverwendung für einen solchen Satz? Oder würden wir etwa mit dem Wissen, da drüben wandle Frau P. am hellichten Tage wieder einmal im Schlaf, etwa sagen „Schau mal, ist dies nicht der Körper der Frau P.?“ Nicht einmal in einem solchen Ausnahmefall würden wir dies wohl über die Lippen bringen.

Warum lassen sich die Personalpronomina ich und du und er und sie nicht einfach ersetzen durch die Ausdrücke „mein Körper“, „dein Körper“, „sein Körper“ oder „ihr Körper“? Etwa weil das mit den Personalpronomina Gemeinte, also die jeweilige Identität der angesprochenen Personen, ein unkörperliches Etwas, ein im Körper verborgenes rätselhaftes Wesen genannt Seele oder Geist wäre, das sich von außen und von den anderen nicht erfassen lässt, sondern auf intime und unmittelbare Weise nur dem „Inhaber“ zugänglich und verständlich wäre?

Wir fragen uns weiter in die Irre: Ist dieses ominöse Etwas nicht das, was in uns denkt – sind doch auch die Gedanken körperlos, ortlos, zeitlos? Wie ist dieses Ego Cogito bloß mit dem singulären Körper verbunden, wenn es unräumlich ist, also eigentlich keinen Raum einnehmen und keinem Körper einwohnen kann? Steht es dennoch einem bestimmten Organ besonders nahe, etwa der Milz, der Leber, dem Herzen oder dem Gehirn?

Oder sollen wir, abgestoßen von all dem metaphysischen Gespensterdasein und verführt durch die knallharten Fakten der Neurowissenschaften, in die entgegengesetzte Irre gehen und den vom Ego Cogito heimgesuchten Körper zum alten Eisen werfen und die Identität der Frau P. zum Produkt der neuronalen Leistungen ihres Gehirns erklären? Würde dein Bekannter denn nunmehr auf die andere Seite der Straße zeigen und ausrufen: „Schau mal, ist dies nicht das Gehirn der Frau P., das mit ihrem Körper spazieren geht?“

Worauf dein Bekannter zeigt, wenn er mit dem Finger auf Frau P. weist, ist weder ein Körper, dem wir eine zentral steuernde, denkende Instanz namens Seele oder Geist andichten und verpassen müssten, noch ein von der steuernden Instanz des Gehirns die Straße entlang geführter Körper (Woher wüssten wir denn in diesem Falle, dass es eben der Körper der Frau P. ist?), sondern die Person Frau P., die als vollständig verkörpertes Lebewesen von ihrem lebendigen, empfindenden, fühlenden, denkenden Organismus unabtrennbar ist – und diese Weise, vom Körper nicht abtrennbar zu sein, hat nicht den Rang einer Tatsache, sondern stellt eine begriffliche Grenze dar. Wir sagen etwas unbeholfen: Der Begriff der Person kann nicht ohne den Körper gedacht werden, den wir mit dieser Person allenthalben verbinden. Verkörpert zu sein ist so etwas wie die notwendige Eigenschaft von Personen.

Und wenn du gar nichts mehr fühlst und denkst, ohne tot zu sein, sondern dich im Tiefschlaf befindest oder ohnmächtig bist, bist du dann nicht bloß ein Körper und nichts ist auffindbar, was du da wohl verkörperst? Ich würde immer noch sagen: „Mein Freund ist in Tiefschlaf versunken“ oder „Mein Freund ist ohnmächtig geworden“ und nicht „Der Körper meines Freundes schläft oder ist ohnmächtig“. Denn die Möglichkeit, dass du aus dem Tiefschlaf oder der Ohnmacht erwachst, gehört zu dem Repertoire an Möglichkeiten, die dein selbstbewusstes Leben als Person ausmachen, auch wenn du in solchen virtuellen Schrumpfstufen des Daseins deiner selbst gerade nicht bewusst bist. Dies gilt auch für die Fälle psychiatrisch klassifizierbarer Abweichungen vom normalen Verhalten und Bewusstsein. Der Faden kann gleichsam abbrechen und seine Enden eine Weile in der Luft baumeln – solange die Möglichkeit besteht, dass eine gute Fee oder eher wohl die Verabreichung antipsychotischer Medikamente die losen Enden wieder verbindet, geben wir die Zuschreibung des Personseins an den Betroffenen nicht auf.

Das bewusste Leben der Person ist ein Kontinuum mehr oder weniger intensiver oder schwacher Empfindungen, mehr oder weniger deutlicher oder verschwommener Gefühle und mehr oder weniger präziser oder diffuser Gedanken, das sich von der Geburt bis in den Sterbeprozess hinzieht. Ich spreche dir nicht bloß in den Fällen ein leib-beseeltes Dasein zu, in denen es mir leichtfällt, deine Empfindungen, Gefühle und Einstellungen aus deinem Benehmen und Gebaren zu ersehen, wie dass du glücklich bist aus deiner entspannten Haltung und deinem sanften Lächeln oder dass du unglücklich bist aus deiner verkrampften Haltung und deinem stieren Blicken. Auch wenn du in eine katatonische Starre fielest und ich nicht einmal zu ahnen vermöchte, was in dir vorgeht, bleibst du die Person von vorhin, wie sich nach Beendigung des Anfalles herausstellen wird.

Dein Bekannter hat dich auf Frau P. hingewiesen, und da ihr euch kennt, gehst du gerne auf sie zu und befragst sie nach ihrem Befinden und momentanen Vorhaben. Sie wird vielleicht antworten, sie müsse eine Besorgung machen, zum Beispiel sich in der Apotheke durch Vorlage eines Rezepts ein ihr verordnetes Medikament besorgen. Frau P. hat dir damit ihre Absicht mitgeteilt, die dir zur Erklärung ihres Verhaltens, nämlich über die Straße gegangen zu sein, vollkommen hinreicht. Natürlich wirst du Frau P. für die richtige und erfolgreiche Ausführung ihrer Absicht mittels des beobachteten Verhaltens die wahre Überzeugung unterstellen dürfen, dass es notwendig sei, mit dem Rezept bewaffnet die Wohnung zu verlassen und da sie keine Flügel hat sich ihrer Beine zu bedienen und sich auf der Straße in Richtung Apotheke zu begeben. Die Wahrheit dieser Überzeugungen ist wiederum verknüpft mit der Wahrheit der Überzeugungen, dass Frau P. die Öffnungszeiten der Apotheke zu beachten hat, dass sie das Rezept vor Ort aus der Tasche ziehen und dem Apotheker überreichen muss. Und die Wahrheit all dieser Überzeugungen ist gleichsam unterirdisch oder auf der Rückseite des Teppichs mit basalen Wahrheiten der Art verknüpft, dass Frau P. getrost den Fuß auf den Bordstein setzen kann ohne dank des Wirkens der Gravitationskraft Gefahr zu laufen, in die Lüfte zu entschweben.

Der semantisch geknüpfte Teppich aus Überzeugungen und Absichten ist das, was Lebewesen als Personen beseelt. Das fortgesetzte Knüpfen, aber auch das stellenweise Wiederauflösen und Neuknüpfen des semantischen Teppichs geschieht ein Leben lang und umfasst das, was wir das intentional-bewusste Leben der Person nennen. Die Ausführung deiner Absicht kann scheitern, vielleicht aus dem einfachen Grund, weil dich eine falsche Überzeugung in die Irre geführt hat, und du wähntest, das Medikament in der Apotheke ohne Rezept erhalten zu können.

Und wenn du nicht nur mit einer Überzeugung falsch lägest, sondern mit vielen oder gar mit allen? Und wenn du, wieso dann nicht auch ich, und wenn du und ich, wieso dann nicht alle? Lebten wir dann nicht in einer Scheinwelt oder Traumwelt, in der alles wie in einem Film sich abspielte, für den es kein Skript und keinen Plot gäbe, den nicht einmal ein verantwortlicher Regisseur gedreht hätte? Wäre dies aber so, und alle deine Überzeugungen wären falsch, wähntest du beispielweise, über die Brüstung des Balkons deiner Wohnung im 5. Stock gelehnt, du könntest fliegen – und lebtest also nicht mehr.

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