Skip to content

Philosophische Konzepte: ästhetischer Ausdruck

02.01.2018

Elementare Sprachgesten sind „Ja!“ und „Nein!“, mit denen wir jeweils einen Sachverhalt akzeptieren und verwerfen. Wir akzeptieren und verwerfen aber sowohl Annahmen oder den Inhalt deskriptiver Sätze als auch Aufforderungen und Wünsche oder den Inhalt präskriptiver Sätze. Wenn wir die Annahme, daß Peter eingeladen wurde, verwerfen, behaupten wir, daß er sich nicht unter den Gästen befinde. Wenn wir den Wunsch hegen, Peter soll an der Feier teilnehmen, richten wir an ihn die Aufforderung, unserer Einladung nachzukommen. Wir antworten auf die Frage, ob Peter an der Feier teilgenommen hat, mit „Ja!“. Ebenso antworten wir auf die Frage, ob Peter eingeladen werden soll, mit Ja, wenn dies unserem Wunsch entspricht. Doch mit dem ersten Ja haben wir eine Tatsache bestätigt, mit dem zweiten Ja eine Forderung.

Wir können Beschreibungen von Tatsachen in Handlungsanweisungen umformen. Wir beschreiben die Zusammensetzung eines Kuchens. Oder wir machen ein Rezept, indem wir eine Liste mit den Handlungsanweisungen oder Vorschriften aufsetzen, deren Befolgung und Ausführung den wohlschmeckenden Kuchen zum Resultat haben. Die Erfüllung der Vorschriften des Rezepts ergibt ein Resultat, das wir wiederum beschreiben können. Im Idealfalle stimmen unsere Ausgangsbeschreibung und die resultierende Beschreibung überein. Sollten sie nicht übereinstimmen, haben wir etwas falsch gemacht.

Nun wenden wir uns der Beschreibung sprachlicher Tatsachen in der Form dichterischen Ausdrucks zu. Wenn wir ein schlichtes Gedicht wie das Abendlied von Matthias Claudius in seine Bestandteile zerlegen und eine Liste mit allen verwendeten sprachlichen Eigentümlichkeiten von der Wortwahl über die Syntax bis zum Reimschema erstellen und diese Liste wie beim Kuchenrezept in eine Liste von Handlungsanweisungen und Vorschriften umformen und sie jemandem vorlegen, der mit dem Original nicht vertraut ist, wird es ihm bei noch so großem Sprachtalent nicht gelingen, den gewünschten „Kuchen“ zu backen.

Wir bemerken, daß uns eine normative Ästhetik von Sprachkunstwerken als Liste von Handlungsanweisungen und Vorschriften, solche Kunstwerke hervorzubringen, nicht zur Verfügung steht. Das hat seinen Grund in der Tatsache, daß wir kein vollständiges Set präziser sprachlicher Regeln angeben können, nach denen Sprachkunstwerke funktionieren.

Auch wenn wir die Dichte und Nuanciertheit der ästhetischen Beschreibung sehr weit treiben, gelangen wir immer wieder zu stereotypen oder musterartigen Beschreibungsetiketten. So sprechen wir von einem strengen oder weichen, einem kargen oder überladenen, einem reduzierten oder üppigen Ausdruck, und finden diese Stilprinzipien auf allen Gebieten künstlerischer Gestaltung, von der Töpferkunst über die Plastik bis zur Architektur, von der Malerei über die lyrische Dichtkunst bis zur Musik. Wir finden eine gewisse Häufung und Konzentration solcher Ausdruckswerte auf Stilepochen verteilt wie die archaische, geometrisch-strenge, klassische und hellenistische Stilepoche in der Vasenmalerei und Plastik des antiken Griechenlands, die dorische, ionische und korinthische Säulenordnung des antiken Tempels oder die Epochen Renaissance, Barock, Klassik und Romantik in Malerei, Architektur und Musik des Abendlands. Wir finden und empfinden sie auch in den Altersphasen der Produktion großer Künstlerpersönlichkeiten. Denken wir beispielsweise an die triadischen Produktions- und Stilphasen der klassischen Dichter Roms, die iambische, lesbische und hexametrische Dichtungsart des Horaz oder das cecini pascua, rura, duces des Vergil. Oder denken wir an die Stilphasen in Goethes Werdegang, an die rokokohafte Verspieltheit und den erotischen Charme seiner Jugendgedichte, den Sturzbach seiner frühen Hymnen, die zart verschleierten Veduten seiner klassischen Epoche und die bunten, stillen Flockenwirbel seiner Alterswerke.

Wir finden Ausdruckswerte ästhetischer Anmutung auch in den musikalischen Vortragbezeichnungen wie andante und presto, grazioso und maestoso, lento und forte, animato und morendo. Sie bilden wie die Ablagerungen und Versteinerungen des urzeitlichen Lebens im Meeresschlamm Einschlüsse und Embleme des anonymen Seelenlebens vieler Generationen.

Wir bemerken, daß die Vorliebe der klassischen Ästhetik für die Ausdruckswerte des Schönen und Erhabenen, wie wir sie bei Kant oder Hegel finden, unseren Blick zu sehr einschränkt und der Fülle und Differenziertheit künstlerischer Gestaltung nicht gerecht wird.

Auch wenn die ästhetischen Ausdruckswerte nicht rein naturwüchsig vorgegeben sind, scheinen sie doch nicht willkürlich und beliebig oder willkürliche Erfindungen zu sein. Wir könnten beispielsweise nicht den ästhetischen Ausdruck des Komischen goutieren, wenn wir nicht in der Lage wären zu lachen, und wir könnten nicht dem ästhetischen Ausdruck des Tragischen nachspüren, wenn wir nicht in der Lage wären zu weinen. Das Komische in den Komödien von Aristophanes, Molière oder Nestroy und in den Gedichten von Morgenstern oder Ringelnatz und das Tragische in den Tragödien von Sophokles, Racine und Shakespeare sind grundlegende ästhetische Ausdruckswerte, die gewissen Sichten und Gestimmtheiten entsprechen, mit denen wir dem Leben und seinen Verwicklungen und Verstrickungen begegnen.

Das, was uns belustigt und erheitert, was uns traurig macht und erschreckt, sind natürliche Aspekte unseres Erlebens, und zugleich gerinnen die Inhalte solchen Erlebens vor unseren Augen zu komischen oder ernsten, grotesken oder grauenerregenden Bildern und Gestalten eines prägnanten ästhetischen Ausdrucks. Aber auch die Art und Weise, wie jemand steht und geht, sich regt und bewegt, fassen wir zugleich in die Anmutungsqualitäten des Plumpen oder Anmutigen, Schwerfälligen oder Leichtfüßigen und charakterisieren sie mit den entsprechenden ästhetischen Etiketten. Die ästhetischen Ausdruckswerte entspringen demnach dem Anmutungscharakter in der trivialen Wahrnehmung von Gestalten, Farben und Klängen, Gesten, Bewegungen und Sprechweisen unserer alltäglichen Umgebung, sie haben ihren Ursprung nicht in der Kunst. Die Kunstwerke sagen uns etwas und sprechen uns an, weil alltägliche Anmutungsqualitäten in ihnen in verdichteter und prägnanter Form verwendet werden. Dieser Umstand scheint der mißverständlichen Redeweise zugrunde zu liegen, die Kunst sei Mimesis oder ahme die Natur nach.

Wir können vom tollpatschigen Gebaren eines Hundewelpen oder Kleinkinds erheitert und belustigt werden, während wir das Lächeln unseres Freundes verstehen, auch wenn wir selbst traurig sind. So kann uns die melancholisch-heitere Anmutung eines Gemäldes von Antoine Watteau oder eines Gedichts von Paul Verlaine aus dem Zyklus der Fêtes galantes melancholisch-heiter stimmen, doch könnten wir den Sinn des malerisch Dargestellten und dichterisch Ausgedrückten auch verstehen, wenn wir uns der melancholisch-heiteren Stimmung momentan verschlössen. Hier berühren wir die Grenze der Redeweise von der Kunst als Nachahmung der Natur, insofern das Verstehen der ästhetischen Ausdruckswerte nicht auf psychologische Gründe und Motive wie etwa auf die sympathetische Anteilnahme zurückgeführt werden kann. Wir können ja den ästhetischen Ausdruckscharakter des dicken Mannes, der schwerfällig und plump unseren Weg kreuzt, wahrnehmen, auch wenn wir von ihm abgestoßen werden.

Wenn wir im Tropfen des Wasserhahns bald ein rhythmisches Klangmuster zu hören geneigt sind, hat dieser ästhetische Wahrnehmungseindruck nicht die ästhetisch ausgezeichnete Qualität, die uns als ähnliches rhythmisches Muster in einem Musikstück zu Gehör kommt. Ersteres ist zufällig und intentionslos, während der Kunstcharakter des Musikstücks den Rhythmus absichtsvoll gestaltet und gleichsam ausstellt.

Der dicke Mann wirkt auf uns schwerfällig und plump, aber er sinnt uns nicht wie die Kunstfigur Falstaff in Shakespeares Komödie Die lustigen Weiber von Windsor seinen fetten Wanst als glänzende Hülle seiner Trink-, Liebes- und Lebenslust an. Es ist umgekehrt, wir mögen, wenn wir gut gelaunt sind, Falstaff in dem dicken Mann wiedererkennen. Desgleichen mag uns die anmutige Gebärde oder die graziöse Haltung des schönen Erdenkinds an Ophelia oder Ariel erinnern, auch wenn es nichts von diesen Kunstgestalten weiß. Wir können demnach die Tristesse und Eintönigkeit unseres Erdenwandels mildern, wenn wir uns darauf verstehen, Szenen unseres Alltags mit Zitaten aus Stücken von Molière, Shakespeare oder Beckett zu garnieren und in ganz gewöhnlichen Vasen, Tassen und Früchten auf dem Tisch Fragmente der Stilleben von Chardin, Modersohn-Becker oder Morandi erblicken.

Gewiß ist uns der allgemein-platonische Begriff des Schönen oder der normative Regelbegriff der barocken und klasischen Kunst abhandengekommen, wir leben gleichsam ästhetisch von der Hand in den Mund und müssen uns mit der Aufzählung von Beispielen begnügen, die kaum mehr bezeugen als Idiosynkrasien und Vorlieben unseres persönlichen Geschmacks. Dennoch ist uns ein vager Begriff von Größe am Maß der Intensität und der Sublimierung menschlichen Leidens im künstlerischen Ausdruck geblieben, wie ihn uns die Dichtungen Hölderlins, Baudelaires und Trakls oder die Kantaten Bachs und die Lieder Schuberts bezeugen.

Wir ahnen aber noch einen Hintergrund der künstlerischen Produktion, der sich im Dargestellten und Ausgesprochenen schwer greifen läßt und mehr als ein duftiger Schleier des Ungesagten um alles Gesagte schwebt. Er mutet, wie dem von tiefem, traumlosen Schlaf Erquickten die blaue Luft des Morgens, als unverbrauchter Lebenssinn uns an. Wir stellen dies Ausgesparte, die gleichsam leer gelassene Mitte des Werks, der Reife und Meisterschaft des schöpferischen Genies anheim, die wohl nicht ohne Virtuosität auskommt, doch wie der Schmelz oder Tau auf die blasse Blütenspitze unverhofft als ein Segen und Glanz auf das noch so dürftige und nichtssagende Wort herabtropft.

 

 

Comments are closed.

Top