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Was wir übersehen

12.03.2020

Zur Philosophie der Wahrnehmung IV

Wenn wir einen Baum sehen, fixieren wir ihn nicht nur zeitlich im Schnittpunkt seiner Vergangenheit und Zukunft, sondern auch räumlich anhand des Abstands vom Nullpunkt unserer Position; desgleichen sehen wir ihn im Lichte der Erwartung, daß er auf der von uns momentan abgewandten Seite ähnlich aussieht wie auf der uns zugewandten.

Es ist bemerkenswert, daß der sensorische Input unserer Wahrnehmung im Rahmen der räumlichen und zeitlichen Indikatoren, die wir vom Nullpunkt der Wahrnehmung aus anlegen, beständig fluktuiert und variiert, während wir an der Bestimmung dessen, was wir jeweils wahrnehmen, wie „Baum“, „Hund“ oder „Peter“ als konzeptuellen Konstanten festhalten.

Doch kann der Begriff Baum im Maße der Vertiefung und Differenzierung unserer Wahrnehmung erweitert werden; das zeigt sich in der Ausweitung und Verästelung der botanischen Klassifikation, wenn wir statt von Bäumen von Buchen, Ulmen, Birken, Tannen und Fichten sprechen.

Die Wahrnehmung eines Baumes wird vorzüglich vom Sehsinn bestimmt; doch im Frühling weht uns der Duft der Apfelblüten an, und im Herbst greifen wir nach den reifen Früchten, die uns munden. Wohlgeruch und Geschmack werden zu Komponenten dessen, was wir sehen, wenn wir einen Apfelbaum sehen.

Auf die uns in der aktuellen Wahrnehmung mitgegebenen virtuellen Wahrnehmungen achten wir nicht, sie sind uns meist kaum bewußt.

Aufgrund der Betrachtung seines Bildes erinnern wir uns an die letzte Blüte des Apfelbaumes, imaginieren wir ihren Wohlgeruch und den Geschmack seiner Frucht.

Indes, weder das Bild noch die Imagination des Apfelbaumes kann uns wie seine Wahrnehmung darüber belehren, daß im Sturm der letzten Nacht ein Zweig abgerissen ist.

Ich kann als Farbe für die Blätter eines gemalten oder imaginierten Baumes mal Blau, mal Silber wählen, bei jener für die Blätter des wahrgenommenen Baumes kann ich nicht wählen, sondern muß mit ihrem sommerlichen Grün oder herbstlichen Rot vorliebnehmen.

Dasjenige Moment, das unsere Erwartungen und Antizipationen bei der Wahrnehmung einschränkt, nennen wir das Reale im Gegensatz zum Imaginären, Fiktiven oder Halluzinierten.

Das Reale ist uns als Macht, die unsere Wahrnehmungs-, Erlebnis- und Handlungsmöglichkeiten einschränkt, kaum oder gar nicht bewußt.

Das Reale ist nicht limitiert auf das Physische, sondern umfaßt auch Strukturen wie geometrische und topologische Figuren oder abstrakte Mengen. Wie uns die Wahrnehmung eines Baumes eine bestimmte Farbpalette aufzwingt, so die Wahrnehmung der Ähnlichkeit einer Tasse mit einem Hut die Figur des Kreises.

Wir ordnen unser Wahrnehmungsfeld anhand der Einteilung des Wahrgenommenen in die Menge der Personen („jemand“) und die Menge der Nicht-Personen („etwas“).

Strukturen sind demnach eine Komponente unserer Wahrnehmung, nicht nur Konstrukte des Denkens. Husserl nannte die in der Wahrnehmung auftauchenden abstrakten Formen Noemata.

Die abstrakten Formen und Strukturen der Wahrnehmung übersehen wir meist, nur der geschulte Blick des Topologen sieht in einem Ring und dem Henkel einer Tasse dieselbe Figur, nur der Mathematiker im unregelmäßigen Verlauf des Strandes die Mandelbrot-Menge.

Die abstrakte Form des Baumes finden wir in den primitiven Zeichnungen von Kindern, die gleichsam nur die Skizze, den Plan oder Entwurf eines Baumes aufs Papier bringen; dieser Entwurf ist der Typus, der von den konkreten Details unserer Wahrnehmung eines realen Baumes zum Dies da (dem Token oder tode ti oder individuellen Sein des Aristoteles) aufgefüllt wird.

Unser Entwurf des Wahrnehmungsgegenstandes wird nicht durch einen Begriff angegeben, dessen Definition die notwendigen und hinreichenden Bedingungen seiner Anwendung enthielte; sein Entwurfscharakter tritt vielmehr anhand der Tatsache zutage, daß all unsere Begriffe durch ein letztlich nicht überschaubares, mannigfaltig verwobenes Begriffsnetz gleichsam intern reguliert werden. Jeder Begriff steht in einem funktionalen Zusammenhang mit mehr oder weniger verwandten oder einander ausschließenden Begriffen. So sind „Hase“ und „Ente“ verwandte Begriffe, wenn wir sie als Elemente der Menge der Tiere betrachten, einander ausschließende Begriffe, wenn wir den einen in die Menge der Säugetiere, den anderen in die Menge der Vögel einordnen.

Dagegen können wir naturgemäß die abstrakten Entitäten, die durch theoretische Begriffe vorausgesetzt und mittels ihrer Anwendung definiert werden, nicht wahrnehmen; dazu zählen Begriffe wie Atomkern, Elektron, Quarks, Schwarze Löcher, Gravitation oder DNA-Strang, Mitochondrien, Ganglien, Synapsen oder weiße Blutkörperchen und Viren.

Indes können wir manche Wahrnehmungsurteile als Testfälle von Modellen betrachten, die mittels theoretischer Begriffe ihren wissenschaftlichen Status behaupten; so erklären wir unsere Wahrnehmung der Bewegung der Sonne am Horizont als Scheinbewegung, deren Wahrnehmung sich uns aufgrund der Erdumdrehung aufdrängt, so erklären wir die Fiebersymptomatik als Wirkung einer viralen Infektion.

Die abstrakten Begriffe, die in unsere Wahrnehmungsurteile unmittelbar oder aufgrund intuitiver Anschauung eingehen, wie „Baum“, „Vogel“, „Person“, „kreisförmig, „dreieckig“, „rechtwinklig“ oder „spiegelverkehrt“ sind keine rein theoretischen Begriffe, sondern haben mit Husserl zu sprechen noematischen Charakter. Dies gilt wie gesagt auch für geometrische oder topologische Begriffe.

Wenn wir das Abbild einer Person für die Person nehmen, haben wir uns geirrt; wenn wir einen Wal als Fisch sehen, begehen wir einen Kategorienfehler, denn Wale sind Säugetiere. Dagegen könnten Roboter, auch wenn ihr Datensatz den Begriff „Person“ enthielte, ihn nicht adäquat verwenden, ihre Verwendung des Begriffs erwiese ihn als sinnlos.

Das mythopoetische Ingenium der Griechen sah in den Wetterphänomenen göttliche Zeichen, wir erklären sie mit physikalischen Gesetze. Hat dies ihre Wahrnehmung verändert?

Das Konkrete oder das Objekt der Wahrnehmung ist die Einheit aus Perzepten und Konzepten, dessen, was wir wahrnehmen und wahrnehmen könnten, und der Strukturen und Begriffe, die wir anwenden und im Prozeß der Vertiefung unserer Wahrnehmung verfeinern können.

Wir sehen diese Tanne dort, und wenn wir um sie herumschreiten, könnten wir ihre verdeckten Seiten in Augenschein nehmen; wir bestimmen ihre Farbe als Grün und wenden das Konzept des Farbbegriffs an; wir bestimmen ihre Gestalt als Dreieck und wenden einen geometrischen Begriff an.

Das Farbkonzept unserer Wahrnehmung ändert sich, wenn wir die grüne Farbe der Tanne nicht als Eigenschaft des Baumes, sondern als Eigenschaft unserer visuellen Wahrnehmung betrachten. Das geometrische Konzept unserer Wahrnehmung ändert sich, wenn wir das Dreieck statt als Figur einer euklidischen als Figur einer nichteuklidischen Ebene betrachten.

Ändert sich unsere Wahrnehmung, wenn auch unmerklich, wenn sich die in ihr involvierten Konzepte grundlegend ändern?

Die Philosophie der Wahrnehmung krankt meist daran, daß sie von Philosophen aus der Schreibtischperspektive vorgenommen worden ist; dadurch wurde ihr Gegenstand zu nahe an die Weisen der Beobachtung gerückt, die wie die Laboruntersuchung oder das Experiment der Stützung theoretischer Modelle dienen.

Ein gutes Remedium gegen solch eine Anämie und Sklerose lebendiger Begriffe ist die Rückbesinnung auf ihre normale und alltagssprachliche Verwendung. So sprechen wir vom prüfenden Blick des Mechanikers oder Kunsthandwerkes auf das in Arbeit befindliche Werkstück, vom spähenden, mißgünstigen, lauernden Blick des Diebes, des Verlierers, des Eifersüchtigen, sprechen davon, wie der Koch, der Winzer, der Bäcker eine Geschmacksprobe nimmt, der Jäger der Spur des Wilds folgt, der Komponist seinen Entwurf am Klavier prüfend nachhört und revidiert oder verfeinert, kurz: Wir stellen die Wahrnehmung in den Zusammenhang der Tätigkeiten, die sie allererst bedeutsam machen und ihnen einen Richtungssinn und Ausdruckswert verleihen.

Durch Hinzufügung adverbieller Bestimmungen wie aufmerksam, unachtsam, ängstlich, fachkundig, mißtrauisch, bedächtig oder wohlmeinend können wir den diffusen Begriff der Wahrnehmung biegsamer, farbiger, kontrastreicher und durchsichtiger machen.

Der Wahrnehmungszerfall bei gewissen Formen der Psychose gibt uns Hinweise auf den normalen Aufbau der Wahrnehmung, der uns wegen seiner Geläufigkeit und Selbstverständlichkeit zumeist entgeht. Der Kranke sieht beispielsweise eine Aura der Gefahr und Drohung an normalen Gebrauchsdingen wie einem Stuhl, einer Lampe, einem Buch; hier werden wir darauf aufmerksam, daß wir nicht nur physische Objekte wahrnehmen, sondern auch die mit ihnen verbundenen Bedeutungen als ihren Ausdruckswert oder ihre Physiognomie gewahren, wenn wir uns dessen auch kaum oder gar nicht bewußt sind.

Wir achten nicht auf das Augenscheinliche, ignorieren das Sinnfällige, übersehen, was vor aller Augen liegt.

Wir achten nicht auf das Spiel von Mienen und Gesten, das ein Gespräch nicht nur begleitet, sondern erhellt oder verdunkelt, eindeutig oder zweideutig macht. Wir ignorieren das Sinnfällige in der unterschiedlichen Körperhaltung und Distanznahme bei einer Begegnung, die durch ihren Zweck und das Ansehen der Beteiligten, das sie sich wechselseitig zusprechen, bedingt werden. Die grundlegenden Bewegungs- und Ausdrucksformen unseres Lebens, die sich als Funktionen unserer Selbstsorge verstehen lassen, sind uns zu sehr auf die Haut geschrieben, als daß wir sie wahrnähmen.

 

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