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Wittgensteins Sinnbilder I – die Mondnacht

27.03.2019

Wir wollen Sprach- und Denkbilder Wittgensteins betrachten, um das Weltbild des Philosophen daraus wie ein zerfallenes Mosaik Stück für Stück zusammenzusetzen, wenn wir auch nicht wissen, ob die Teile dazu ausreichen, ein überschaubares und stimmiges Gesamtbild herzustellen.

Der amerikanische Philosoph holländischer Abstammung Oets K. Bouwsma fand während Wittgensteins Aufenthalt in Amerika im Jahre 1949 nahen Gesprächskontakt zu dem schon schwer erkrankten Ludwig. Eines Abends fuhren sie ins Freie und besichtigten eine weitgespannte stählerne Hängebrücke in der Umgebung von New York. Die Ritzen zwischen den Platten des Fußgängerwegs, berichtet der Gastgeber in seinen Aufzeichnungen, machten Wittgenstein Angst. Als die Nacht schon hereingebrochen war, erklommen die beiden einen Hügel, die Nacht war klar, der Mond schien voll. Da sagte Wittgenstein:

If I had planned it, I should never have made the sun at all. See! How beautiful! The sun is too bright and too hot!

Hätte ich es ersonnen, keinesfalls hätte ich die Sonne geschaffen. Sieh! Wie schön! Die Sonne ist zu hell und zu heiß!

Etwas später sagte er:

And if there were only the moon there would be no reading and writing.

Und gäbe es da nur den Mond, keiner läse, keiner schriebe.

Quelle: O. K. Bouwsma, Wittgenstein, Conversations 1949–1951, Indianapolis, Indiana 1986, S. 12

 

Das Bild der klaren Mondnacht, Urbild deutscher Romantik, wandelt sich unter den Augen des Philosophen zu einem Denkbild, indem er es als Modell einer möglichen Welt verwendet, das die Sonnen- und Tagseite unseres irdischen Daseins vollkommen ausblendet: Diese Welt der Nacht, vom unfruchtbaren Licht des Mondes schwach erhellt, findet aus seinem Mund die Auszeichnung wahrer Schönheit.

Freilich, hier schwärmt kein Endymion von den Strahlen der Luna; nur ein verhaltener Ausruf des Entzückens ertönt wie ein Echo aus der Höhle seines ewigen Schlafs.

Die Mondnacht der Romantik finden wir hier nicht, denn unter diesem fahlen Licht erblüht nichts. Vielleicht glimmt jener Kristall im Zwielicht auf, Bild des strengen, dichten, klaren Gedankens.

Das Licht des Mondes ist kalt und schwach wie ein Grablicht im Dunkel. Es verbreitet eine heimliche und eine unheimliche Stille. Es scheint sanft für den Schlaf oder erhellt ein weiches, geduldiges Gras vor dem einsamen Gang eines Menschen, der nicht schlafen kann und es reglos anstarrt oder gedankenverloren unter ihm wandelt.

In der sublunaren Welt ohne Sonne könnte pflanzliches und tierisches Leben sich nicht in der Fülle, Üppigkeit, Exuberanz entfalten und wuchern, wie wir es kennen. Eine solche magere, gleichsam fleischlose Welt atmete oder seufzte im Unscheinbaren vor sich hin, ohne die Hitze, die Tollwut, den Lärm von Durst und Brunst, Hunger und Schlachtfest, Eros und Krieg.

Freilich, diese stille Wüste, diese Wüste der Stille wäre eine Welt, eine Gegenwelt zu der unseren, und nicht nichts, nicht gänzlich jenes Nirwana, das Schopenhauer ersehnte.

Indes, keiner Sonne Licht öffnete einer solchen Ödnis die Knospe der Fruchtbarkeit und des Gedankens, der Baum mit der fatalen Frucht würfe keinen Schatten über Edens Garten, würde nicht aufgepflanzt auf Golgathas Schädelstätte.

Welt ohne Sprache. Welt ohne Sprachspiele. Welt ohne Buch.

Wunschbild eines Denkers, dessen Ziel es war, im Denken jederzeit innehalten zu können, um Atem zu schöpfen, still zu ein, an nichts zu denken; der an die Mauer der Sprache eine Leiter anlegte, nicht um darüberzusteigen, sondern einen Blick in eben solch ein unsagbar stummes, einsames Gefilde zu werfen, in dem kein Geschwafel der Dummheit, kein Schrei des Entzückens, kein Jubelruf und kein Klagelaut das empfindsame Ohr des Unglücklichen beleidigt.

Als Wittgenstein 1913 von Cambridge erneut sich in die düstere Stille eines norwegischen Fjords zurückziehen wollte, um ein für allemal die Probleme der Logik zu lösen, warnte ihn Bertrand Russell, dort sei es dunkel, und er antwortete: „Ich hasse das Tageslicht!“; dort sei er einsam, und er sagte: „Ich prostituiere meinen Geist bloß beim Geschwätz mit Intellektuellen“; und auf Russels unwirsche Bemerkung, in solch einer Einsiedelei könne man leicht verrückt werden, antwortete: „Gott bewahre mich vor dem Verstand!“

Welt ohne Buch, wo auch die Werke Wittgensteins nicht gelesen würden. Ihm, dem es genügte, wenn nur ein einziger Mensch seinen Traktat mit Verständnis und Vergnügen zu lesen imstande sein sollte, war freilich die um sich greifende Wirkung seiner Worte mehr als bedenklich. Er vermochte nicht abzusehen, wie ihre Wolke auf der trockenen Zunge seiner Schüler zu einem klaren Tropfen einer nüchternen Lehre kondensieren und den Durst auf den berauschenden Wein des Jargons verdrängen könnte.

Es mutet seltsam an und streift ans Paradoxe zu gewahren, wie jener Wittgenstein, dem Welt und Ich in das Bett der Sprache wie der Blick ins Gesichtsfeld eingesenkt schienen, hier an etwas Unsagbares und Unsichtbares rührt.

Das Bild von diesem anderen, menschenleeren Luna-Park, trostloses Paradies ohne Hoffnung auf den Sonnenaufgang über einem zur Vernunft erwachten Menschengeschlecht, ist ein Umkehrbild der mosaischen Schöpfung und ein Vexierbild der modernen Zivilisation, der technischen Ekstase mittels der Droge solarer Energien.

Nur einer, der von sich bekannte, er habe ein Stern werden wollen, sei aber auf der Erde steckengeblieben und müsse nun langsam verlöschen, konnte dies sehen und sagen.

Das leuchtende Antlitz des Herrn hat sich abgewandt, die Sonne der irdischen Schöpfung scheint gänzlich verdunkelt vom Rauch des Feuers, das sie als organisches Leben entfacht hat.

Wir artikulieren den Möglichkeitssinn, wenn wir mithilfe des irrealen Konditionalsatzes ein alternatives Weltmodell entwerfen („Hätte ich es ersonnen ….).

Wenn wir uns die Erde mitsamt ihrem Trabanten ohne das Zentralgestirn der Sonne denken, müssen wir eine alternative Struktur der Raum-Zeit annehmen, also ein anderes Universum als das, was wir kennen.

So verpulvert uns Wittgenstein die Sonne und sprengt das ganze Planetensystem auseinander, um den Abscheu vor dem Schmutz und Lärm und Irrsinn, den das menschliche Tier hervorruft, zum Ausdruck zu bringen.

 

 

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