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Die Verwandlung der Schwestern

07.07.2018

Ne l’ora che comincia i tristi lai
la rondinella presso a la mattina,
forse a memoria de’ suo’ primi guai,

e che la mente nostra, peregrina
più da la carne e men da’ pensier presa,
a le sue visïon quasi è divina.

Zur Stunde, da die Schwalbe ihre Klage
am Morgen anhebt, sie ist wohl bedrückt,
gedenkt sie ihrer frühen Unglückstage,

wenn unser Sinn ist mehr entrückt
dem Fleische noch, Gedanken ihn nicht engen,
scheint göttlich er von seiner Schau verzückt.

Dante Alighieri, Divina Commedia, Fegefeuer, IX, 13–18

                               *

Die Zeichen, die ins Tuch sie eingewebt
der treuen Schwester Prokne, sie zu lesen,
ein Herz, das aus demselben Blute bebt,

vom selben Schmerz am Zwillings-Quell genesen,
schäumt heller als der Liebe heißer Strahl,
im Blick des Mannes ist er Dolch gewesen,

in Philomelas Schoße Todesqual.
Als unter trunknem Schritt die Halme bogen,
von Blättern, Lippen rannen Seufzer fahl,

im Schwirren weicher Rohre Locken flogen,
war fremden Gottes Traumgesang das Heil,
da sie aus Kelchen Sonnenglut gesogen.

Der Rebe krumme Wurzel wurde Beil,
zu metzeln, zu hacken den Bastardspross, den schönen
Kopf vom Rumpf zu trennen, rachegeil,

den Vater mit dem Schreckensmahl zu höhnen,
das sie im Saft geschmort von Blut und Wein,
die Silberschale mit dem Haupt zu krönen.

Beflügelt ward die Flucht, das Grauen Schein,
der dunklen Schwestern aus der Höhe blaute
und hob aus Schwere sie ins leichte Sein

verzückter Federn, vom Kuss der Luft betaute.
O Wunder, wie hoher Geist aus dem Verfall,
aus Wahn und Chaos Schönes sich erschaute,

der Schwalbe Flug, das Lied der Nachtigall.

 

Mythos:
Prokne, Schwester der Philomela, wird dem rohen fremdländischen Thraker-Herrscher Tereus angetraut, doch hat es seine unbezähmte Geilheit und Besitzgier auf die schöne Philomela abgesehen, er lockt sie in einen Wald, um sich an ihr zu vergehen. Der dort von dem Missetäter in einem Stall gefangenen Frau hat er die Zunge abgeschnitten, auf dass sie die grausame Wahrheit nicht über die Lippen bringen und ihrer Schwester anvertrauen kann. Sie aber webt die Zeichen ihrer Leidensgeschichte in ein Tuch und vermag es ihrer Schwester Prokne auszuhändigen. Diese kann die Zeichen lesen und befreit Philomela, dabei geraten die beiden Mädchen im Wald in den rauschhaften Umzug des Dionysos. Im Aufruhr und ekstatischen Tanz der Mänaden werden ihre finsteren Rachegelüste entfacht. Sie zerstückeln bacchantisch erregt den kleinen Sohn Itys aus der ehelichen Verbindung zwischen Prokne und dem Vergewaltiger, der aus dem überhitzten Gefühl der Blutsverwandtschaft der Schwestern zu einem Bastardspross herabsinkt, sie kochen aus den Fleischbrocken ein Mahl und setzen es dem Vater zum Hohne vor. Nachdem er sich reichlich daran gelabt hat, offerieren sie den abgeschlagenen Kopf seines Sohnes auf einer silbernen Schale. Die anschließende Flucht der Mädchen vor der Mordwut des entsetzten Vaters gelingt nur dank des Eingreifens einer höheren Macht: Zeus, Gott des Lichts und der kosmischen Weisheit, verwandelt die Schwestern in Vögel, in eine Schwalbe und eine Nachtigall. So sehen wir im Lichte des Mythos die Verwandlung der dunklen Schwestern im Aufschwung zur Helle des olympischen Himmelslichts vor dem Hintergrund des Grauens und Schreckens, woraus sie sich beflügelt in die Lüfte retten, die Schwalbe beschenkt mit der Anmut ihres Flugs, mit der Süße ihres Lieds die Nachtigall.

 

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