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Wer oder was?

10.03.2020

Zur Philosophie der Wahrnehmung III

Einen der grundlegenden Unterschiede, den wir an den Objekten der Sinneswahrnehmung anlegen, beantwortet die Frage „Wer oder was?“ mit Vertretern oder Exemplaren der grammatischen Kategorien JEMAND oder ETWAS.

Wir gehen davon aus, daß wir den ontologischen Unterschied zwischen Personen und Nicht-Personen SEHEN oder daß unsere Wahrnehmung „ontologisch“ nach solchen grammatischen Unterschieden strukturiert ist.

Was ungefähr so aussieht wie wir selbst und sich ebenso oder ähnlich benimmt, nennen wir jemand oder eine Person; der ganze Rest fällt unter die Kategorie etwas, ob es sich um ein Gebrauchsding oder eine natürliche Entität handelt.

Wir sehen dort jemanden kommen und beim Nähertreten, daß es unser Freund Peter ist. Wir sehen nicht, daß dort etwas ist, dem wir bei näherer Beobachtung die Eigenschaft, jemand oder eine Person zu sein, zusprechen.

Gewiß können wir im Zweifel sein, ob dort jemand oder etwas ist; aber diese Ungewißheit ist nicht ontologisch grundstürzend, sondern ähnelt jener, die uns bei ungünstigen Sichtverhältnissen darüber im Unklaren läßt, ob es sich um eine Ente oder eine Gans handelt.

Wenn wir jemanden oder eine Person sehen, hüllen wir sie gleichsam, ohne uns dessen bewußt zu sein, in eine Wolke von Erwartungen ein, beispielsweise, daß sie einen Namen hat, unsere Sprache oder eine Sprache spricht, die unserer auf eine Weise ähnelt, daß ihre Sätze ohne Sinnverlust in Sätze unserer Sprache übersetzbar sind, daß sie in etwa sieht, was wir sehen, rechter Hand sieht, was wir linker Hand sehen, ungefähr das fühlt, beabsichtigt, befürchtet, was wir fühlen, beabsichtigen, befürchten könnten.

„Person“ oder „jemand“ sind primitive Begriffe und Funktionen unserer kulturellen Grammatik, die ein Licht auf das werfen, was wir sehen und im Wahrnehmungsfeld erwarten können. So werden wir angesichts einer menschenähnlichen Gestalt, die auf Leute zukommt, doch dabei den intimen Abstand gewöhnlicher Nahkontakte extrem überschreitet, davon ausgehen, daß es sich um einen Verrückten handelt oder jemanden, dem wir den Personenstatus aufgrund eines geistigen Defekts absprechen.

Daß wir mit den Erwartungen und Antizipationen der Wahrnehmung, mit dem, was Edmund Husserl Intentionalität nennt, schief liegen können, mindert nicht, sondern bestätigt ihre Bedeutung; so kann unsere Erwartung, bei unserem Gegenüber handele es sich um eine Person, falsifiziert werden, und wir zur Einsicht kommen, daß es sich nicht um jemanden, sondern um etwas handelt.

Das Bild einer Person könnte in einigem Abstand ihre Anwesenheit vortäuschen, doch ein Bild von Peter ist nicht Peter, und ein Bild eines Baumes ist kein Baum. Der ikonische Peter wird auf Zuruf sich nicht nach uns umwenden, das Bild des Baumes verliert keine Blätter im Sturm.

Die Schauspieler auf der Bühne sind keine Personen strictu sensu, sondern verkörpern Rollen in einem Spiel, für das die impliziten Erwartungen unseres Wahrnehmungsfeldes auf Zeit aufgehoben sind; würde ein mit mir befreundeter Schauspieler auf meinen Zuruf während der Aufführung antworten, wäre das Spiel unterbrochen.

Das Spielfeld der künstlerischen Abbildung gehorcht einer anderen Grammatik als derjenigen, die sich in den intentionalen Implikationen unserer alltäglichen Wahrnehmung kundtut.

Wir können unser Wahrnehmungsfeld nicht zur Gänze ästhetisieren; freilich mögen wir eine Landschaft, einen Garten, ein Blumenarrangement nach ästhetischen Gesichtspunkten betrachten, doch verstoßen wir wider die Grammatik der Anwendung des Personenbegriffs, wenn wir beispielsweise die Äußerungen unseres Freundes nur nach ihrer poetischen Klangfülle bewerten, während er uns seine persönliche Notlage schildert.

Wir stoßen hier auf die eigentümliche Symmetrie (die naturgemäß eine mögliche Asymmetrie impliziert) der wechselseitigen oder spiegelbildlichen Erwartungen im Wahrnehmungs- und Erlebnisfeld des persönlichen Umgangs: Der Freund, der uns seine Notlage offenbart hat, erwartet von uns eine Geste oder Gabe der Hilfe. Erfüllen wir seine Bitte, pflegen wir wiederum von ihm eine Geste oder einen Ausdruck der Dankbarkeit zu erwarten.

Die gegenseitigen Erwartungen sind in diesem Falle eingebettet in den größeren Erwartungshorizont, den wir Freundschaft nennen. Im Lichte dieses Horizontes sehen wir in der Bitte des Freundes ein Zeichen freundschaftlichen Vertrauens, sieht der Freund in unserer Zuwendung ein Zeichen freundschaftlicher Treue.

Umgekehrt sehen wir unter dem konzeptuellen Erwartungshorizont der Freundschaft in der Tatsache, daß sich unser Freund mit seinem Anliegen nicht an uns, sondern einen anderen wendet, ein Zeichen des Mißtrauens, und der Freund in der von uns verweigerten Hilfeleistung ein Zeichen des Verrats.

Das Konzept der Freundschaft umfaßt demnach gleichsam auch seinen Schatten oder die Möglichkeit der Feindschaft.

Wenn wir in einer Person einen Freund sehen, sind damit gewisse normative Erwartungen und Ansprüche verbunden, die in Zeichen sowohl für freundschaftliche als auch feindselige Haltungen sichtbar werden.

Wir reden davon, daß jemand mit seinem Freund eine bittere Enttäuschung erlebt habe oder jemand aufgrund großer Enttäuschungen in der Liebe oder Freundschaft verbittert sei. Wir übertragen also elementare Geschmacksqualitäten wie süß, sauer oder bitter auf die Erfüllung oder Enttäuschung von Erwartungen und Ansprüchen im Rahmen und Erwartungshorizont abstrakter Konzepte wie Liebe und Freundschaft, und dies nicht von ungefähr.

Denn unsere Gefühlswerte sind die Projektion primitiver oder elementarer Empfindungsqualitäten auf die Ebene der Wahrnehmung und Kommunikation. So sprechen wir von harter Arbeit, einem leichten Spiel, einer windigen Angelegenheit, einer sauren Miene oder dem bitteren Nachgeschmack einer gescheiterten Liebesbegegnung.

Wir sehen und werden gesehen; aber wir sehen auch, daß wir gesehen werden, ja, wir sehen sogar, daß man sieht, daß wir sehen, daß wir gesehen werden. Diese Form der Iteration ist theoretisch unbegrenzt, aber praktisch begrenzt.

Wir verwirklichen unseren wohlbegründeten Anspruch, nicht gesehen zu werden oder nur von denen, denen wir vertrauen oder mit denen wir vertrauten Umgang pflegen, indem wir uns hinter die Mauern der Intimität zurückziehen, deren Schwellen zu übertreten wir Unbefugten verwehren und nur geladenen Gästen erlauben.

Gesehen zu werden – dies ist eigentlich die kürzeste Definition dessen, was wir soziales Leben nennen; denn der uns beobachtende Blick enthält nicht nur die Erwartungen und Ansprüche des jeweiligen Individuums, sondern bündelt diejenigen der Gemeinschaft.

Augenscheinlich und sinnfällig wird die Macht des Sozialen im Blick der anderen anhand der Grenzfälle des Perversen und des Paranoikers; bei dem einen ist der Sinn für die Wahrnehmung der kollektiven Macht des Blicks getrübt oder erloschen, bei dem anderen übermäßig verdichtet und bis in die Intimität der Wohnung allgegenwärtig.

Nacktheit oder das Entblößen der Geschlechtsteile ist in unserer Kultur ein Testfall für Intimität, und die Situation, in der wir nackt gesehen zu werden nicht scheuen, ist eigentlich die kürzeste Definition dessen, was wir Intimität nennen.

Augenscheinlich und sinnfällig wird dies in der Situation einer medizinischen Untersuchung: Der Blick des Arztes, der uns nackt sieht, macht uns im Normalfall nicht verlegen, weil ihm in einer Atmosphäre gleichsam anonymer Intimität die soziale Kontrollmacht des öffentlichen Blickes, die uns beschämen könnte, fehlt.

Wir sehen Leute auf der Straße gehen, keine Körper, die sich bewegen und denen wir, um ihre Bewegungen als Handlungen zu erklären, unterstellten, beseelt zu sein oder ein Bewußtsein zu haben.

Wir können sagen: Die Körper der Menschen, die wir sehen, sehen wir belebt und beseelt. So können wir ohne weiteres oder intuitiv und ohne induktive Schlußfolgerung sehen, daß und warum und auf welche Weise jemand lächelt.

Unsere Erwartungen und Einstellungen gegenüber einem lächelnden Gesicht sind andere als diejenigen angesichts eines wutverzerrten oder traurigen Gesichts. Unsere Erwartungen und Einstellungen gegenüber einem lächelnden Gesicht auf einem Plakat wiederum sind andere als angesichts des Lächelns des Freundes, dem wir ein Kompliment gemacht haben.

Nur angesichts der zeichenhaften Realität eines Bildes können wir sagen, daß wir etwas als etwas sehen, wie den Hasen oder die Ente in der bekannten Kipp-Figur.

Sehen wir einen Baum, interpretieren wir nicht die visuell gegebenen Daten als etwas, das wir Baum nennen, sondern sehen ohne weiteres oder intuitiv und ohne induktive Schlußfolgerung einen Baum.

Wir sehen einen Baum, haben wir doch schon viele Bäume gesehen; und das heißt: Wir hüllen das Gesehene gleichsam in eine Wolke von Erwartungen dessen und Annahmen darüber, was wir sehen könnten, beispielsweise, daß Blätter fallen, wenn ein Sturm durch die Zweige fegt, daß der Baum schon gestern an dieser Stelle gestanden haben muß und wenn er morgen nicht mehr dastünde, wir etwa Späne am Boden sehen könnten, weil er gefällt worden wäre.

Die zeitliche Strukturierung unserer Wahrnehmung zeigt sich darin, daß wir sie um mit Husserl zu sprechen beispielsweise durch Protentionen oder zeitliche Vorblenden und Retentionen oder zeitliche Rückblenden gliedern. Die Beschreibung dessen, was wir wahrnehmen, ist deshalb unvollständig, wenn sie nicht enthält, was wir wahrnehmen könnten, versetzten wir uns in die Vergangenheit oder die Zukunft.

Die Wahrnehmung von Personen ist großenteils sprachlich überformt, wenn wir sie im Lichte von sozialen und institutionellen Kontexten sehen, die beispielsweise durch das geltende Recht kodifiziert und sanktioniert sind, sodaß wir aufgrund der Wahrnehmung, wie einer einem in die Tasche langt, ihn einen Dieb zu nennen berechtigt sind. Hier müssen wir über den Begriff „Dieb“ und das Konzept des strafwürdigen Vergehens verfügen, um das Gesehene adäquat sehen zu können.

Ein Kaspar Hauser, der keine Sprache hat lernen können, sieht ohne weiteres den Baum, auch wenn er ihn nicht als Buche bezeichnen, ja nicht einmal Baum nennen könnte.

Dagegen wird er, was auf dem Hintergrund sprachlicher Konventionen an den Handlungen von Personen zeichenhaft sichtbar ist, nicht sehen können. Er sieht, wie einer einem in die Tasche langt, aber nicht, daß es sich um einen Dieb und einen Diebstahl handelt.

Meist gehen wir gleichsam traumwandlerisch in der Wahrnehmungsspur dessen, was wir in der Vergangenheit wahrgenommen haben; so legen wir unseren gewohnten Heimweg zurück und finden unsere Wohnung oder unser Haus, ohne auf die Straßenschilder oder Hausnummern zu achten. – Dagegen würde uns eine Art kafkasches Entsetzen befallen, öffneten wir wie gewohnt unsere Tür und fänden unsere Wohnung von Fremden bevölkert.

Was wir wahrnehmen, ist oft ein Echo unserer leiblichen Situation; und unser Leib ist gleichsam ein Speichermedium, das sich im Laufe der Zeit mit einer Fülle von Gesten, Haltungen, Gewohnheiten und Fertigkeiten vollgesogen hat. Wir gehen, ohne sonderlich darauf zu achten, wie genau wir die einzelnen Tritte setzen, wie die einzelnen Schritte vollziehen. Wir fliegen mit den Fingern über die Tastatur, ohne auf jede einzelne Fingerbewegung zu achten, wir singen eine Melodie, als flösse sie uns von selbst über die Lippen.

Doch wenn wir plötzlich erschrocken wahrnehmen, daß wir trotz panischer Anstrengung keinen Schritt vorwärtskommen, ist es offenkundig, daß wir träumen.

 

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