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Stefan George, Du schlank und rein wie eine flamme

24.07.2018

Fingerzeige zur Interpretation

Wenn wir mit Shakespeare die Schönheit Rose heißen, geraten wir leicht an die Grenze der metaphorischen Bedeutung, falls wir alles, was wir von der Blume aussagen, auf das, was wir Schönheit nennen, übertragen. Vielleicht entströmt ihr wie der Rose ein betörender Duft, vielleicht wollen wir sagen, das Schöne knospe und erblühe, verblasse und welke dahin wie jene Blume. Es sei kostbar wie ein „Reis am edlen Stamme“. Doch werden wir den sexuellen Vorgang, in dem die Biene die Pollen der einen Rose auf die Staubfäden der anderen überträgt, nicht leicht in unser ästhetisches Vokabular pressen wollen.

Wenn die biblischen Propheten Gott im Bild des Herrschers auf dem Thron sahen, den die Heerscharen seiner Engel umringen und besingen, dagegen der Evangelist Lukas denselben Herrn der Heerscharen in einem elenden Stall zur irdischen Welt der Menschen kommen lässt, scheint sich ein Widerspruch zwischen diesen Bildern kundzutun, den Kierkegaard vielleicht das christliche Paradox genannt hätte: Die Forderung logischer Konsistenz angesichts des Daseins des allmächtigen Gottes im ohnmächtigen Kind scheint aufgehoben.

Die Theologen sprechen hier von der Verborgenheit der Glorie Gottes in der Erniedrigung und Verdemütigung durch die Inkarnation und die Passion.

Das Bild der Schöpfung verdichtet sich im Hauch, mit dem Gott die Geschöpfe mit Geist begabt. Das Bild der Verbergung verdichtet sich im Wort, das Fleisch wird, im Wort, das sogar verstummt – am Kreuz.

Doch ist das Wort der Schöpfung, das inkarnierte und gekreuzigte und wiederauferstandene Wort, ein Bild, ein Symbol, eine Metapher, die wir nach Gutdünken durch eine uns passendere, dem Zeitgeschmack gefälligere ersetzen könnten? Wäre das auferstandene Wort eine Allegorie, wie schön, wie erlesen, könnte man sagen, doch was hülfe sie uns?

Die bedeutungsvollsten Bilder, Metaphern und Symbole sind die Heilszeichen. Die hohe Dichtung spricht sie an oder deutet sie aus mit den Namen der Dinge und Wesen, die dem Menschen unentbehrlich oder köstlich dünken: Honig und Milch, Garten und Brunnen, Narde und Duft, Zypresse und Myrrhe wie im biblischen Hohelied, wie die Himmelsrose der Divina Commedia, der Wein des Einsamen, der Wein der Liebenden, der Wald der Symbole bei Baudelaire, Blitz und Schnee, Quelle und Strom, Abendrot und Friedensfeier bei Hölderlin oder die reine und schlichte Flamme bei George – um nur diese und nur dies zu nennen.

Der Wein des Dionysos, der den Feiernden und hymnisch Singenden begeistert, ist ein Symbol der Begeisterung, doch vermag er den Trunkenen gleichsam nur auf Zeit und Abruf zu verwandeln.

Doch können wir nicht, ohne dem geoffenbarten Wort zu widersprechen, sagen, die eucharistischen Gaben, das Brot und der Wein, die Jesus seinen Jüngern zu seinem Gedächtnis darreicht, seien Bilder, Metaphern oder Symbole des Heils. Dem Glauben verkörpern sie es im allerwörtlichsten Sinne.

Dagegen müssen wir Jesu Wort zur Samaritanerin am Brunnen, das Wasser, das sie suche, stille nur vorübergehend den Durst, das Wasser, das er ihr gebe, lösche ihn für immer, bildlich und wie die alten an der Homerexegese geschulten Theologen allegorisch auf den Geist, den er ausgießen wird, verstehen.

Es scheint poetische Metaphern zu geben, die in das Universalwörterbuch der Dichtersprache gehören, insofern sie unabhängig von Ort und Zeit Geltung beanspruchen dürfen, wie die Rose und die Lilie, die wir von der religiösen Lyrik des Alten Orients und der Bibel über die Dichtung Persiens bis zu Dante und Petrarca, den Franzosen, Italienern, Deutschen oder Engländern kennen.

Doch der Japaner und der Chinese nennen, wo der deutsche Mystiker das Licht und den Duft seiner Rose beschwört, die Blüten von Pflaume und Kirsche oder den Lotus.

Dagegen ist der Schatten, der dem Bewohner der Wüstenregionen köstlich ist wie das Wasser, dem nordischen Dichter mit Schauer und Bangen behaftet.

Hier gelangen wir an eine gewisse, wenn auch nicht unüberwindliche Grenze der Übersetzung und Deutung. Den kühlenden Schauer des Quells und Brunnens und den erquickenden Schatten der Palmen der Oase verstehen wir, wenn wir uns die ungeschriebene Glosse über den Brand der Wüstensonne hinzudenken. Doch das eigentliche Verstehen beginnt, wenn wir im Feuer der Wüste die Ausgesetztheit und die Flamme der unerlösten Leidenschaft des Herzens erkennen.

Wie es die Sprache der Bibel oder die Dichtung Goethes und Georges bezeugen, sind die Bilder und Metaphern des Heils demselben Mutterboden wie die Bilder und Metaphern der Liebe erwachsen. Gottes Odem verleiht das Leben, Gottes Feuersäule geht dem wandernden Volk in der Wüste voraus, wie die sanfte Flamme oder der Stern der Liebe dem Liebenden auf seinem dunklen Pfad voranleuchtet.

Betrachten wir ein wenig die Metaphorik in dem Gedicht Du schlank und rein wie eine flamme von Stefan George, das er dem letzten von ihm veröffentlichen Gedichtband „Das Neue Reich“ gleichsam als eine Art Vermächtnis an den Schluss gestellt hat:

 

Du schlank und rein wie eine flamme
Du wie der morgen zart und licht
Du blühend reis vom edlen stamme
Du wie ein quell geheim und schlicht

Begleitest mich auf sonnigen matten
Umschauerst mich im abendrauch
Erleuchtest meinen weg im schatten
Du kühler wind du heisser hauch

Du bist mein wunsch und mein gedanke
Ich atme dich mit jeder luft
Ich schlürfe dich mit jedem tranke
ich küsse dich mit jedem duft

Du blühend reis vom edlen stamme
Du wie ein quell geheim und schlicht
Du schlank und rein wie eine flamme
Du wie der morgen zart und licht.

 

Wir zählen einmal die Namen der Gegenstände auf, mit denen das beschworene oder evozierte Du der Liebe bedacht wird:

1. Strophe:
Flamme, Morgen, Reis, Quell

2. Strophe:
Wind, Hauch

3. Strophe:
Trank, Duft

4. Strophe:
Reis, Quell, Flamme, Morgen

Wir gewahren die vollkommene Harmonie des Aufbaus in der symmetrischen Verteilung der Namen: 4 + 2 + 2 + 4, wobei die Strophen 1 und 4 sich nur durch die Variation der Versgliederung unterscheiden.

Der beschwörende Zauber, den das Lied auf den Hörer und Leser ausübt, rührt von der variierenden Wiederholung der 1. Strophe in der 4. Strophe. Die Wiederholung ist nicht versgetreu, sondern bedient sich des sinnfälligen Wechsels in der Verteilung der Zeilen.

Vergleichen wir:

1 Du schlank und rein wie eine flamme
2 Du wie der morgen zart und licht
3 Du blühend reis vom edlen stamme
4 Du wie ein quell geheim und schlicht

3 Du blühend reis vom edlen stamme
4 Du wie ein quell geheim und schlicht
1 Du schlank und rein wie eine flamme
2 Du wie der morgen zart und licht.

Die Reihe der Variation 3 4 1 2 berücksichtigt den Kreuzreim und verwirklicht den Wunsch („Du bist mein Wunsch“), das Lied im Motiv des Morgens, in der zarten und lichten Atmosphäre der Hoffnung, ausklingen zu lassen.

Die Wiederholung, jeweils viermaliger Anruf des Du, ist ein archaisches Element der religiösen und hymnischen Dichtung („Heilig, heilig, heilig“), aber auch der volkstümlichen Poesie und ihrer Anverwandlung im Kunstlied („Sah ein Knabʼ ein Röslein stehen, Röslein auf der Heiden – Röslein, Röslein, Röslein rot, Röslein auf der Heiden“) bis hin zum Kinderreim („Heile, heile Segen, sieben Tage Regen, sieben Tage Sonnenschein, wird alles wieder heile sein“).

Der wiederholte und variierte Anruf soll im Zauberspruch (wie den Merseburger Zaubersprüchen) die angerufene Instanz, den Gott, den Quell der Rettung, bannen und in die Gegenwart des Rufenden zwingen und ihn beschwören, sich dem Rufenden gnädig zu neigen und seiner Not beizustehen.

Wir nennen diesen Vorgang magisch wie die Anrufung magische Beschwörung oder Bann durch Zauberrede.

Diese magische Schicht ist im Volkslied und seiner Anverwandlung im Kunstlied vor allem in der Wiederholung der nennenden Zeilen oder dem Refrain gegenwärtig: „Röslein, Röslein, Röslein rot, Röslein auf der Heiden.“

Gewiss sollen wir die Rose Goethes als Name der Geliebten oder als Name der Liebe deuten. Darin haben wir den primären Vorgang der Metamorphose des eigentlichen Begriffs in den uneigentlichen, kurz die metaphorische Redeweise, vor Augen.

Wir gewahren, dass die metaphorische Übertragung den uneigentlichen oder mitgemeinten Begriff, die Geliebte oder die Liebe, mit Werten und Bedeutungsnuancen anreichert, die aus dem eigentlichen oder unmittelbar gemeinten Begriff, Rose, auf jenen gleichsam überfließen: Was Goethe unter Liebe versteht, wird in den Bedeutungshorizont all dessen, was wir mit dem Begriff Rose verknüpfen, eingetaucht: Anmut und Schönheit ihres Wuchses, ihr betörender Wohlgeruch, ihr verführerischer Schimmer.

Der Stachel der Rose geht in den Goetheschen Begriff der Liebe über als Gedächtnis einer Wunde oder als Wunde der Erinnerung daran, dass die Liebe wie eine Rose zu brechen, den Missetäter oder dem Eros Verfallenen nicht ganz ungeschoren davonkommen lässt.

Der Begriff von Liebe, den das Lied Georges entwirft, scheint im Vergleich zur Rose Goethes elementarer: Flamme, Quelle, Wind und Hauch sind seine naturwüchsigen oder Elementargewalten entlehnten Symbole. Freilich, könnte man sagen, es fehle ihnen der Stachel und die Wunde der Erinnerung, denn dass die Liebesflamme nicht nur den Weg des Liebenden erleuchtet, sondern gar wie Goethes Liebesfalter in einem letzten Akt ekstatischer Hingabe versengt und auslöscht („Selige Sehnsucht“ im West-Östlichen Divan), von dieser Sphäre tödlicher Gefahr und in der Aufopferung widerfahrener Erneuerung („Stirb und werde“) scheint das Lied Georges sich fern zu halten.

Werfen wir noch einen Blick auf die Anrufung, die als Inbegriff der abendländischen geistlichen Überlieferung zu gelten hat: „Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name.“

Wenn wir sagen, der Name „Vater“ sei als Anruf des Herrengebets, was die Rose Goethes oder die Flamme Georges als dichterische Symbole meinen, der Name der göttlichen Liebe, gewahren wir, was aus dem Bedeutungshorizont, in den der alttestamentliche Gebrauch des Vaternamens eingeschlossen ist, auf den Begriff Gottes und die Liebe Gottes überfließt: die Hoffnung und gläubige Zuversicht in das Versprechen des Vaters, seinen Sprössling vor den Unbilden der Welt zu bergen oder in der Angst der Welt nicht zuschanden werden zu lassen, die Zusage, dem auf die Zeitenwende oder die Heimkehr in das Reich Harrenden die tägliche Wegzehr (das Brot) zu geben und die Zusage, das im vaterrechtlichen Sinne verbürgte Erbe (den Himmel) antreten zu dürfen.

Wir können, begreifen wir den Namen des Vaters als Metapher der Liebe, ihn nicht durch andere dem Zeitgeschmack gefällige Metaphern wie „Mutter“ ersetzen, ohne den mit dem jüdischen Sinn des Vaternamens gegebenen metaphorischen Bedeutungshorizont zu verdunkeln.

Wir können den Namen des Vaters nicht durch den Namen der Mutter austauschen, weil aus dem altjüdischen Bild der väterlichen Macht nicht nur der Aspekt von Schutz, Treue und Erbfolge, sondern auch der Aspekt der Strafe und Gerichtsbarkeit in den Begriff von Gottes Liebe metaphorisch überfließt und schließlich theologisch-begrifflich gerinnt. Im väterlich-männlichen Sinn der Liebe macht sich die Auslese des Würdigen geltend, wenn auch das Erbarmen des Vaters den unwürdig-verlorenen Sohn wieder in die Arme schließt, doch nicht bevor er wieder an seine Tür geklopft hat.

Dass dem Betenden seine Bitte erfüllt wird und auch ihm das Reich sich auftut, ist weder gewiss noch absehbar noch durch ein moralisch gesetzestreues Leben zu erwirken. Die Sorge und die Angst ist somit ein unaustilgbares Moment des subjektiven Daseins wie die Realität der Hölle, die Dante beschreibt, ein Werk der unendlichen Liebe darstellt. Die Hölle ist nicht ein Ausschluss von dem, was Augustinus den Genuss der Gegenwart Gottes nennt, sondern ein Ausschluss, um den der Ausgeschlossene weiß. Als würden sich um die Schar der wenigen Auserwählten, denen das Angesicht des Herrn leuchtet, rings in zunehmend dunkleren Schattenkreisen die vielen drängen, denen das strahlende Bild schreckliche Qualen bereitet.

So können wir, mag der Vergleich auch bizarr anmuten, den Doppelaspekt der Liebe des Vaters ähnlich betrachten wie die Kippfigur aus Hase und Ente, die nur den Aspekt des Sehens oder der von uns identifizierten Bedeutung wechselt, aber in der realen Gestalt unverändert bleibt.

Die wesentlichen dichterisch-religiösen Metaphern des Heils und der Rettung sind demnach nicht willkürlich gesetzte und rein konventionelle, austauschbare Zeichen, denn ihre Verwendung unterliegt bestimmten Bedingungen des Wahr- und Falschsein, wenn diese auch nicht so leicht auszumachen sind wie die Wahrheitsbedingungen wörtlicher Rede. Denn jemanden Vater zu nennen impliziert, sein Kind zu sein, doch Gott Vater zu nennen impliziert nur im übertragenen Sinne, sein Kind zu sein. Vor der letzten Instanz (dem Jüngsten Gericht) könnte sich die gutgläubige Annahme, ein Kind dieses Vaters zu sein, als falsch erweisen.

Aber können wir den Namen des Vaters, angerufen von seinem Sohn Jesus Christus im Gebet der Gebete, überhaupt als Metapher verstehen? Indes, wenn die Christgläubigen ihm nachsprechen, treten sie gleichsam in die Position des Sohnes ein („Kinder Gottes“).

Das Vaterunser ist im Unterschied zur Beschwörung des Zauberspruchs oder der incantatio lyrischen Sprechens bei Goethe und George weder mystisch-beschwörend noch magisch-bannend. Es ist Gebet, das sich dem Zuspruch und der Gnade des Angerufenen anheimgibt.

Das Vaterunser ruft zur Heiligung eines Namens auf, dessen Träger nicht unmittelbar („Gott“), sondern nur im so alltäglichen Begriff des Vaters genannt wird. Die Verborgenheit des Namensträgers zeigt sich allerdings darin, dass er in einer alles Irdische übersteigenden Höhe („Himmel“) vermeint ist. Wir stoßen wiederum auf das christliche Paradox des unendlich Fernen, der sich in der Nähe des alltäglichen Daseins offenbart.

Vertritt und verbirgt das von Georges Lied beschworene Du einen Namen? Können wir ihm ein Gesicht verleihen, das gleichsam im Lodern der Liebesflamme hervorschimmerte oder sich im geheimen Quell widerspiegelte?

Das angerufene Du des Lieds tritt dem Anrufenden nicht als freies Ich gegenüber, sondern bleibt eingehüllt in das Fluidum und die Atmosphäre der natürlichen Phänomene, die zugleich sind, was Licht und Wasser und Duft meinen, und zugleich als Heilszeichen mit charismatischer Kraft begabt werden, sodass das Licht die Schatten der Angst vertreibt, das Wasser den Durst des Pilgrims löscht, der Duft den Kuss der Hingabe gewährt.

Wenden wir uns abschließend nochmals dem inneren Aufbau des Liedes „Du schlank und rein wie eine flamme“ zu:

10 Zeilen (darunter alle Zeilen der 1. und 4. Strophe) beginnen mit dem Anruf „Du“, 3 mit „Ich“, die 1. und 4. Strophe enthalten ausschließlich Evokationen des geliebten Du, die 2. und 3. Strophe Aussagen über das Verhältnis von Du und Ich.

Jeweils 3 Verse der 2. und 3. Strophe widmen sich den Bezügen von Du und Ich, Ich und Du. Wir geben die Liste der Verben und ihre Zugehörigkeit sowie das implizierte Subjekt und das jeweils genannte Objekt des Bezuges wieder:

Du (begleiten, umschauern, erleuchten – Flamme, Quelle, Licht)
Ich (atmen, schlürfen, küssen – Luft, Trank, Duft)

Das Du der Liebe begegnet dem Liebenden in der geheimen Gestalt und dem durchsichtigen Schleier natürlicher Phänomene, es ist nah und fühlbar und zugleich fern und ungreifbar wie das Morgenlicht auf den Matten und der Schauer, der aus dem verborgenen Quell in den Dunst des Abends aufsteigt. Es ist in der Luft, den das Ich atmet, im Trank, den es schlürft, und in der fluiden Gestalt des Dufts vermag es gar seinen Kuss zu empfangen.

Was das Gedicht dem Quell zuspricht, er sei geheim und schlicht, lässt sich ebenso vom Charakter dieses Liedes aussagen – als Lied, eingefasst in den kleinen Zyklus von zwölf Liedern als den gesamten Band abschließendes und krönendes, enthält es die geheime Macht des priesterlichen Zauberspruchs und die schlichte Sangweise des Volkes. Die Schlichtheit des Sagens, die doch mit zarten Wurzeln in ein verborgenes Dunkel reicht, bindet das Gedicht an das deutsche Volkslied zurück, wie es nach den Sammlungen Herders und des „Knaben Wunderhorn“ in Goethes Dichtung sich zur Kunstform emporgeläutert hat.

In dem Vers, der das geliebte Du mit einer Blüte an edlem Stamme, also einer sublimen Gestalt des Daseins, vergleicht, erfassen wir die zweite Herkunftslinie des Lieds: den hymnischen Preisgesang, wie er in der Antike sich aus den Epitheta göttlicher Wesen und vergöttlichter Heroen und den mythischen Geschichten entfaltete, die ihre Heils- und Wundertaten berichten, und gewiss auch den christlichen Hymnen, insbesondere den Marienhymnen, in denen die heilige Mutter mit der Sonne, dem Mond, dem Morgenstern oder Lilien und Rosen verglichen wird.

Wir finden in diesem Lied den Ausdruck einer tiefen, ja haltlosen Ergebenheit des seine Liebe aussprechenden oder hinsingenden Ich, die von einer gewissen Melancholie gleichsam des Abschieds inmitten der Umarmung eingehüllt ist. Freilich erschöpfen wir ihren Grund nicht, wenn wir auf das biografische Datum in der Entstehung des Gedichts verweisen, den Tod eines vom Dichter geliebten jungen Mannes, die Tatsache, dass es sich dabei also um eine Art von Totenbeschwörung handelt.

Doch erhellen wir den Grund des bei allem hymnischen Aufgesang verhaltenen Liedtones in der eigentümlichen Struktur metaphorischen Sagens überhaupt, wie sie aller Dichtung eignet: Die Flamme des Gedichts leuchtet nur in einem imaginären Raum, die Rose des Gedichts duftet nicht, es sei denn, sie erweckt den verborgenen Duft wie einer Blume der Erinnerung.

Wir gingen von den großen dichterischen Symbolen des Heils aus. Gewiss sind auch die in Georges Gedicht angerufenen Chiffren des Geliebten und die Namen der Liebe Heilszeichen oder wie Paulus sie nennt: Charismen des Heiligen Geistes, der ja der christlichen Lehre als Geist der Liebe gilt.

Doch scheint der Geliebte auch in Licht, Schauer und Hauch anwesend, bleibt er doch gestaltlos und kaum angerufen wie in Luft zerronnen: Er ist des Sprechenden Wunsch und Gedanke, eine eigene Stimme ist ihm nicht verliehen. Die Erscheinung des Geliebten gleicht einem Phantasma, das dem leeren Abgrund des einsamen Ich entsteigt.

Gewiss zählt dieses Lied, schlank und rein, geheim und schlicht, zart und licht, zu den schönsten Gebilden deutscher Zunge. Auch darum vielleicht, weil es den Hörer und Leser mit der Anmutung betrauen könnte, die Stelle des angerufenen und besungenen Du einzunehmen und sich für den außerzeitlichen Augenblick des Gedichts in die Flamme, die Quelle, den Hauch zu verwandeln, die den Wunsch und Gedanken des rufenden Ich verkörpern und erfüllen. Für den Augenblick des Gedichts diese Blüte zu werden, deren Duft der Liebende küsst, diese Flamme in sich zu schüren, dies Licht, den umschatteten Pfad des Liebenden zu erhellen, könnte eine Metamorphose des verschlossenen und unerweckten Selbst bewirken, so es sich denn dem Charisma der dichterischen Stimme öffnet.

 

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