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Wirklich? Wirklich!

03.11.2015

Ein kleiner ontologischer Rundgang

Der Ausdruck „wirklich“ und seine Ableitung „Wirklichkeit“ dient uns oft, besonders als Interjektion, dazu, die Gültigkeit einer Äußerung zu unterstreichen und die Geltung einer Behauptung ins helle Licht zu rücken. Der Ausdruck steckt voller Irrlichter und Ambiguitäten und sollte philosophisch nach strengen diätetischen Vorschriften verkostet werden.

Insbesondere sollten wir den Ausdruck als Füllwort und metaphorischen Verstärker aus philosophischen Existenzaussagen streichen. „Bist du gestern wirklich im Park gewesen?“ meint nichts anderes und nicht mehr und nicht weniger als: „Bist du gestern im Park gewesen?“ In der Äußerung: „Du meintest mich gestern im Park gesehen zu haben, aber in Wirklichkeit war ich den ganzen Tag zu Hause“ finden wir eine verbale Verstärkung der Aussage: „Ich bin zu Hause gewesen“, die dem Wesen der Aussage nichts hinzufügt. Es handelt sich bei solchen sprachlichen Wendungen um dekorative Zusätze, die unsere Kommunikation erleichtern und für manchen Dialog unentbehrlich sind, aber die Klarheit des Denkens oft vernebeln.

Daß „wirklich“ nicht die Funktion hat, über Existenz auszusagen, merken wir an Dialogen wie: A: „Ich habe dich gestern im Traum gesehen.“ B: „Wirklich?“ A: „Wirklich!“ Wobei klar ist, daß mit dieser Akzentuierung die Irrealität des Traumbilds nicht in Frage gestellt wird.

Es ist bemerkenswert, daß wir mit den Begriffen der onta des Aristoteles und der res und entia der Scholastik einen Sachgehalt fassen, der uns philosophisch vertrauter anmutet als die schwankenden Bedeutungen von „wirklich“: Sie weisen auf das Objekt, das wir mit der Verwendung von Eigennamen und konkreten Beschreibungen meinen und dessen Existenz wir dabei in der Regel unterstellen, wenn wir uns nicht gerade über mythische und literarische Fiktionen unterhalten. So weisen die Namen „Sokrates“ und „Platon“ in der Aussage: „Sokrates war der Lehrer Platons“ auf die onta, res oder entia derjenigen Personen, die diese Namen trugen und dies nicht nur in den Texten, in denen sie uns überliefert sind. Es ist vielmehr die Gewißheit, daß die Träger der Namen eine „Wirklichkeit“ oder Existenz jenseits und außerhalb der ihre Namen bezeugenden Texte beanspruchten, der Grund für unsere Annahme, daß wir sie unter die onta, res und entia zählen.

Ein ontologisch fruchtbarer Begriff scheint eine Ableitung es Begriffs „Wirklichkeit“ zu sein, nämlich der Begriff der Wirkung. Er erlaubt uns einen ersten Hinweis auf die Art und Weise, wie wir den Unterschied zwischen der Realität, im Sinn der Existenz einer res, und der Fiktion, im Sinne der Irrealität einer Vorstellung oder repraesentatio und eines Bilds, angeben und bestimmen können. Eine Repräsentation hat ein intentionales Objekt, dem wir allererst Existenz zusprechen oder absprechen, wie wir der Vorstellung eines Pferdes Existenz zusprechen können, aber der Vorstellung von Pegasus Existenz absprechen müssen. Wir sprechen aber einem Pferd Existenz zu, weil seine res eine kausale Wirkung auf uns auszuüben vermag, so wenn wir einen Schlag mit dem Huf erleiden, während uns Bilder oder Geschichten von Pegasus wohl beeindrucken können, das mythische Flügelroß selbst aber keine kausale Wirkung auf uns auszuüben vermag, weil es nicht existiert.

Auch wenn Walter seinem Freund Manfred durch den Zuruf „Hallo!“ auffordert, stehenzubleiben und mit ihm zu plaudern, können wir eine Wirkung des Zurufs Walters auf seinen Freund ausmachen, der dem Sprechakt der Aufforderung nachkommt, wenn er sich zu seinem Freund umdreht und mit ihm zu plaudern beginnt. Es ist freilich seltsam zu beobachten, daß eine ähnliche Wirkung auf Manfred auch eine akustische Halluzination auszuüben vermag, ohne daß er sie allerdings als Sprechakt der Aufforderung wahrmachen kann, denn er dreht sich vergeblich nach seinem Freund Walter um. Wir müssen bei Sprechakten also der Genauigkeit halber von einer intentionalen Wirkung reden und sie von der rein kausalen und absichtslosen Wirkung physischer Objekte unterscheiden.

Im Falle der akustischen Halluzination können wir zwar von einer scheinbar kausalen Wirkung der gehörten Stimme auf Manfred sprechen, doch fehlt hier die intentionale Wirkung, die nur durch die Gegenwart seines Freundes Walter ausgelöst werden kann.

Die intentionale Wirkung des betrachteten Sprechaktes der Aufforderung ist aber von der kausalen Wirkung insofern verschieden, als sie – und das gilt für alle Sprechakte – nicht wie die physische Einwirkung den Angesprochenen unmittelbar nötigt oder zwingt: Manfred könnte auch, obwohl er den Zuruf seines Freundes wohl vernommen und verstanden hat, was er damit bewirken will, sich dieser Wirkung willentlich entziehen, weil er aufgrund der letzten Begegnung mit Walter noch arg verstimmt ist und seinen Groll ausleben möchte, indem er sich ihm gegenüber unwillig und indigniert zeigt. Walter war also wirklich zugegen, hat wirklich seinem Freund zugerufen, aber die mit seinem Sprechakt beabsichtigte Wirkung verfehlt, auch wenn sein Freund Manfred ohne seinen Zuruf nicht solchermaßen die Schultern eingezogen und finster murmelnd weitergestapft wäre.

Die Begriffe der kausalen Wirkung und der intentionalen Wirkung zur Kennzeichnung dessen, was wir res und entia oder Realität nennen, können wir nur anwenden, wenn zwischen dem Aussenden eines Signals wie des Zurufs Walters und seiner Aufnahme durch den Rezipienten wie durch das Gehör Manfreds Zeit vergeht. Wir sprechen von der Realität des Objekts, das wir mit dem Eigennamen Sonne benennen, deshalb, weil rund acht Minuten vergehen, bevor ein von der Sonne ausgesandter Lichtstrahl auf der ihn rezipierenden Netzhaut unseres Auges auftrifft.

Wenn Physiker weit voneinander entfernte Elektronen A und B mittels Laserstrahlung in einen verschränkten Quantenzustand versetzen, tritt der durch eine Messung bei Elektron A induzierte Quantenzustand unmittelbar auch bei Elektron B auf, ohne daß Zeit vergangen wäre. Wir können in diesem Falle also nicht mehr den Kausalitätsbegriff der klassischen Physik anwenden und davon ausgehen, daß Elektron A mit Lichtgeschwindigkeit ein Signal zu Elektron B ausgesandt hat, aufgrund dessen Elektron B seinen Quantenzustand in den Zustand von A gewechselt hätte. Auch wenn uns das Geschehen wie weiland Einstein noch so spukhaft anmuten mag, so stehen wir doch nicht an, der Gegenwart und dem Seinsmodus der Elektronen wie ihrem Spin Realität zuzusprechen.

Anders steht es um gewisse sogenannte akzidentielle Eigenschaften von Entitäten. Ob Walter seinem Freund mehr oder weniger laut, etwas höher oder etwas tiefer zugerufen hat, ist gegenüber der erzielten intentionalen Wirkung akzidentiell, während die genauere Wiedergabe der Tonstärke und der Klangfarbe bei der Interpretation einer Sonate von Chopin oder eines Streichquartetts von Beethoven wesentlich für die Qualität der Aufführung ist.

Wir können den Raum vollständig arithmetisieren und jeden Raumpunkt im kartesischen Koordinatensystem durch ein Zahlentripel, den Zahlenwerten auf der Abszisse, der Ordinate und der Applikate, repräsentieren. Verschiebungen eines Punktes entlang einer Geraden im Koordinatensystem können wir durch die linearen Gleichungen ax1 + by1 + cz1 = P1 und ax2 + by2 + cz2 = P2 berechnen. Wenn wir die Strecke zwischen den Punkten P1 und P2 als Ereignis der Verschiebung des Punktes P von der Ausgangssituation P1 in die Zielsituation P2 definieren, können wir auch den Begriff des Ereignisses auf den Begriff der Zahl oder die Menge der Zahlen reduzieren. Doch auf die abstrakte Entität der Zahl bleiben wir angewiesen und wenn wir ihre Definition mittels des Begriffs der Nullmenge und des Nachfolgers betrachten, bleiben wir zumindest auf die abstrakte Entität der Menge angewiesen.

Haben wir damit unseren kleinen ontologischen Rundgang abgeschlossen? Augenscheinlich klafft eine Lücke. Denn wieder einmal haben wir wie der Beobachter, der die Anzahl der Personen im Raum zählt und dabei sich selbst mitzuzählen vergißt, gleichsam den Nullpunkt des ontologischen Koordinatensystems vergessen: uns selbst als Realität sich ihrer Gegenwart und ihrer Gedanken und Absichten und sonstiger mentaler Zustände bewußter Personen, die intentional handeln, wenn sie denken und sprechen oder sich Gedanken über das machen, was wirklich oder nicht wirklich, real oder irreal ist.

Wir heben hier nur zwei Momente heraus, die den Begriff von einer Person wesentlich bestimmen: Identität und Individualität. Eine Person ist kein Bündel und keine Menge von Eigenschaften, denn wenn du mir vor einem Jahr versprochen hast, mir morgen das geliehene Geld zurückzuerstatten, und wenn du es mir morgen zurückerstattest, bist du als Bündel physisch-psychischer Eigenschaften nicht mehr derjenige, der du vor einem Jahr gewesen bist, aber die Person, die mir vor einem Jahr etwas versprochen hat, ist dieselbe Person, wenn sie mir morgen das Versprochene aushändigt, nämlich du.

Personen können interagieren und miteinander kommunizieren, ohne ihre Individualität im Sinne der Einheit des Personenbewußtseins einzubüßen, während physische Dinge aufgrund gegenseitiger Einwirkungen ihre Individualität verändern. Wir mögen noch so viele starke Eindrücke aufgrund von Begegnungen von einer Reise mit nach Hause nehmen, unsere neuen Erfahrungen werden von demselben personalen Bewußtsein durchdrungen, das schon die Reise geplant hat, während unser Strohhut durch mißliche Einwirkungen von Wind und Wetter seine individuelle Substanz so ziemlich eingebüßt hat.

Personen handeln intentional als so bestimmte Individualitäten und Identitäten, wenn sie ihre Absichten durch Sprechakte oder Interaktionen verwirklichen, wobei ihre Willensimpulse kausal auf die Nervenbahnen ihres motorischen Systems einwirken. Personen handeln intentional, wenn sie auf die intentionalen Objekte ihrer selbst entworfenen Repräsentationen wie der Sprache oder physikalischer Theorien referieren und die Realität des von ihnen Repräsentierten untersuchen. Personen handeln intentional, wenn sie mittels Sprechakten interagieren und kommunizieren, wobei sie intentionale Wirkungen aufeinander ausüben, die anders als kausale Wirkungen physischer Entitäten und Prozesse in einen Spielraum des spontanen Handelns hineinwirken, wobei die Handelnden keinem unmittelbaren Zwang ausgesetzt, sondern angemutet oder motiviert werden.

Am Ende unseres ontologischen Rundganges treffen wir auf uns selbst als die Realitäten, ohne die vom Rest keine Rede sein kann.

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