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Vom Schweben

25.03.2020

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Die entscheidenden Dinge hängen in der Luft, oder, könnten wir sagen, sie schweben.

Die Logik kann man nicht auf außerlogische psychische oder reale Tatsache gründen; aus seelischen oder physischen Ereignissen folgt nichts.

Die Semantik oder die Bedeutung eines Zeichens kann man nicht auf seelische und reale Tatsachen gründen, die selbst keine Zeichen sind; mit der Hand winken ist nicht an sich ein Zeichen, sondern nur im Rahmen einer Konvention.

Die Ethik kann man nicht auf Aussagen über seelische und reale Tatsachen gründen, wenn sie nicht schon die Form der Aufforderung haben; jemanden zu töten ist nicht an sich verboten, sondern nur im Rahmen einer Konvention oder Kultur.

Die Ästhetik kann man nicht auf Aussagen über seelische und reale Tatsachen gründen, die nicht bereits mit Etiketten versehen sind, die wir als ein Ansinnen verstehen, unser Wohlgefallen oder Mißfallen kundzutun; Rosen duften nach Schönheit und Liebe nur im Kontext kultureller Überlieferung.

Wir finden keine systematisch abgeschlossenen Regelwerke, keine ein für allemal feststehenden Bedeutungen, keine universell gültigen Normen des Guten und Schönen, mit denen wir die Korrektheit, Sinnfälligkeit und Normativität all unserer Argumente, Aussagen und Handlungen ablesen oder ableiten könnten.

Wären wir nietzscheanische Ironiker oder freudianische Schelme, könnten wir vermuten, daß sich im absoluten Geltungsanspruch der platonischen Idee, im Ewigkeitsanspruch Fregescher Gedanken und Bedeutungen, in der Vorstellung von der göttlichen Offenbarung des Gesetzes und der Harmonie angelischer Chöre die Bodenlosigkeit und Fragilität, das Unheimliche und Schwebende aller menschlichen Dinge verraten.

Wir sagen, knallgelbe Socken bei einem feierlichen Empfang zu tragen, schicke sich nicht für den kleinen Beamten oder sei geschmacklos; das tiefe Dekolletee der Witwe bei der Trauerfeier erscheine uns ungehörig; wenn dagegen die Witwe, deren zweifelhafter Ruf Stadtgespräch ist, tief verschleiert am Grab des betrogenen Gatten steht, erblicken wir in solch einem übertriebenen Auftritt geradezu eine Parodie.

Urteile dieser Art, insbesondere Geschmacksurteile hinsichtlich ästhetischer Anmutungen und Werte, gründen in Konventionen und kulturellen Überlieferungen; wenn wir sie ohne zu zögern bekunden, bezeugen wir damit unsere Zugehörigkeit zu einer kulturellen Lebensform; doch diese kann durch solche Urteile nur manifestiert, nicht ihrerseits gerechtfertigt werden.

Dagegen könnte man folgendes zu bedenken geben: In unseren ästhetischen und moralischen Urteilen benutzen wir öfters gleichsam elementare, primitive oder natürliche Prädikate wie „hell“ und „dunkel“, „süß“ und „bitter“, „weich“ und „hart“ und sprechen metaphorisch plausibel von „heller Freude“, „dunklen Ahnungen“, „süßem Licht“, „bitterem Nachgeschmack“, „weichem Gemüt“ und „hartem Herzen“. Wir meinen, diese Begriffsbildungen und Bildfindungen seien nicht willkürlich und beliebig, sondern gründeten in unserer natürlichen Organisation als fühlende und empfindende Lebewesen, ja in gewissen natürlichen Tatsachen des Lebens überhaupt.

Wenn wir einen Blick auf die poetische Metaphorik nicht nur der deutschen, sondern vieler fremder Sprachen werfen, scheint uns ihre allgemeine Verbreitung in dieser Auffassung zu bestärken.

Daß Licht und Dunkel primitive Bezeichnungen unserer natürlichen Wahrnehmung darstellen und folglich die auf ihnen aufbauende Metaphorik universelle Resonanz haben muß, heißt ja: So und nicht anders leben und weben wir, so und nicht anders drücken wir aus, was uns im Tiefsten bewegt.

Primitive oder natürliche Prädikate, die bezeichnen, was uns bekömmlich, angenehm und zuträglich oder widerwärtig, ekelhaft und gefährlich erscheint, benutzen wir, um die Gründe und Motive dessen auszuloten und zu beschreiben, was wir begehren und verabscheuen, wollen und ablehnen.

Was für alle gut sein soll, muß ein fades, geschmackloses, wässriges Ideal sein; wie etwa, wenn wir köstlich nur nennten, was allen mundete und bekömmlich wäre – etwa Haferschleim.

Wir bemerken aber, daß manche ihren Geschmack verfeinern, wenige an sublimen Farb- und Formgebilden Gefallen finden, einzelne nur das absolute Gehör haben.

Quid placet Jovi, displicet bovi. Und umgekehrt.

Wenn alle sich mit allen darüber verständigen sollen, was für schön und häßlich, gut und schlecht gilt, müßten sie das sprachliche und geistige Niveau auf dasjenige des dümmsten, gröbsten Kleinbürgers, des radebrechenden Triebtäters und lallenden Kretins senken.

Dem geilen Affen kann man mit Botticellis Schönen nicht imponieren.

Der Triebtäter und der Kretin gähnen vor der Mona Lisa.

Satan scheint einen sublimen Geschmack zu haben, schleicht er doch nicht nur den prallen Nymphen, sondern auch den anmutigen Magdalenen und schüchternen Margareten nach.

Was heißt es, an jemanden (oder etwas) zu denken?

Wenn ich dich, da du so geistesabwesend wirkst, frage, woran du denkst, aber noch bevor du es mir zu sagen vermagst, der Wind das Fenster aufstößt, sodaß du es vor Schreck unterläßt, war es dann der Gedanke an deinen Freund Peter, den du mir genannt hättest, indem du gesagt hättest: „An meinen Freund Peter“?

Wenn wir an jemanden denken, müssen wir auch an etwas denken, was wir von ihm sagen könnten, wie „an meinen Freund Peter“, was ja bedeutet: „an Peter, meinen Freund“.

An Peter zu denken heißt nicht, eine Vorstellung oder ein Bild der Person „vor dem inneren Auge“ zu haben; denn ich könnte an Peter denken, wenn mir das Bild einer Landschaft einfällt, die ich mit ihm bereist habe.

Hätte Peter Hans, einen eineiigen Zwilling, zum Bruder, könnte ich durchaus an meinen Freund Peter denken, auch wenn ich sein Bild vor Augen hätte, das sich in nichts vom Bild seines Bruders unterscheidet.

Für Platon und Aristoteles wie für Frege ist der Gedanke etwas, was die sprachliche Form der Prädikation (anzunehmen) hat. – Ist an meine Mutter zu denken, kein Gedanke dieser Art, oder heißt an meine Mutter zu denken, sagen zu können: „Ich habe an die Frau gedacht, die mich geboren hat“?

Ich habe an Peter gedacht, wie ich mit ihm am Eifelmaar gewandert bin. – Doch es stellt sich heraus, daß ich damals die Wanderung mit Manfred unternommen habe. – Habe ich also nicht an Peter gedacht, sondern eigentlich an Manfred, und Peter hat sich in meinen Gedanken gestohlen?

Ich habe von jemandem geträumt, doch ich weiß nicht, ob es Peter war oder Manfred. – War der Gedanke also kein Traumgedanke, wie Freud ihn nennt?

Würden Gedanken wie durch Kondensation von Dunst entstehen, müßte scheint es mehr als ein Tropfen herauskommen.

Gleicht der Gedanke einem chemischen Stoff, der durch mehrere Verbindungen gesättigt werden kann? – Wie der Gedanke an Peter mehrere Erfüllungen zuläßt, wie daß er mein Freund ist, mit mir vorige Woche im Park spazierenging und mir heute eine E-Mail geschrieben hat.

Zu sagen, Peter sei das intentionale Objekt des Gedankens an meinen Freund, ist nur scheinbar eine Erklärung und beläßt den Gedanken in seiner mysteriösen Aura.

Wenn ich dir auf deine Frage, an wen ich gedacht habe, sage, an meinen Freund Peter, der mir eben eine E-Mail geschrieben hat, verfliegt der mentale Dunst, den wir nicht durchdringen, wenn wir vergebens auf ein inneres Bild oder eine Vorstellung verweisen, auf die wir Peter meinend zeigen.

Wir können, was wir den Gedanken oder Denken nennen, nicht durch Reflexion einholen oder begründen.

Das Modell der inneren Bilder ist ähnlich trügerisch wie dasjenige des Hauses oder des Baumes, die wir mehr oder weniger implizit und verstohlen an die Frage herantragen, wie wir begründen, was wir sagen und meinen. Als wäre der tiefere Grund dem Fundament ähnlich, auf dem das Haus steht, und die Bedeutung des Gesagten der Frucht, die wir vom Zweig pflücken und uns in aller Unschuld munden lassen können.

Aber das Haus der Sprache, in dem wir wohnen, schwebt gleichsam in der Luft, und der Baum des Sinns bringt bisweilen Früchte hervor, mit denen wie uns den Magen verderben.

 

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